Am
Ende eines ebenso beispiellosen wie blutigen Rachefeldzugs gegen
Korruption und die totalitären Strukturen des pseudodemokratischen
Mubarak-Regimes, der jedem Italo-Western zur Ehre gereichen würde,
steht Taha, der einsame Held des Buches, schließlich
gedankenverloren an der gemauerten Brüstung einer alten Brücke über
den Nil, in dessen schlammigen Fluten er jenes kleine Fläschchen zu
versenken trachtet, mit dessen unscheinbarem Inhalt er und sein Vater
im Verlauf von über fünfzig Jahren so viele skrupellose
Protagonisten des verhassten Systems auf denkbar grausame,
schmerzhafte und qualvolle Art und Weise im Namen der machtlosen
Mehrheit der ägyptischen Bevölkerung in verzweifelter Selbstjustiz
hingerichtet haben.
Da
muss er ohnmächtig mit ansehen, wie ein armer Fischer, der soeben
sein elendes, vielfach geflicktes Netz ausgeworfen hat, um einen
vermutlich kümmerlichen Fang an Land zu ziehen, von der Luxusyacht
eines wohlbekannten Lokalpolitikers mitsamt seinem kleinen Ruderboot
einfach rücksichtslos über den Haufen gefahren wird, während an
Bord eine ignorant-lärmende Partygesellschaft weiter schamlos sich
selbst und ihren unantastbaren sozialen Status feiert. Zwar steigt
der Fischer wenig später unerwarteterweise und unter dem spontanen
Applaus einiger Passanten wohlbehalten wieder aus den schmutzigen
Fluten, doch das Fläschchen mit dem hochwirksamen Gift landet nach
diesem aufschlussreichen Erlebnis – und man meint dabei, vor seinem
inneren Ohr die in Bitternis triumphierende Trompete aus Ennio
Morricones Western-Soundtrack zu hören – unangetastet wieder in
Tahas Hosentasche, um vermutlich schon bald einer weiteren
mörderischen Verwendung zugeführt zu werden.
Schweigen
ist keine Lösung mehr. Darauf zu warten, dass jemand vor dem Haus
aufräumt, ist sinnlos. Nichts kratzt dir besser den Rücken als dein
eigener Fingernagel, sagt man. Lauter verrottete Persönlichkeiten
und tote Seelen. Ich sehe schon die Staubkörnchen in ihren Mündern,
wenn ich mich von diesem Auswurf befreie. Der Staub meiner rechten
Hand. Der ist mein Gesetz, begleitet von einer Warnung und einem
Traum, der die Finsternis in den Seelen aufrührt. Er gibt ihnen
Gelegenheit zur Reue, um damit ihre Schuld vor dem Weisen und
Gerechten abzutragen.
Der
talentierte junge ägyptische Schriftsteller Ahmed Mourad, der sein
literarisches Handwerk an der renommierten Filmhochschule von Kairo
erlernte und dessen erster Roma „Vertigo“, unter großem Erfolg
auch als Mehrteiler fürs ägyptische Fernsehen verfilmt wurde, hat
mit „Diamantenstaub“ nun einen weiteren fulminanten
gesellschaftskritischen Thriller geschrieben, mit dem er sich vor
seinen weltweit erfolgreichen schwedischen Berufskollegen Henning
Mankell und Stig Larsson sowie ambitionierten skandinavischen
Fernsehserien wie „Sarah Lund“ oder „Die Brücke“ keinesfalls
zu verstecken braucht.
„Siehe,
die schlimmsten Tiere für Gott sind jene, die taub und stumm sind
und die nicht begreifen“
Das
schlimmste Verbrechen in den letzten drei Jahrzehnten war, den
Menschen ihren Verstand zu rauben, ihr Denken auszulöschen und ihre
religiösen Überzeugungen zu politisieren. Irgendwann wird die
Geschichte dafür sorgen, dass man denen, die dieses Verbrechen
begangen haben, den Prozess macht.
