Jerusalem

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Samstag, 10. Januar 2015

„Diamantenstaub“ von Ahmed Mourad

Am Ende eines ebenso beispiellosen wie blutigen Rachefeldzugs gegen Korruption und die totalitären Strukturen des pseudodemokratischen Mubarak-Regimes, der jedem Italo-Western zur Ehre gereichen würde, steht Taha, der einsame Held des Buches, schließlich gedankenverloren an der gemauerten Brüstung einer alten Brücke über den Nil, in dessen schlammigen Fluten er jenes kleine Fläschchen zu versenken trachtet, mit dessen unscheinbarem Inhalt er und sein Vater im Verlauf von über fünfzig Jahren so viele skrupellose Protagonisten des verhassten Systems auf denkbar grausame, schmerzhafte und qualvolle Art und Weise im Namen der machtlosen Mehrheit der ägyptischen Bevölkerung in verzweifelter Selbstjustiz hingerichtet haben.




Da muss er ohnmächtig mit ansehen, wie ein armer Fischer, der soeben sein elendes, vielfach geflicktes Netz ausgeworfen hat, um einen vermutlich kümmerlichen Fang an Land zu ziehen, von der Luxusyacht eines wohlbekannten Lokalpolitikers mitsamt seinem kleinen Ruderboot einfach rücksichtslos über den Haufen gefahren wird, während an Bord eine ignorant-lärmende Partygesellschaft weiter schamlos sich selbst und ihren unantastbaren sozialen Status feiert. Zwar steigt der Fischer wenig später unerwarteterweise und unter dem spontanen Applaus einiger Passanten wohlbehalten wieder aus den schmutzigen Fluten, doch das Fläschchen mit dem hochwirksamen Gift landet nach diesem aufschlussreichen Erlebnis – und man meint dabei, vor seinem inneren Ohr die in Bitternis triumphierende Trompete aus Ennio Morricones Western-Soundtrack zu hören – unangetastet wieder in Tahas Hosentasche, um vermutlich schon bald einer weiteren mörderischen Verwendung zugeführt zu werden.

Schweigen ist keine Lösung mehr. Darauf zu warten, dass jemand vor dem Haus aufräumt, ist sinnlos. Nichts kratzt dir besser den Rücken als dein eigener Fingernagel, sagt man. Lauter verrottete Persönlichkeiten und tote Seelen. Ich sehe schon die Staubkörnchen in ihren Mündern, wenn ich mich von diesem Auswurf befreie. Der Staub meiner rechten Hand. Der ist mein Gesetz, begleitet von einer Warnung und einem Traum, der die Finsternis in den Seelen aufrührt. Er gibt ihnen Gelegenheit zur Reue, um damit ihre Schuld vor dem Weisen und Gerechten abzutragen.

Der talentierte junge ägyptische Schriftsteller Ahmed Mourad, der sein literarisches Handwerk an der renommierten Filmhochschule von Kairo erlernte und dessen erster Roma „Vertigo“, unter großem Erfolg auch als Mehrteiler fürs ägyptische Fernsehen verfilmt wurde, hat mit „Diamantenstaub“ nun einen weiteren fulminanten gesellschaftskritischen Thriller geschrieben, mit dem er sich vor seinen weltweit erfolgreichen schwedischen Berufskollegen Henning Mankell und Stig Larsson sowie ambitionierten skandinavischen Fernsehserien wie „Sarah Lund“ oder „Die Brücke“ keinesfalls zu verstecken braucht.

Siehe, die schlimmsten Tiere für Gott sind jene, die taub und stumm sind und die nicht begreifen“
Das schlimmste Verbrechen in den letzten drei Jahrzehnten war, den Menschen ihren Verstand zu rauben, ihr Denken auszulöschen und ihre religiösen Überzeugungen zu politisieren. Irgendwann wird die Geschichte dafür sorgen, dass man denen, die dieses Verbrechen begangen haben, den Prozess macht.

