Als 1968, im Jahr der
französischen Studentenunruhen, der ebenso wilde wie aufregende
Debütroman eines gerade dreiundzwanzigjährigen talentierten
Nachwuchsschriftstellers erschien, der weder gedanklich noch in
realiter der Studentenbewegung angehörte, war dieser seiner Zeit
und seiner potenziellen Leserschaft in vielerlei Hinsicht weit
voraus. Nicht nur hatte sein Verleger die Veröffentlichung des zu
einem großen Teil während der deutschen Okkupation in Paris
spielenden Buches mit dem in der Vorrede anhand einer jüdischen
Anekdote erläuterten doppeldeutigen Titel „Place de l’Étoile“
aufgrund des israelischen Sechstagekriegs ein ganzes Jahr
zurückgehalten, weil er befürchtete, das darin transportierte
einseitig-ablehnende Israelbild könne angesichts der damaligen
politischen Lage nicht nur falsch aufgenommen werden, sondern die
öffentliche Meinung in Frankreich möglicherweise sogar vollkommen
eskalieren und in eine falsche Richtung abgleiten lassen – was an
sich schon ein erstaunlich aussagekräftiges Indiz dafür ist, welche
außergewöhnliche literarische Qualität und politische Relevanz von
vornherein in dem unveröffentlichten Manuskript erkannt wurde.
Patrick Modiano, späterer
Gewinner des Prix Goncourt und Träger des Österreichischen
Staatspreises für Europäische Literatur, der sich selbst als Kind
der Besatzungszeit betrachtet: gezeugt im Krieg, geboren im Frieden
(1945) – hatte in seinem provozierenden, als Autobiografie eines
jungen französischen Juden gestalteten Text weitestgehend
unkommentiert, aber gleichzeitig auf höchst sachkundige Art und
Weise derart viele antisemitische Klischees und Hasstiraden aus
Werken bekannter französischer Schriftsteller, Journalisten und
Politiker der Vorkriegszeit sowie aus Kreisen prominenter
Kollaborateure des Vichy-Regimes zusammengetragen und reflektiert,
dass man ohne weiteres davon sprechen kann, dass er die großen
Anstrengungen französischer Historiker und Künstler der 1970er und
80er Jahren hinsichtlicher einer umfassenden kollektiven Aufarbeitung
der Zeit der französischen Kollaboration mit seinem Buch bereits
vorweggenommen hat – denn nennenswerte Literatur zu diesem Thema
hatte es bis dahin nicht gegeben.
In dieser Hinsicht ist
eine Anekdote aus einem späteren Roman Modianos interessant, in der
er indirekt seinen jüdischen Vater als Auslöser von „Place de
l’Étoile“ benennt, wie die versierte Übersetzerin Elisabeth Edl
im erhellenden Nachwort der deutschen Ausgabe erläutert:
Ich hatte ein paar
Jahre zuvor in seiner Bibliothek einige Werke antisemitischer Autoren
entdeckt, die in den vierziger Jahren erschienen waren und die er
damals gekauft hatte, wahrscheinlich, weil er zu verstehen suchte,
was diese Leute ihm vorwarfen. Und ich kann mir vorstellen, wie sehr
ihn die Beschreibung dieses imaginären, phantasmatischen Ungeheuers
überrascht haben muss, dessen bedrohlicher Schatten über die Wände
huschte, mit seiner krummen Nase und seinen Raubvogelhänden, diese
von allen Lastern verderbte Kreatur, die verantwortlich ist für alle
Übel und schuldig aller Verbrechen. In meinem ersten Buch wollte ich
all diesen Leuten antworten, deren Beleidigungen mich meines Vaters
wegen verletzt hatten. Und ihnen, auf dem Gebiet der französischen
Prosa, ein für alle Mal den Mund stopfen.