Sein
ebenso spannender wie intelligenter Krimi, der wie kaum ein Werk
eines anderen Genres den Ton der westlichen Gesellschaft kongenial
trifft und uns auf diese Weise besser als manches Sachbuch die
vielschichtigen Problemstellungen und schmerzhaften
Veränderungsprozesse Ägyptens im Zwanzigsten Jahrhundert zu
vermitteln vermag, führt uns zunächst zurück in die frühen 1950er
Jahre, in der die politischen Grundvoraussetzungen nach der
Unabhängigkeit von Großbritannien noch derart offen waren, dass
eine weniger totalitäre, positivere Entwicklung des Landes durchaus
im Rahmen der Möglichkeiten gelegen hätte: das Buch ist „dem Mann
der letzten Gelegenheit“ gewidmet, so Ahmed Mourad, dem
Armeeoffizier und ersten Präsidenten der Republik Ägypten, Muhammad
Nagîb, der 1954 von
seinem früheren Mitstreiter und langjährigen Nachfolger Gâmal
Abdel Nasser gewaltsam aus der Regierung gezwungen und unter
bewachten Hausarrest gestellt wurde, nachdem er kurz zuvor die von
ihm angestrebte Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie verkündet
hatte.
Die
Revolution hat tausend Paschas beseitigt und Millionen neue an ihre
Stelle gesetzt. Die und ihre Kinder machen uns jetzt das Leben
schwer. Um sie scharen sich noch jede Menge Lügner. Und die, die
Geld haben, sind ihre Hühner – Hühner, die goldene Eier legen.
Die protegieren sie und bereiten ihnen das Nest, um ihnen das
Eierlegen leichter zu machen. Du siehst doch, wie sie ohne mit der
Wimper zu zucken, miteinander mauscheln. Und einer wie Bergas, der
seit den Achtzigern seine Hände noch in jeder schmutzigen Sache
hatte – schau dir mal an, wie weit der damit gekommen ist! Ich
ziehe den Hut vor jedem, der es schafft, ihn aufzuhalten.
Am
Vorabend seiner Demission herrscht im Jüdischen Viertel von Kairo
noch eine lebendige Atmosphäre der Toleranz und des allgemeinen
Ausgleichs über alle Religionsgrenzen hinweg: alt eingesessene
jüdische Familien können sich selbst angesichts des zunehmenden
Palästinakonflikts nicht vorstellen, ihre vertraute Heimat Ägypten
jemals freiwillig zu verlassen. Doch schon zwei Jahre später ändert
sich durch den Suezkrieg alles, in dessen Verlauf israelische
Kampfflugzeuge Kairo wiederholt bombardieren. Tahas Vater Hussain
lebt zu dieser Zeit unter der Obhut des jüdischen Juweliers Lieto,
einem langjährigen engen Freund seines Vaters, der zwei Jahre zuvor
einem Herzinfarkt erlegen war. Während einer Bombennacht beobachtet
Hussain seinen Lehrherren und Förderer zufällig dabei, wie er vom
Dach seines Hauses den israelischen Piloten Lichtzeichen gibt, damit
sie das Jüdische Viertel verschonen. Schon bald darauf benutzt der
Heranwachsende am vermeintlichen „zionistischen Verräter“
erstmals das heimtückische schleichende Gift, das ihm Lieto selbst
kurze Zeit vorher in seiner Werkstatt gezeigt hatte: Diamantenstaub,
das angebliche Lieblingsgift der Borgia.
Kairo, El Gezira/Blick vom Cairo-Tower |
Diamantenstaub
wird üblicherweise in der Metallverarbeitung sowie in der
Schmuckindustrie als probates Schleifmittel verwendet. Wenn man ihn
jedoch in Getränke oder Lebensmittel mischt, so die Legende, löse
er beim jeweiligen Opfer krebsähnliche Wucherungen innerhalb der
Verdauungsorgane aus, in die sich der feine Staub aufgrund ihrer
natürlichen Bewegungen im Verlaufe der Zeit immer stärker
hineinarbeite und beim Betroffenen innerhalb von drei Monaten zu
einem äußerst schmerzhaften und qualvollen Tod bei vollem
Bewusstsein führe. Im Verlauf der Jahre wird Hussain, der am Ende
seines Lebens gelähmt im Rollstuhl sitzen wird, das Gift immer
wieder benutzen, um vermeintliche Schädlinge am Allgemeinwohl
heimtückisch zu ermorden.