Sein ebenso spannender wie intelligenter Krimi, der wie kaum ein Werk eines anderen Genres den Ton der westlichen Gesellschaft kongenial trifft und uns auf diese Weise besser als manches Sachbuch die vielschichtigen Problemstellungen und schmerzhaften Veränderungsprozesse Ägyptens im Zwanzigsten Jahrhundert zu vermitteln vermag, führt uns zunächst zurück in die frühen 1950er Jahre, in der die politischen Grundvoraussetzungen nach der Unabhängigkeit von Großbritannien noch derart offen waren, dass eine weniger totalitäre, positivere Entwicklung des Landes durchaus im Rahmen der Möglichkeiten gelegen hätte: das Buch ist „dem Mann der letzten Gelegenheit“ gewidmet, so Ahmed Mourad, dem Armeeoffizier und ersten Präsidenten der Republik Ägypten, Muhammad Nagîb, der 1954 von seinem früheren Mitstreiter und langjährigen Nachfolger Gâmal Abdel Nasser gewaltsam aus der Regierung gezwungen und unter bewachten Hausarrest gestellt wurde, nachdem er kurz zuvor die von ihm angestrebte Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie verkündet hatte.

Die Revolution hat tausend Paschas beseitigt und Millionen neue an ihre Stelle gesetzt. Die und ihre Kinder machen uns jetzt das Leben schwer. Um sie scharen sich noch jede Menge Lügner. Und die, die Geld haben, sind ihre Hühner – Hühner, die goldene Eier legen. Die protegieren sie und bereiten ihnen das Nest, um ihnen das Eierlegen leichter zu machen. Du siehst doch, wie sie ohne mit der Wimper zu zucken, miteinander mauscheln. Und einer wie Bergas, der seit den Achtzigern seine Hände noch in jeder schmutzigen Sache hatte – schau dir mal an, wie weit der damit gekommen ist! Ich ziehe den Hut vor jedem, der es schafft, ihn aufzuhalten.

Am Vorabend seiner Demission herrscht im Jüdischen Viertel von Kairo noch eine lebendige Atmosphäre der Toleranz und des allgemeinen Ausgleichs über alle Religionsgrenzen hinweg: alt eingesessene jüdische Familien können sich selbst angesichts des zunehmenden Palästinakonflikts nicht vorstellen, ihre vertraute Heimat Ägypten jemals freiwillig zu verlassen. Doch schon zwei Jahre später ändert sich durch den Suezkrieg alles, in dessen Verlauf israelische Kampfflugzeuge Kairo wiederholt bombardieren. Tahas Vater Hussain lebt zu dieser Zeit unter der Obhut des jüdischen Juweliers Lieto, einem langjährigen engen Freund seines Vaters, der zwei Jahre zuvor einem Herzinfarkt erlegen war. Während einer Bombennacht beobachtet Hussain seinen Lehrherren und Förderer zufällig dabei, wie er vom Dach seines Hauses den israelischen Piloten Lichtzeichen gibt, damit sie das Jüdische Viertel verschonen. Schon bald darauf benutzt der Heranwachsende am vermeintlichen „zionistischen Verräter“ erstmals das heimtückische schleichende Gift, das ihm Lieto selbst kurze Zeit vorher in seiner Werkstatt gezeigt hatte: Diamantenstaub, das angebliche Lieblingsgift der Borgia.

Kairo, El Gezira/Blick vom Cairo-Tower

Diamantenstaub wird üblicherweise in der Metallverarbeitung sowie in der Schmuckindustrie als probates Schleifmittel verwendet. Wenn man ihn jedoch in Getränke oder Lebensmittel mischt, so die Legende, löse er beim jeweiligen Opfer krebsähnliche Wucherungen innerhalb der Verdauungsorgane aus, in die sich der feine Staub aufgrund ihrer natürlichen Bewegungen im Verlaufe der Zeit immer stärker hineinarbeite und beim Betroffenen innerhalb von drei Monaten zu einem äußerst schmerzhaften und qualvollen Tod bei vollem Bewusstsein führe. Im Verlauf der Jahre wird Hussain, der am Ende seines Lebens gelähmt im Rollstuhl sitzen wird, das Gift immer wieder benutzen, um vermeintliche Schädlinge am Allgemeinwohl heimtückisch zu ermorden.

