Jerusalem

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Sonntag, 13. März 2016

Der passive Bürger

Anfang der 1990er Jahre hat der amerikanische Politologe Stanley Feldman für eine repräsentative Befragung innerhalb der US-Bevölkerung vier einfache, scheinbar unverfängliche Fragen entwickelt, mit deren Hilfe sehr zuverlässige Aussagen darüber getroffen werden können, wie stark innerhalb einer Gruppe von Befragten autoritäre und hierarchische Einstellungen wirksam sind:

  1. Welche dieser beiden Eigenschaften sollte ein Kind Ihrer Meinung nach haben: Unabhängigkeit oder Respekt vor Älteren?
  2. Welche dieser beiden Eigenschaften sollte ein Kind haben: Folgsamkeit oder Selbstvertrauen?
  3. Wie sollte sich ein Kind Ihrer Meinung nach verhalten: aufmerksam oder artig?
  4. Welche dieser Eigenschaften sollte ein Kind haben: Neugier oder gutes Benehmen?

Die derzeitigen Erfolge von Donald Trump in den USA, von der AfD in Deutschland oder anderen rechtspopulistischen Bewegungen in ganz Europa zeigen, wie leicht sich latent in der Bevölkerung vorhandene autoritäre und hierarchische Einstellungen von gewissenlosen Politikern aktivieren und bündeln lassen. Die indirekte, psychologisch durchdachte Fragetechnik von Professor Feldman umgeht dabei ganz bewusst die unverblümte, ohnehin kaum mit ja oder nein beantwortbare Frage: „Mögen Sie Moslems?“ – Gleichzeitig setzt er auf kongeniale Art und Weise an einem ganz entscheidenden Punkt an, der für die spätere Weltsicht eines erwachsenen Menschen entscheidende Grundlagen zu setzen vermag: die Erziehung unserer Kinder.


Raoul Hausmann: "Postkarte an Tristan Tzara" (1921)

Man braucht gedanklich nicht bis in die Zeit des Nationalsozialismus zurückzugehen, um zu dem trostlosen Eindruck zu gelangen, dass auch heute in einem großen Teil der deutschen Bevölkerung immer noch ein starker Wunsch nach hierarchischen Strukturen und übergeordneten Autoritäten vorhanden ist, der allein mit Autoritätshörigkeit oder -gläubigkeit nur ungenügend beschrieben scheint. Schon im Kindergartenalter muss ein Kind in vielen Familien lernen, dass es sich den Lebensäußerungen seiner Eltern bedingungslos unterzuordnen hat. In der Schule lernt es sich dem Lehrplan und einer standardisierten Beurteilung zu beugen und im Berufsleben wird allzu oft eine bedingungslose Loyalität zum Arbeitgeber verlangt. Natürlich erhält der willfährige Bürger auch etwas dafür zurück, das ihn in seiner Passivität bestärkt: Süßigkeiten, falsches Lob und Steuerfreibeträge.

Diese erkaufte Unterwerfung muss von außen beständig gefüttert werden, um den sonst überhand nehmenden Eindruck der Selbstverleugnung zu verdrängen. Der passive, erwartungsvolle Bürger sieht den Staat, den Arbeitgeber, den Anderen in ständiger Lieferpflicht. Aus dieser verzerrten materialistischen Perspektive heraus betrachtet, ist die bedingungslose Aufnahme von Flüchtlingen natürlich etwas Ungeheuerliches: da kommen hunderttausende von Fremden ins Land, die weder die vorherrschende jahrzehntelange Initiation der Unterwerfung unter unser hierarchisches System absolviert noch etwas für die hiesige Gesellschaft „geleistet“ haben und erhalten dennoch Leistungen vom Staat, von denen sie unter bescheidenen Verhältnissen für überschaubare Zeit ihren Lebensunterhalt bestreiten können.

Dieses unkonditionelle Gebot mitmenschlicher Nothilfe muss aus den Augen des passiven Bürgers wie eine Verhöhnung seiner antrainierten materialistisch-ritualisierten Selbstverleugnung erscheinen: wenn ein Anderer, Fremder bedingungslose Leistungen vom Staat bezieht, scheint die angenommene Bedingung der eigenen Selbstverleugnung plötzlich obsolet und er beginnt die bisherige Ordnung in Frage zu stellen. Dass dies derzeit in so massivem, zum Teil sogar radikalem Umfang geschieht, mag nicht unbedingt zu erwarten gewesen sein, vorhersehbar war es auf jeden Fall. Der Vizekanzler und Vorsitzende der SPD hat dieser neuen paradoxen Art von Sozialneid, dem Neid auf sozial schlechter Gestellte, mit seiner absurden Forderung nach einem „Solidaritätsprojekt für die deutsche Bevölkerung“als erster Politiker der etablierten Parteien Rechnung getragen: eine solche materielle Entschädigung ist genau das, was der passive Bürger vom politischen Establishment jetzt erwartet.


Christian Rohlfs: "Der Bürger" (1922)

Es scheint – und das ist eine sehr bittere Diagnose – zum momentanen Zeitpunkt fast unumgänglich, zumindest teilweise auf diese unbewusste Forderung eines nicht geringen Teils der Bevölkerung einzugehen, wenn man mittelfristig Schlimmeres verhüten will. Autoritäre Strukturen sind aber kein wirksames Gegenmittel gegen substanzlosen Sozialneid und ein diffuses kulturelles Unbehagen. Langfristig wirkungsvoller wäre ein bewusster Paradigmenwechsel innerhalb der Gesellschaft, der schon bei der liebevollen Kindererziehung ansetzt und eigenständige, selbstverantwortliche, empathische und aktive menschlichen Individuen zum Ziel hat, die in der Lage sind, sich den vielfältigen Herausforderungen des Lebens mit wachen Sinnen, menschlichem Mitgefühl und klarsichtigem Entscheidungsvermögen zu stellen. Um eine solche Veränderung der vorherrschenden Mentalität zu erreichen, braucht es vermutlich einige Generationen, deshalb sollten wir jetzt damit beginnen, die Voraussetzungen dafür zu legen.


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