„Ich habe geträumt, Sie säßen
in einem engen Raum, einer Art Keller, und hätten eine goldene Kette
um. Plötzlich kam mein großer Bruder rein. Er hat Sie an der Hand
genommen und gesagt: 'Ich nehme dich mit auf einen Weg, für den wir
drei Stunden brauchen werden.' Und dann rief er ein Taxi, weil Ihnen
Ihr Bein weh tat und Sie nicht laufen konnten. Das war's.“
„Und
wenn Ihr Bruder und ich uns im Traum getroffen haben, wo liegt da das
Problem?“
Ungerührt,
als teilte er jemandem mit, der Ölpreis sei um zwei Pfund gestiegen,
antwortete Hussain: „Das Problem ist, dass mein Bruder, mit dem Sie
weggegangen sind, seit zwei Jahren tot ist.“
Als
Taha, der eigentliche Protagonist des Buches, ein promovierter
Apotheker, der als Pharmareferent arbeitet, eines Abends in die
ärmliche, gemeinsam bewohnte Wohnung zurückkehrt, findet er seinen
Vater leblos neben seinem Rollstuhl liegend. Bevor er noch die
Polizei rufen kann, wird er selbst so brutal niedergestreckt und
zusammengeschlagen, dass er nur mit Mühe und Not dem Tod entgeht.
Als er nach Wochen auf der Intensivstation und einer aufwendigen
Rehabilitation das Krankenhaus endlich wieder verlassen kann, zeigt
die Polizei jedoch zu seiner wachsenden Verzweiflung keinerlei
Interesse, den Mord an seinem Vater sowie den Anschlag auf sein
eigenes Leben aufzuklären, obwohl Taha den wahrscheinlichen Täter,
den im ganzen Viertel berüchtigten Gelegenheitskriminellen und Fixer
Service, mit dem er vor kurzem eine heftige Auseinandersetzung
ausgefochten und der ihm daraufhin mehrmals explizit mit dem Tode
gedroht hatte, längst identifiziert und angezeigt hat.
„Ui,
dann bist du also doch an sozialen Fragen interessiert! Und ich hatte
gedacht, du gehst nur zur Arbeit und wieder nach Hause.“
„Du
hast vergessen, dass ich in einer Apotheke arbeite. Der psychische
Zustand der Ägypter lässt sich gut an den Medikamenten ablesen, die
sie am häufigsten verlangen.“
„Und
welche sind das?“
„Durchfallmittel.“
Gemeinsam
mit der ebenso mutigen wie geheimnisvollen, aber unnahbaren
Journalistin und Bloggerin Sara kommt er in der Zwischenzeit dem
jahrzehntelangen mörderischen Treiben seines Vaters auf die Spur,
dessen kriminelles Beispiel in ihm langsam den verzweifelten
Entschluss reifen lässt, Service selbst auf bewährte Art und
Weise zur Verantwortung zu ziehen. Leider stellt sich heraus, dass
dieser Protektion durch den bis vor kurzem allmächtigen
Polizeiobersten Wâlid
genießt, der gerade erst durch seinen eigenen Größenwahn und einen
von seinen politischen Gegnern künstlich gesteuerten Fall von
sexueller Nötigung vom Dienst suspendiert worden ist und der somit
jede Gelegenheit nutzen muss, um sich von den gegen ihn erhobenen
Vorwürfen reinzuwaschen. Schon bald tauchen Wâlid
und Service, der bereits deutliche Symptome der bekannten
Vergiftungserscheinungen trägt, gemeinsam in Tahas Wohnung auf, um
ihn gewaltsam zur Rede zu stellen – aber das ist erst der Anfang
einer unerbittlichen literarischen Tour de force von geradezu
mythischen Dimensionen um Betrug, Mord und Rache.
Ahmed Mourad |
Ahmed
Mourad erweist sich in seinem absolut fesselnden, hoch spannenden und
aufschlussreichen literarischen Thriller nicht nur als virtuoser,
weitsichtiger und fantasievoller Krimiautor, sondern auch als überaus
engagierter literarischer Chronist der sozialen und politischen
Geschichte seines Landes sowie der schmerzhaften gesellschaftlichen
Prozesse innerhalb der heterogenen ägyptischen Gesellschaft im
Verlaufe des Zwanzigsten Jahrhunderts, besonders aber auch der
jüngsten Zeit. Wer verstehen will, warum Ägypten auch nach dem vom
Volk erzwungenen Machtwechsel der Nach-Mubarak-Ära nicht zur Ruhe
kommt, wird an der dankbaren Lektüre dieses vielschichtigen Romans
nicht vorbeikommen, der auf ideale Art und Weise die Codes westlicher
Kriminalliteratur benutzt, um ein tief schürfendes, realistisches
und allgemein verständliches Bild seines Landes im Umbruch zu
zeichnen.
„Diamantenstaub“,
aus dem Arabischen von Christine Battermann, erschienen bei Lenos,
407 Seiten, € 22.50
Ein Roman der sich wirklich lohnt. Sehr realistisch, spannend und aufschlussreich.
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