So lässt er seinen
Protagonisten Raphaël Schlemilovitch parallel mehrere Lebensentwürfe
eines französischen Juden der 1930er und 40er Jahre durchleben, die
von den gängigen antijüdischen Klischees seiner Zeit geprägt sind
– ob als Liebhaber von Eva Braun, Vermittler von Prostituierten für
ein brasilianisches Freudenhaus oder als Gestapospitzel. „Place de
l’Étoile“ ist erst vierzig Jahre nach seiner ursprünglichen
Erstveröffentlichung in deutscher Übersetzung erschienen und kann
mit seinem ausgeprägten jugendlichen Furor und seiner unbändigen
Lust an der karikierenden Bloßstellung seines desolaten Personals
kaum einen Leser unbeteiligt lassen.
Nun, mehr als zwei Dutzend
hochkarätiger Buchveröffentlichungen später, ist Patrick Modiano –
überraschend für viele Beobachter des internationalen Buchmarktes –
verdientermaßen der Literaturnobelpreis für sein höchst prägnantes
und eigenes Gesamtwerk zuerkannt worden. Und es scheint absolut kein
Zufall zu sein, dass gerade Frankreich im Laufe von gut hundert
Jahren überproportional viele Literaturnobelpreisträger
hervorgebracht hat, nämlich fünfzehn, womit die Grande nation
in der inoffiziellen Länderrangliste einsam und geradezu uneinholbar
an der Spitze liegt: im Land der Éducation sentimentale
besitzt die Literatur nicht nur ein viel höheres Grundansehen als in
Deutschland, wo der gesellschaftliche Diskurs meist von einem
unausgesprochenen, vollkommen absurden und irrationalen Zwang zum
politisch korrekten Konsens ausgebremst wird, sondern erfüllt auch
vollkommen andere Erwartungen ans Lesen: denn im Rahmen der Lektüre
wesentlicher, bedeutender Literatur kann der Leser die individuelle
Vervollkommnung seiner seelischen Erfahrungswelten vollziehen, was
ihn idealerweise zu einem empfindsameren, toleranteren und
reflektierteren Menschen macht.
Wirklich existenzielle
Literatur aber besitzt immer auch die unbequeme, unserer geistigen
Entwicklung jedoch höchst zuträgliche Fähigkeit, uns innerlich
aufzurütteln und uns das Leben aus neuen, ungewohnten Perspektiven
zu erschließen, die wir niemals zuvor einzunehmen gewagt haben. Da
dieser unschätzbare Aufwand vom Leser aber erst einmal aufgebracht
werden muss und dies nur aus freien Stücken geschehen kann, ist
bedeutende Literatur in unserer Gesellschaftsform nicht
bestsellertauglich und muss deshalb immer ein Randphänomen bleiben.
Der Literaturnobelpreis für Patrick Modiano ist somit eine schöne
und dringend notwendige Anerkennung für das jahrzehntelang-unbeirrte
und in höchstem Maße charakteristische literarische Schaffen einer
originären Schriftstellerpersönlichkeit, die sich niemals von
anderen Meinungen, Moden oder Paradigmen hat beeinflussen lassen,
sondern sich auf ganz und gar individuelle und trotzdem exemplarische
Art und Weise stets an elementarsten Fragen der menschlichen Existenz
abgearbeitet hat.
Dabei
ist Patrick Modiano immer auf besondere Art und Weise auch für den
Außenstehenden explizit gut lesbar und zugänglich geblieben, so
auch in seinem vorletzten in deutscher Übersetzung erschienenen
Jugend- und Liebesroman „Im Café der verlorenen Jugend“: Dass die romantische Liebe zumindest
im Anfangsstadium immer zu einem vielleicht noch größeren Anteil
aus schwärmerisch-optimistischer Projektion auf den ersehnten
Partner besteht als man sich später möglicherweise eingestehen
möchte, ist eine Binsenweisheit, die kaum trivialer sein könnte, je
nüchterner man sie betrachtet. Was aber wäre die erfüllendste,
zeitvergessenste Liebe noch wert, wenn man sie später lediglich kühl
und rational abheftete und bestenfalls als immerhin nützliche
Erfahrung verbuchte, die Emotionen also kühn von den Fakten trennte
und sich in die nächste Verdrängung flüchtete?