Ich habe geträumt, Sie säßen in einem engen Raum, einer Art Keller, und hätten eine goldene Kette um. Plötzlich kam mein großer Bruder rein. Er hat Sie an der Hand genommen und gesagt: 'Ich nehme dich mit auf einen Weg, für den wir drei Stunden brauchen werden.' Und dann rief er ein Taxi, weil Ihnen Ihr Bein weh tat und Sie nicht laufen konnten. Das war's.“
Und wenn Ihr Bruder und ich uns im Traum getroffen haben, wo liegt da das Problem?“
Ungerührt, als teilte er jemandem mit, der Ölpreis sei um zwei Pfund gestiegen, antwortete Hussain: „Das Problem ist, dass mein Bruder, mit dem Sie weggegangen sind, seit zwei Jahren tot ist.“

Als Taha, der eigentliche Protagonist des Buches, ein promovierter Apotheker, der als Pharmareferent arbeitet, eines Abends in die ärmliche, gemeinsam bewohnte Wohnung zurückkehrt, findet er seinen Vater leblos neben seinem Rollstuhl liegend. Bevor er noch die Polizei rufen kann, wird er selbst so brutal niedergestreckt und zusammengeschlagen, dass er nur mit Mühe und Not dem Tod entgeht. Als er nach Wochen auf der Intensivstation und einer aufwendigen Rehabilitation das Krankenhaus endlich wieder verlassen kann, zeigt die Polizei jedoch zu seiner wachsenden Verzweiflung keinerlei Interesse, den Mord an seinem Vater sowie den Anschlag auf sein eigenes Leben aufzuklären, obwohl Taha den wahrscheinlichen Täter, den im ganzen Viertel berüchtigten Gelegenheitskriminellen und Fixer Service, mit dem er vor kurzem eine heftige Auseinandersetzung ausgefochten und der ihm daraufhin mehrmals explizit mit dem Tode gedroht hatte, längst identifiziert und angezeigt hat.

Ui, dann bist du also doch an sozialen Fragen interessiert! Und ich hatte gedacht, du gehst nur zur Arbeit und wieder nach Hause.“
Du hast vergessen, dass ich in einer Apotheke arbeite. Der psychische Zustand der Ägypter lässt sich gut an den Medikamenten ablesen, die sie am häufigsten verlangen.“
Und welche sind das?“
Durchfallmittel.“

Gemeinsam mit der ebenso mutigen wie geheimnisvollen, aber unnahbaren Journalistin und Bloggerin Sara kommt er in der Zwischenzeit dem jahrzehntelangen mörderischen Treiben seines Vaters auf die Spur, dessen kriminelles Beispiel in ihm langsam den verzweifelten Entschluss reifen lässt, Service selbst auf bewährte Art und Weise zur Verantwortung zu ziehen. Leider stellt sich heraus, dass dieser Protektion durch den bis vor kurzem allmächtigen Polizeiobersten Wâlid genießt, der gerade erst durch seinen eigenen Größenwahn und einen von seinen politischen Gegnern künstlich gesteuerten Fall von sexueller Nötigung vom Dienst suspendiert worden ist und der somit jede Gelegenheit nutzen muss, um sich von den gegen ihn erhobenen Vorwürfen reinzuwaschen. Schon bald tauchen Wâlid und Service, der bereits deutliche Symptome der bekannten Vergiftungserscheinungen trägt, gemeinsam in Tahas Wohnung auf, um ihn gewaltsam zur Rede zu stellen – aber das ist erst der Anfang einer unerbittlichen literarischen Tour de force von geradezu mythischen Dimensionen um Betrug, Mord und Rache.

Ahmed Mourad

Ahmed Mourad erweist sich in seinem absolut fesselnden, hoch spannenden und aufschlussreichen literarischen Thriller nicht nur als virtuoser, weitsichtiger und fantasievoller Krimiautor, sondern auch als überaus engagierter literarischer Chronist der sozialen und politischen Geschichte seines Landes sowie der schmerzhaften gesellschaftlichen Prozesse innerhalb der heterogenen ägyptischen Gesellschaft im Verlaufe des Zwanzigsten Jahrhunderts, besonders aber auch der jüngsten Zeit. Wer verstehen will, warum Ägypten auch nach dem vom Volk erzwungenen Machtwechsel der Nach-Mubarak-Ära nicht zur Ruhe kommt, wird an der dankbaren Lektüre dieses vielschichtigen Romans nicht vorbeikommen, der auf ideale Art und Weise die Codes westlicher Kriminalliteratur benutzt, um ein tief schürfendes, realistisches und allgemein verständliches Bild seines Landes im Umbruch zu zeichnen.

Diamantenstaub“, aus dem Arabischen von Christine Battermann, erschienen bei Lenos, 407 Seiten, € 22.50

1 Kommentar:

  1. Ein Roman der sich wirklich lohnt. Sehr realistisch, spannend und aufschlussreich.

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