Liebe
Leser und Freunde des Psychosemitischen Buchblogs,
aus
beruflichen Gründen – der Liquidierung der Unternehmung, für die
ich in den vergangenen elf Jahren hauptberuflich tätig gewesen bin bis Ende Februar sowie kurzfristig notwendig gewordener Projekte der
Literaturvermittlung und des Lektorats – kann ich leider bis auf
Weiteres keine Rezensionen in der gewohnt ausführlichen Form an
diesem Ort bereitstellen.
In
kürzerer Form als ich es mir eigentlich wünsche möchte ich an dieser Stelle
jedoch wenigstens auf jene Bücher hinweisen, die ich in letzter Zeit
sehr gerne gelesen habe und für ausführliche Besprechungen sowie
als explizite Leseempfehlungen fest vorgesehen hatte.
Für
das große Interesse und die freundliche Unterstützung bedanke ich
mich sehr herzlich!
Florian Hunger
„Wolfshunger“ von Philip Kerr
Mit
jedem neuen Roman aus Philip Kerrs international zu Recht gefeierter
Krimiserie Berlin Noir um den moralisch unbestechlichen und
regimekritischen deutschen Ermittler Bernhard Gunther wird umso
deutlicher, wie virtuos und ehrgeizig der schottische Spannungsautor
sein höchst anerkennenswertes Ziel weiterverfolgt, ein
differenziertes literarisches Gesamtbild von Deutschland während der
Nazi-Herrschaft zu erschaffen, das nicht nur der historischen
Realität, wie wir sie aus zahlreichen Zeitzeugenberichten und
geschichtswissenschaftlichen Aufarbeitungen vermittelt bekommen
haben, auf vorbildliche Weise zu entsprechen scheint, sondern das dem
Leser von heute auch in der Person seines unnachahmlichen
Protagonisten, des psychisch gebrochenen und durch die von ihm
unfreiwillig bezeugten Verbrechen traumatisierten ehemaligen
Kriminalkommissars im Rang eines Hauptmanns, eine wirklichkeitsnahe
kritisch-objektive Beurteilung des Lebens unter
nationalsozialistischer Diktatur sowie der kollektiven Verbrechen
Nazi-Deutschlands aus individueller Sicht, gleichsam von innen heraus
zu vermitteln vermag, die im Hinblick auf ein natürliches Rechts-
und Gerechtigkeitsempfinden des Lesers in hohem Maße moralisch
prägend werden kann.
Bernie
Gunthers mittlerweile neunter, nicht in chronologischer Reihenfolge
veröffentlichter Fall Mit dem Titel „Wolfshunger“ führt ihn im
beginnenden Frühling des bitteren Kriegsjahrs 1943 in den Wald von
Katyn bei Smolensk (heute Ukraine), wo der NKWD nach der sowjetischen
Annexion Ostpolens infolge des Hitler-Stalin-Pakts drei Jahre zuvor
ein Massaker an mehreren tausend im Verlauf der Kriegshandlungen
gefangen genommenen polnischen Offizieren verübt hatte, das nun von
der Wehrmachtsuntersuchungsstelle für Kriegsverbrechen aufgearbeitet
und von Joseph Goebbels und seinem Propagandaministerium durch
bewusste Instrumentalisierung einer internationalen
Expertenkommission als Kriegsverbrechen der Alliierten
propagandistisch ausgeschlachtet werden soll. Vor Ort begegnet Bernie
erneut einer schwer zu ertragenden Mischung aus roher, staatlich
sanktionierter Gewalt, ignoranten militärischen Gehorsams und einem
weit verzweigten Netzwerk von brutaler, amoralischer Machtausübung
und Korruption. Nach dem unbegreiflichen blutigen Mord an zwei
zunächst vollkommen harmlos scheinenden Wehrmachtsfunkern sowie
einem russischen Arzt und seiner Tochter, mit denen Gunther allesamt
in persönlichem Kontakt stand, nimmt er in gewohnt leichtsinniger
Art auf eigene Faust inoffizielle Ermittlungen auf, die ihn schon
bald in höchste Lebensgefahr bringen und nur wenig später sogar zu
einem kaltblütigen Mord an einem unschuldigen Kameraden zwingen. Er
verliert erneut auf denkbar unglückliche Art und Weise die Liebe
einer schönen Frau und räsonniert aus heutiger Sicht ungewohnt
scharfsinnig und erfrischend über die merkwürdig zauderhafte, im
kollektiven Gedenken der Bundesrepublik unverhältnismäßig
überhöhte Verschwörung adliger deutscher Offiziere gegen Hitler,
die ein Jahr später im vorhersehbaren Fiasko des 20. Juli münden
sollte.
Eins muss ich Ihnen lassen. Sie Genie haben dreimal in ebenso vielen Wochen versucht, Hitler umzubringen, und jedes Mal ging es schief. Man sollte doch meinen, dass eine Gruppe ranghoher Offiziere weiß, wie man einen Mann tötet. Sie sollten darin gut sein, oder nicht? Während des Großen Krieges hatte jedenfalls keiner von Ihnen Probleme, Milionen Menschen abzuschlachten. Aber es scheint Ihnen allen unmöglich, Hitler umzubringen. Als nächstes erzählen Sie mir vielleicht noch, Sie wollen silberne Kugeln benutzen, um den Scheißkerl aus der Welt zu schaffen.
Auch
im neunten Band seiner originellen Buchreihe um Bernie Gunther ist
Philip Kerr erneut eine auch intellektuell fesselnde Mischung aus
kriminalistischer Spannungsliteratur, zuverlässiger historischer
Recherche und glänzender politischer Analyse auf allerhöchstem
Niveau gelungen. Anders als die meisten anderen Thriller und
Kriminalromane unserer Zeit, die man nach der Lektüre ohne zu zögern
leihweise weitergibt, verschenkt oder irgendwo liegen lässt, stellt
man die Berlin-Noir-Romane in die erste Reihe im Bücherregal zu den
anderen Bänden.
