Jerusalem

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Dienstag, 25. November 2014

In eigener Sache

Liebe Leser und Freunde des Psychosemitischen Buchblogs,

aus beruflichen Gründen – der Liquidierung der Unternehmung, für die ich in den vergangenen elf Jahren hauptberuflich tätig gewesen bin bis Ende Februar sowie kurzfristig notwendig gewordener Projekte der Literaturvermittlung und des Lektorats – kann ich leider bis auf Weiteres keine Rezensionen in der gewohnt ausführlichen Form an diesem Ort bereitstellen.

In kürzerer Form als ich es mir eigentlich wünsche möchte ich an dieser Stelle jedoch wenigstens auf jene Bücher hinweisen, die ich in letzter Zeit sehr gerne gelesen habe und für ausführliche Besprechungen sowie als explizite Leseempfehlungen fest vorgesehen hatte.

Für das große Interesse und die freundliche Unterstützung bedanke ich mich sehr herzlich!

Florian Hunger





„Wolfshunger“ von Philip Kerr


Mit jedem neuen Roman aus Philip Kerrs international zu Recht gefeierter Krimiserie Berlin Noir um den moralisch unbestechlichen und regimekritischen deutschen Ermittler Bernhard Gunther wird umso deutlicher, wie virtuos und ehrgeizig der schottische Spannungsautor sein höchst anerkennenswertes Ziel weiterverfolgt, ein differenziertes literarisches Gesamtbild von Deutschland während der Nazi-Herrschaft zu erschaffen, das nicht nur der historischen Realität, wie wir sie aus zahlreichen Zeitzeugenberichten und geschichtswissenschaftlichen Aufarbeitungen vermittelt bekommen haben, auf vorbildliche Weise zu entsprechen scheint, sondern das dem Leser von heute auch in der Person seines unnachahmlichen Protagonisten, des psychisch gebrochenen und durch die von ihm unfreiwillig bezeugten Verbrechen traumatisierten ehemaligen Kriminalkommissars im Rang eines Hauptmanns, eine wirklichkeitsnahe kritisch-objektive Beurteilung des Lebens unter nationalsozialistischer Diktatur sowie der kollektiven Verbrechen Nazi-Deutschlands aus individueller Sicht, gleichsam von innen heraus zu vermitteln vermag, die im Hinblick auf ein natürliches Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden des Lesers in hohem Maße moralisch prägend werden kann.



Bernie Gunthers mittlerweile neunter, nicht in chronologischer Reihenfolge veröffentlichter Fall Mit dem Titel „Wolfshunger“ führt ihn im beginnenden Frühling des bitteren Kriegsjahrs 1943 in den Wald von Katyn bei Smolensk (heute Ukraine), wo der NKWD nach der sowjetischen Annexion Ostpolens infolge des Hitler-Stalin-Pakts drei Jahre zuvor ein Massaker an mehreren tausend im Verlauf der Kriegshandlungen gefangen genommenen polnischen Offizieren verübt hatte, das nun von der Wehrmachtsuntersuchungsstelle für Kriegsverbrechen aufgearbeitet und von Joseph Goebbels und seinem Propagandaministerium durch bewusste Instrumentalisierung einer internationalen Expertenkommission als Kriegsverbrechen der Alliierten propagandistisch ausgeschlachtet werden soll. Vor Ort begegnet Bernie erneut einer schwer zu ertragenden Mischung aus roher, staatlich sanktionierter Gewalt, ignoranten militärischen Gehorsams und einem weit verzweigten Netzwerk von brutaler, amoralischer Machtausübung und Korruption. Nach dem unbegreiflichen blutigen Mord an zwei zunächst vollkommen harmlos scheinenden Wehrmachtsfunkern sowie einem russischen Arzt und seiner Tochter, mit denen Gunther allesamt in persönlichem Kontakt stand, nimmt er in gewohnt leichtsinniger Art auf eigene Faust inoffizielle Ermittlungen auf, die ihn schon bald in höchste Lebensgefahr bringen und nur wenig später sogar zu einem kaltblütigen Mord an einem unschuldigen Kameraden zwingen. Er verliert erneut auf denkbar unglückliche Art und Weise die Liebe einer schönen Frau und räsonniert aus heutiger Sicht ungewohnt scharfsinnig und erfrischend über die merkwürdig zauderhafte, im kollektiven Gedenken der Bundesrepublik unverhältnismäßig überhöhte Verschwörung adliger deutscher Offiziere gegen Hitler, die ein Jahr später im vorhersehbaren Fiasko des 20. Juli münden sollte.

Eins muss ich Ihnen lassen. Sie Genie haben dreimal in ebenso vielen Wochen versucht, Hitler umzubringen, und jedes Mal ging es schief. Man sollte doch meinen, dass eine Gruppe ranghoher Offiziere weiß, wie man einen Mann tötet. Sie sollten darin gut sein, oder nicht? Während des Großen Krieges hatte jedenfalls keiner von Ihnen Probleme, Milionen Menschen abzuschlachten. Aber es scheint Ihnen allen unmöglich, Hitler umzubringen. Als nächstes erzählen Sie mir vielleicht noch, Sie wollen silberne Kugeln benutzen, um den Scheißkerl aus der Welt zu schaffen.

Auch im neunten Band seiner originellen Buchreihe um Bernie Gunther ist Philip Kerr erneut eine auch intellektuell fesselnde Mischung aus kriminalistischer Spannungsliteratur, zuverlässiger historischer Recherche und glänzender politischer Analyse auf allerhöchstem Niveau gelungen. Anders als die meisten anderen Thriller und Kriminalromane unserer Zeit, die man nach der Lektüre ohne zu zögern leihweise weitergibt, verschenkt oder irgendwo liegen lässt, stellt man die Berlin-Noir-Romane in die erste Reihe im Bücherregal zu den anderen Bänden.

