In
Salomon An-Skis (1863-1920) für das jiddische Theater wie für den
jiddischen Film gleichermaßen stilbildendem, dem literarischen
Expressionismus nahestehenden Theaterstück „Zwischen zwei Welten –
Der Dybbuk“ wird die Seele der lieblos einem älteren Mann
versprochenen Leah unmittelbar nach dem tragischen Tod ihres wahren
Geliebten, des jungen Gelehrten und begnadeten Kabbalisten Chanan,
von einem Dybbuk, einem bösartigen Dämon, in Besitz genommen, den
jener möglicherweise selbst in seinem verzweifelten Versuch, die
Heirat mit Hilfe von Magie zu verhindern, heraufbeschworen hat. Im
Verlauf der von einem chassidischen Wunderrabbi begonnenen und später
zunächst erfolglos vor einem Rabbinatsgericht weitergeführten
Versuch eines Exorzismus wird allgemein offenbar, dass die Väter der
beiden unglücklichen Liebenden einst ihre beiden Kinder einander in
einer heiligen Übereinkunft fest versprochen hatten, Leahs Vater
Sender jedoch hatte diesen Schwur dann in Aussicht einer reichen
Mitgift für seine Tochter gebrochen.
Im
Rahmen des folgenden langwierigen Rituals, das Sender schwer belastet
und zu lebenslangen materiellen und spirituellen Entschädigungen
auffordert, wird mit Hilfe eines Kreidestrichs ein Schutzkreis um
Leah gezogen, während der chassidische Gelehrte mit Gebeten und
kabbalistischen Beschwörungen sowie diversen Kultgegenständen den
Dybbuk weiter auszutreiben versucht. Als der Dämon Leahs Körper
nach langem Ringen endlich verlassen hat, bricht die Gemeinde
geschlossen auf, um die ausgesetzte Hochzeit vorzubereiten, die junge
Frau jedoch wird allein im Kreidekreis zurückgelassen, unter
strengsten Ermahnungen, diesen bis zur Vermählung auf keinen Fall zu
verlassen. Doch die mystische Verbindung zwischen ihr und ihrem
wahren Geliebten, derer sie sich immer bewusst geblieben ist, ist so
stark und die Grenze des spirituellen Schutzes beiderseits so
durchlässig, dass Leah den Kreidekreis schließlich willentlich
verlässt und im Tod mit Chanan vereint wird.
Wer heute gemeinsam mit erstaunlichen 81 Prozent der Deutschen, wie es eine aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung nahelegt, allen Ernstes mit der Schoah abschließen will, muss sich bewusst sein, dass ein solcher gedanklicher Schlussstrich letztlich ähnlich wirkungslos bleiben muss, wie der Kreidestrich in An-Skis Drama. Denn angesichts der Dimensionen der Verbrechen, über die wir hier reden – und dringend auch im Gespräch bleiben müssen, kann jede künstlich gezogene gedankliche Grenze nur vollkommen unangemessen bleiben, weil sie der Sache in keiner Weise und in keiner Richtung gerecht zu werden vermag und deshalb naturgemäß in jedem Fall durchlässig bleiben muss, wofür schon allein der vollkommen im Bereich des Unbewussten angesiedelte Wunsch nach einem Schlussstrich als erster unwiderlegbarer Beweis gelten kann, denn was einen nicht unablässig bedrängt, muss man auch nicht von sich schieben – man würde es gar nicht bemerken.
Das Werk der in New York lebenden australischen Schriftstellerin, Lyrikerin und Essayistin Lily Brett, geboren 1946 in einem Flüchtlingscamp in Feldafing am Starnberger See, wäre ohne die umfassende emotionale Erschütterung, der sie auch als Tochter von Holocaust-Überlebenden lebenslang unweigerlich aufs Schmerzvollste ausgesetzt bleiben muss, überhaupt nicht ansatzweise denkbar. So hat sie in allen ihren bisherigen Romanen sowie Essay- und Lyrikbänden vor allem eine schonungslose Aufarbeitung des gemeinsamen Traumas ihrer Eltern und ihrer selbst als deren Tochter betrieben, mitunter sogar auf überraschend schwerelose, geradezu burleske Art und Weise wie in ihrem möglicherweise besten, unterhaltsamsten und eindrücklichsten Roman „Chuzpe“ aus dem Jahr 2006, der 2012 in einer Theateradaption mit Otto Schenk sogar in den Wiener Kammerspielen Premiere feiern durfte.