„Wolfshunger“,
aus dem Englischen von Juliane Pahnke, erschienen bei Wunderlich, 543 Seiten, € 22,95
„Aufstieg und Fall des Wollspinners William Bellman“
von Diane Setterfield
Nachdem
der zehnjährige William Bellman unter dem Beifall seiner
gleichaltrigen Freunde mit einem perfekten, unglaublich scheinenden
Schuss aus seiner selbstgebauten Zwille an einem denkwürdigen
Spätsommertag eine in weiter Entfernung auf einem Ast sitzende Krähe
getötet hat, bekommt er noch am selben Abend einen heftigen
Fieberanfall, der ihn für die Dauer einer Woche besinnungslos ans
Bett fesselt. Auf dem Nachhauseweg hatte er noch unter dem Baum
seines fragwürdigen Triumphs plötzlich einen schwarz gekleideten
Jungen stehen sehen, der ihm unverwandt hinterherblickte, bis er im
Haus verschwunden war.
Als
William das Fieber glücklich überstanden hat, beginnt seine
denkwürdige Karriere als völlig unbeschwert scheinendes
sprichwörtliches Glückskind, dem im viktorianischen England
offensichtlich alles im Leben gelingt: nicht nur fliegen ihm mühelos
sämtliche Herzen seiner Mitmenschen zu, insbesondere der Frauen,
auch im Beruf gelingt ihm Dank seines Fleißes und seines
Einfühlungsvermögens nahezu alles. Nur wenige Jahre nachdem er als
Lehrling in die Weberei seines Onkels eingetreten ist, hat er sich
dort schon so unersetzlich gemacht, dass es nur eine Frage der Zeit
zu sein scheint, bis er die Leitung des im Zuge der
Industrialisierung aufstrebenden Betriebs übernehmen wird. Doch
da beginnen in seinem persönlichen Umfeld die plötzlichen
Todesfälle: seine geliebte Mutter, sein Onkel, sein Cousin. Und
während der Beerdigungen fällt William immer wieder ein schwarz
gekleideter Fremder auf, der ihn mit stechendem Blick aus der Ferne
fixiert und ihn in zunehmendem Maße beunruhigt, doch ihm immer dann
ausweicht, wenn er Mut gefasst hat, ihn zur Rede zu stellen. Allein
in der Arbeit findet der aufstrebende Jungunternehmer Trost und
Zuflucht, die Weberei floriert und kann sich Dank seiner fabelhaften
Voraussicht gut am Markt positionieren. Er heiratet die Frau seines
Herzens und sie bekommen mit den Jahren vier Kinder.
Doch
auf dem Höhepunkt seines privaten und beruflichen Erfolges, bricht
eine Typhusepidemie aus, der nacheinander seine jüngste Tochter,
seine beiden Söhne und seine Frau zum Opfer fallen. Als auch die
älteste Tochter erkrankt, betrinkt sich William bis zur
Besinnungslosigkeit in der Dorfkneipe. Auf seinem nächtlichen
Heimweg beobachtet er, wie der mysteriöse Mann in Schwarz den
Friedhof betritt und folgt ihm. Über einer Reihe von bereits
ausgehobenen Gräbern kommt es zu einem denkwürdigen Handschlag
zwischen den beiden, der alles ändert. Am nächsten Morgen zeigt
Williams Tochter überraschend Anzeichen der Besserung und der
Unternehmer stürzt sich mit voller Energie in ein makabres
Großprojekt, dem größten Kaufhaus für Trauerwaren, das es in
London jemals gegeben hat.
"Was für ein Leben ich hatte!", sagte er staunend zu Black. "Ich könnte ein halbes Leben damit zubringen, einfach nur daran zu denken!"
"Erinner dich!"
Er erinnerte sich, Szene für Szene, jeden Augenblick, Glück und Kummer, Freude, Liebe und Trauer quollen aus dem Winkel hervor, in dem er sie eingemauert hatte, ein Strom aus Tagen, Stunden und Sekunden, der nicht enden wollte.
Mir ist kalt, merkte er und dachte augenblicklich daran, wie er vor vielen Jahren, in Decken gehüllt, am Kaminfeuer eines kleinen Cottage gezittert und das Gewicht seiner Tochter auf dem Schoß gespürt hatte.
Diane
Setterfields ebenso virtuoser wie kenntnisreicher historischer Roman variiert das Thema der
moralischen Einsicht und Umkehr, das wir aus Charles Dickens'
berühmter Weihnachtsgeschichte kennen, auf höchst originelle und lebensbejahende Art und Weise. Dabei gelingt es ihr absolut
meisterhaft, das verdrängte Kindheitstrauma ihres unglückseligen
Protagonisten so in die Handlung und die geglückte Konstruktion
ihres atemlos zu lesenden Buches einzubetten, dass in der Raben- und
Vergänglichkeitssymbolik zwar deutliche Anklänge ans Phantastische
bestehen bleiben, aber ohne dass diese nicht auch nüchtern und
rational im Sinne einer psychologischen Umschichtung innerer
Erlebnisse deutbar bleiben. „Aufstieg und Fall des Wollspinners
William Bellman“ ist damit eine überaus dankbare, wenn nicht die
ideale Lektüre für die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr.
„Aufstiegund Fall des Wollspinners William Bellman“, aus dem Englischen von
Anke und Eberhard Kreutzer, erschienen bei Blessing, 400 Seiten, €19,99
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