„Wolfshunger“, aus dem Englischen von Juliane Pahnke, erschienen bei Wunderlich, 543 Seiten, € 22,95



„Aufstieg und Fall des Wollspinners William Bellman“ 

von Diane Setterfield


Nachdem der zehnjährige William Bellman unter dem Beifall seiner gleichaltrigen Freunde mit einem perfekten, unglaublich scheinenden Schuss aus seiner selbstgebauten Zwille an einem denkwürdigen Spätsommertag eine in weiter Entfernung auf einem Ast sitzende Krähe getötet hat, bekommt er noch am selben Abend einen heftigen Fieberanfall, der ihn für die Dauer einer Woche besinnungslos ans Bett fesselt. Auf dem Nachhauseweg hatte er noch unter dem Baum seines fragwürdigen Triumphs plötzlich einen schwarz gekleideten Jungen stehen sehen, der ihm unverwandt hinterherblickte, bis er im Haus verschwunden war. 



Als William das Fieber glücklich überstanden hat, beginnt seine denkwürdige Karriere als völlig unbeschwert scheinendes sprichwörtliches Glückskind, dem im viktorianischen England offensichtlich alles im Leben gelingt: nicht nur fliegen ihm mühelos sämtliche Herzen seiner Mitmenschen zu, insbesondere der Frauen, auch im Beruf gelingt ihm Dank seines Fleißes und seines Einfühlungsvermögens nahezu alles. Nur wenige Jahre nachdem er als Lehrling in die Weberei seines Onkels eingetreten ist, hat er sich dort schon so unersetzlich gemacht, dass es nur eine Frage der Zeit zu sein scheint, bis er die Leitung des im Zuge der Industrialisierung aufstrebenden Betriebs übernehmen wird. Doch da beginnen in seinem persönlichen Umfeld die plötzlichen Todesfälle: seine geliebte Mutter, sein Onkel, sein Cousin. Und während der Beerdigungen fällt William immer wieder ein schwarz gekleideter Fremder auf, der ihn mit stechendem Blick aus der Ferne fixiert und ihn in zunehmendem Maße beunruhigt, doch ihm immer dann ausweicht, wenn er Mut gefasst hat, ihn zur Rede zu stellen. Allein in der Arbeit findet der aufstrebende Jungunternehmer Trost und Zuflucht, die Weberei floriert und kann sich Dank seiner fabelhaften Voraussicht gut am Markt positionieren. Er heiratet die Frau seines Herzens und sie bekommen mit den Jahren vier Kinder.

Doch auf dem Höhepunkt seines privaten und beruflichen Erfolges, bricht eine Typhusepidemie aus, der nacheinander seine jüngste Tochter, seine beiden Söhne und seine Frau zum Opfer fallen. Als auch die älteste Tochter erkrankt, betrinkt sich William bis zur Besinnungslosigkeit in der Dorfkneipe. Auf seinem nächtlichen Heimweg beobachtet er, wie der mysteriöse Mann in Schwarz den Friedhof betritt und folgt ihm. Über einer Reihe von bereits ausgehobenen Gräbern kommt es zu einem denkwürdigen Handschlag zwischen den beiden, der alles ändert. Am nächsten Morgen zeigt Williams Tochter überraschend Anzeichen der Besserung und der Unternehmer stürzt sich mit voller Energie in ein makabres Großprojekt, dem größten Kaufhaus für Trauerwaren, das es in London jemals gegeben hat.

"Was für ein Leben ich hatte!", sagte er staunend zu Black. "Ich könnte ein halbes Leben damit zubringen, einfach nur daran zu denken!"
"Erinner dich!"
Er erinnerte sich, Szene für Szene, jeden Augenblick, Glück und Kummer, Freude, Liebe und Trauer quollen aus dem Winkel hervor, in dem er sie eingemauert hatte, ein Strom aus Tagen, Stunden und Sekunden, der nicht enden wollte.
Mir ist kalt, merkte er und dachte augenblicklich daran, wie er vor vielen Jahren, in Decken gehüllt, am Kaminfeuer eines kleinen Cottage gezittert und das Gewicht seiner Tochter auf dem Schoß gespürt hatte.

Diane Setterfields ebenso virtuoser wie kenntnisreicher historischer Roman variiert das Thema der moralischen Einsicht und Umkehr, das wir aus Charles Dickens' berühmter Weihnachtsgeschichte kennen, auf höchst originelle und lebensbejahende Art und Weise. Dabei gelingt es ihr absolut meisterhaft, das verdrängte Kindheitstrauma ihres unglückseligen Protagonisten so in die Handlung und die geglückte Konstruktion ihres atemlos zu lesenden Buches einzubetten, dass in der Raben- und Vergänglichkeitssymbolik zwar deutliche Anklänge ans Phantastische bestehen bleiben, aber ohne dass diese nicht auch nüchtern und rational im Sinne einer psychologischen Umschichtung innerer Erlebnisse deutbar bleiben. „Aufstieg und Fall des Wollspinners William Bellman“ ist damit eine überaus dankbare, wenn nicht die ideale Lektüre für die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr.

„Aufstiegund Fall des Wollspinners William Bellman“, aus dem Englischen von Anke und Eberhard Kreutzer, erschienen bei Blessing, 400 Seiten, €19,99

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