Eine unverkennbare Sonderstellung in ihrem Werk nehmen jedoch zweifellos ihre eindringlichen Gedichte ein, die, wenn auch dem breiten Publikum bislang weniger bekannt, noch direkter, konzentrierter und in vielerlei Hinsicht auch persönlicher und emotionaler die zahlreichen Bruchstellen in der Biografie einer gewissermaßen typischen Vertreterin der Zweiten Generation zu benennen versuchen, durch die die kaum fassbare, gewaltige Monstrosität der Schoah in zahlreichen, zum Teil unscheinbaren Details unentrinnbar in ihr eigenes Leben eindringt. Sich diesen ungeheuerlichen sichtbaren wie unsichtbaren Durchlässigkeiten in einem lebenslangen persönlichen und literarischen Ringen in äußerster Konsequenz voll und ganz zu stellen, darin besteht der unschätzbare Verdienst der Lyrikerin Lily Brett, die erst relativ spät, im Alter von vierzig Jahren mit ihrem Band „The Auschwitz Poems“ (1988) debütierte.
Im Insel-Verlag ist nun erstmals eine repräsentative Auswahl eigener Hand aus Lily Bretts eindrucksvollem, auf mittlerweile sieben Bände angewachsenen lyrischen Werk erschienen, in dem die Autorin mit zarter Empathie, wacher Beobachtungsgabe und untrüglichem Gespür für die zahlreichen Brüche im Leben der Opfer eindrucksvoll aufzeigt, dass jede künstlich gesetzte gedankliche Grenze hier in jedem Fall scheitern muss und stattdessen nur die schmerzhafte Anerkennung des Unvorstellbaren durch den ungebrochenen, immer wieder erneuerten Versuch, angemessene Worte für das Unaussprechliche zu finden, dieses wenigstens ansatzweise zu lindern vermag.
Ich vergesse
dauernd
die Fakten und
Statistiken
und jedes Mal
wenn ich sie
wissen muss
schaue ich in
Büchern nach
diese Bücher
nehmen
zwölf Regale
in meinem Zimmer
ein
Wer heute gemeinsam mit erstaunlichen 81 Prozent der Deutschen, wie es eine aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung nahelegt, allen Ernstes mit der Schoah abschließen will, muss sich bewusst sein, dass ein solcher gedanklicher Schlussstrich letztlich ähnlich wirkungslos bleiben muss, wie der Kreidestrich in An-Skis Drama. Denn angesichts der Dimensionen der Verbrechen, über die wir hier reden – und dringend auch im Gespräch bleiben müssen, kann jede künstlich gezogene gedankliche Grenze nur vollkommen unangemessen bleiben, weil sie der Sache in keiner Weise und in keiner Richtung gerecht zu werden vermag und deshalb naturgemäß in jedem Fall durchlässig bleiben muss, wofür schon allein der vollkommen im Bereich des Unbewussten angesiedelte Wunsch nach einem Schlussstrich als erster unwiderlegbarer Beweis gelten kann, denn was einen nicht unablässig bedrängt, muss man auch nicht von sich schieben – man würde es gar nicht bemerken.