Schon
seinem autobiografischen Roman „Familienstammbaum“ (2005) hatte
er als übergeordnetes Motto seines gesamten literarischen Schaffens
ein Zitat des Dichters der französischen Résistance, René
Char
(1907-1988), vorangestellt:
Leben heißt, beharrlich
einer Erinnerung nachzuspüren.
Dies gilt freilich auch
für jede unglückliche Liebe, die sich – wie der Autor weiß –
immer wieder wehmütig Bahn in die Erinnerung jedes noch so
nüchternen Zeitgenossen zu brechen vermag. Die
geheimnisvoll-unergründliche hübsche Protagonistin seines
meisterhaften kleinen Romans „Café der verlorenen Jugend“
(2007), bildet dabei die ideale Projektionsfläche für die
romantischen Gefühle dreier Männer, aus deren unterschiedlichen
persönlichen Blickwinkeln Modiano seine Geschichte virtuos vor uns
ausbreitet, bevor er nach einem erneuten Perspektivwechsel die junge
herzerfrischend unangepasste Frau schließlich selbst zu Wort kommen
lässt.
Im titelgebenden Café
Le Condé im Saint-Germain-des-Prés der 1960er Jahre versammelt
sich Tag für Tag ein buntes Völkchen aus Künstlern und Studenten,
„von denen die meisten in unserem Alter waren, ich würde sagen,
so zwischen neunzehn und fünfundzwanzig. [...] Ich suche im
Wörterbuch nach „Bohemien“: Person, die ein unstetes Leben
führt, ohne Regeln, ohne Sorge ums Morgen. Das ist eine Definition,
die auf die Besucherinnen und Besucher des Condé genau passte.“
Durch die sich gegenseitig ergänzenden Beschreibungen dieser
allnächtlichen Gesellschaft sowie der geheimnisvollen jungen Frau,
die eines Tages einfach den Namen „Louki“ verpasst bekommt („Im
ersten Augenblick wirkte sie erschrocken, dann hat sie gelächelt“),
gewinnt jene langsam an Kontur, ohne jedoch alle ihre Geheimnisse
preiszugeben.
Immerhin erfahren wir nach
und nach, dass sie ihren wohlhabenden älteren Ehemann nach nur einem
Jahr Ehe verlassen und dass dieser einen Privatdetektiv auf ihre Spur
gehetzt habe. Von Kindheit an unkonventionell – ihre Mutter
Platzanweiserin im Moulin Rouge, ihr Vater unbekannt – verkehrt sie
in einem esoterischen Zirkel, schnupft hin und wieder Koks und erlebt
im Umkreis des faszinierenden Mikrokosmos des zwielichtigen Cafés
Condé eine entgrenzte Liebe, die kaum leidenschaftlicher sein
könnte.
Doch der sensible
Menschenkenner Modiano weiß auch, dass in der Erinnerung meist
gerade jene Liebesgeschichten die allergrößte Strahlkraft besitzen,
die letztlich einen tragischen Ausgang nahmen, denn nach ihnen wird
man sich immer sehnen. Von „Louki“ bleibt schließlich nichts als
die wehmütige Erinnerung ihrer Liebhaber. Patrick Modianos ebenso
stimmungsvoll-melancholischer wie sehnsüchtig-schöner Roman ist
eine Gefühl und Verstand integrierende Bestandsaufnahme der eigenen
unsicheren Erinnerung an jene jugendlich-weltumarmende Art der
Wahrnehmung, die man erst dann angemessen zu feiern vermag, wenn sie
einem bereits entglitten ist. In dieser elementaren Kunst der
persönlichen Vergegenwärtigung eigener Vergangenheit ist der
preisgekrönte Autor ein wahrer Meister, der dringend gelesen werden
sollte. Seinen ursprünglich zur Veröffentlichung im nächsten Frühjahr vorgesehenen neuen Roman "Gräser der Nacht" zieht der Hanser Verlag aus aktuellem Anlass auf den 5. November vor.
Die Werke Patrick Modianos sind auf Deutsch bei Hanser und dtv erschienen.
Die Werke Patrick Modianos sind auf Deutsch bei Hanser und dtv erschienen.
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