Ich kenne ihn
als das
Panik-Phantom
kalte Luft wallt
aus den Falten
seines langen schwarzen Mantels
er schüttelt
seine knochigen Finger
und spricht in gebrochenem Bariton
möchtest du
mal erleben
was wirkliche
Probleme sind
Das Werk der in New York lebenden australischen Schriftstellerin, Lyrikerin und Essayistin Lily Brett, geboren 1946 in einem Flüchtlingscamp in Feldafing am Starnberger See, wäre ohne die umfassende emotionale Erschütterung, der sie auch als Tochter von Holocaust-Überlebenden lebenslang unweigerlich aufs Schmerzvollste ausgesetzt bleiben muss, überhaupt nicht ansatzweise denkbar. So hat sie in allen ihren bisherigen Romanen sowie Essay- und Lyrikbänden vor allem eine schonungslose Aufarbeitung des gemeinsamen Traumas ihrer Eltern und ihrer selbst als deren Tochter betrieben, mitunter sogar auf überraschend schwerelose, geradezu burleske Art und Weise wie in ihrem möglicherweise besten, unterhaltsamsten und eindrücklichsten Roman „Chuzpe“ aus dem Jahr 2006, der 2012 in einer Theateradaption mit Otto Schenk sogar in den Wiener Kammerspielen Premiere feiern durfte.
Mutter, ich wusste nie
wo du endetest
vierzig Jahre lang
trug ich uns ineinandergeblendet
ich lief durch Melbourne
als wäre es
Warschau
Eine unverkennbare Sonderstellung in ihrem Werk nehmen jedoch zweifellos ihre eindringlichen Gedichte ein, die, wenn auch dem breiten Publikum bislang weniger bekannt, noch direkter, konzentrierter und in vielerlei Hinsicht auch persönlicher und emotionaler die zahlreichen Bruchstellen in der Biografie einer gewissermaßen typischen Vertreterin der Zweiten Generation zu benennen versuchen, durch die die kaum fassbare, gewaltige Monstrosität der Schoah in zahlreichen, zum Teil unscheinbaren Details unentrinnbar in ihr eigenes Leben eindringt. Sich diesen ungeheuerlichen sichtbaren wie unsichtbaren Durchlässigkeiten in einem lebenslangen persönlichen und literarischen Ringen in äußerster Konsequenz voll und ganz zu stellen, darin besteht der unschätzbare Verdienst der Lyrikerin Lily Brett, die erst relativ spät, im Alter von vierzig Jahren mit ihrem Band „The Auschwitz Poems“ (1988) debütierte.
Deine Augen
sind wieder
aufgeleuchtet
in einem kleinen
Mädchen
geboren
zweiundzwanzig Jahre
nach deinem Tod
deine Augen kamen
an
in diesem Kind
meines Kindes
mit einer
Klarheit
und einer
Sicherheit
die Angst
war
herausgetrennt worden
Im Insel-Verlag ist nun erstmals eine repräsentative Auswahl eigener Hand aus Lily Bretts eindrucksvollem, auf mittlerweile sieben Bände angewachsenen lyrischen Werk erschienen, in dem die Autorin mit zarter Empathie, wacher Beobachtungsgabe und untrüglichem Gespür für die zahlreichen Brüche im Leben der Opfer eindrucksvoll aufzeigt, dass jede künstlich gesetzte gedankliche Grenze hier in jedem Fall scheitern muss und stattdessen nur die schmerzhafte Anerkennung des Unvorstellbaren durch den ungebrochenen, immer wieder erneuerten Versuch, angemessene Worte für das Unaussprechliche zu finden, dieses wenigstens ansatzweise zu lindern vermag.
Lily Brett/Foto: Bettina Strauss |
Dabei gibt Lily
Brett in ihrem lesenswerten Vorwort unumwunden zu, dass ihr die
Auswahl in dieser Zusammenstellung einen so schmerzvollen Blick auf
sich selbst ermöglicht habe, dass sie zeitweise eine deutliche
thematische Änderung erwogen habe:
Ich wollte wegkommen vom Lärm der Alpträume und der allgegenwärtigen Angst um mich herum. […] Ich wollte es mir anders überlegen und lieber ein Buch mit skurrileren Gedichten machen. Mit Gedichten ohne Traurigkeit an den Rändern jeder Zeile. Ich habe mich zurückgehalten und nichts geändert. [...] Und, ich habe erfahren, dass es mitunter gar nicht so schlimm ist, wenn einen etwas aus dem Gleichgewicht bringt. […] Die Vergangenheit, die Vergangenheit meiner Eltern und meine eigene, waren Teil meiner Gegenwart seit ich denken kann. Die Vergangenheit meiner Eltern schwebte darüber wie eine tiefhängende Wolke aus Angst und Leid. Sie hat nicht alles andere ausgelöscht, aber es wäre leicht möglich gewesen.
Wer aber so unbeirrt seinen persönlichen poetischen Weg weiterverfolgt wie Lily Brett und dabei dem allgegenwärtigen Schmerz ebenso wenig ausweicht wie aufkeimendem Zorn, trotz allem aber auch den dahinter verborgenen Zauber der Menschlichkeit zu sehen vermag, muss eine solche Auslöschung des Eigenen und Gegenwärtigen nicht ernsthaft befürchten. Lily Bretts Gedichte werden so zu einem bestechenden literarischen Dokument des bemerkenswerten menschlichen Vermögens, sein individuelles Schicksal als persönliche Herausforderung anzunehmen und mit Hilfe seiner ureigenen Talente und Fähigkeiten aufmerksam zu seinen eigenen Gunsten umzukehren und zu verwandeln. Sie sind somit nicht nur Ausdruck eines lebenslang von Wörtern und Worten positiv besessenen Menschen, der schon in seiner Kindheit lieber als Musik dem Klang gesprochener Sprache lauschte, sondern auch das geeignete Medium zu Welterfahrung, Selbsterkenntnis und persönlichem Gleichgewicht: die Gedichte einer Frau, die entgegen aller Hemmnisse in sich selbst ruht, weil sie die Bedrängnisse ihres Lebens integriert hat.
„Wenn wir bleiben könnten“, zweisprachige Ausgabe, aus dem Englischen von Jutta Kaußen, erschienen bei Insel, 152 Seiten, € 19,95
Ich wollte wegkommen vom Lärm der Alpträume und der allgegenwärtigen Angst um mich herum. […] Ich wollte es mir anders überlegen und lieber ein Buch mit skurrileren Gedichten machen. Mit Gedichten ohne Traurigkeit an den Rändern jeder Zeile. Ich habe mich zurückgehalten und nichts geändert. [...] Und, ich habe erfahren, dass es mitunter gar nicht so schlimm ist, wenn einen etwas aus dem Gleichgewicht bringt. […] Die Vergangenheit, die Vergangenheit meiner Eltern und meine eigene, waren Teil meiner Gegenwart seit ich denken kann. Die Vergangenheit meiner Eltern schwebte darüber wie eine tiefhängende Wolke aus Angst und Leid. Sie hat nicht alles andere ausgelöscht, aber es wäre leicht möglich gewesen.
Wer aber so unbeirrt seinen persönlichen poetischen Weg weiterverfolgt wie Lily Brett und dabei dem allgegenwärtigen Schmerz ebenso wenig ausweicht wie aufkeimendem Zorn, trotz allem aber auch den dahinter verborgenen Zauber der Menschlichkeit zu sehen vermag, muss eine solche Auslöschung des Eigenen und Gegenwärtigen nicht ernsthaft befürchten. Lily Bretts Gedichte werden so zu einem bestechenden literarischen Dokument des bemerkenswerten menschlichen Vermögens, sein individuelles Schicksal als persönliche Herausforderung anzunehmen und mit Hilfe seiner ureigenen Talente und Fähigkeiten aufmerksam zu seinen eigenen Gunsten umzukehren und zu verwandeln. Sie sind somit nicht nur Ausdruck eines lebenslang von Wörtern und Worten positiv besessenen Menschen, der schon in seiner Kindheit lieber als Musik dem Klang gesprochener Sprache lauschte, sondern auch das geeignete Medium zu Welterfahrung, Selbsterkenntnis und persönlichem Gleichgewicht: die Gedichte einer Frau, die entgegen aller Hemmnisse in sich selbst ruht, weil sie die Bedrängnisse ihres Lebens integriert hat.
„Wenn wir bleiben könnten“, zweisprachige Ausgabe, aus dem Englischen von Jutta Kaußen, erschienen bei Insel, 152 Seiten, € 19,95
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