Über das Wegsehen als deutsche Pflichterfüllung
Es scheint wie ein
merkwürdiges synchronistisches Event, dass Adolf Hitlers unseliges
Pamphlet mit dem martialnarzisstischen Titel „Mein Kampf“ in
Deutschland ausgerechnet jetzt zur freien Veröffentlichung
freigegeben wird, da in unserer Gesellschaft ganz ähnliche wirre
Meinungen und Vorstellungen weitgehend unwidersprochen kursieren wie
zum Zeitpunkt seiner Erstveröffentlichung im Jahr 1925. Die
vielfältigen Problemstellungen der sogenannten Flüchtlingskrise,
die ja nur ein extremes Symptom einer jahrzehntelangen verfehlten
Politik ist, können allerdings nur als eruptiver Ausbruch einer
grundsätzlich radikalen Einstellung zu bestimmten Fragen gewertet
werden, die sich über einen überschaubaren Zeitraum allmählich
herausgebildet hat, den die meisten Erwachsenen selbst miterlebt
haben, und die sich so trefflich unter dem Schlagwort „Man wird
doch mal sagen dürfen“ zusammenfassen lässt. Dabei fällt es
ausgesprochen schwer, sich nicht der zynischen Auffassung
anzuschließen, dass die Zeit offenbar wieder reif gewesen sei für
dieses Buch.
Pegida und AfD sind ohne
Zweifel ebenso ernstzunehmende Ausprägungsformen einer schweren
geistigen Krise unserer Gesellschaft wie wir sie aus unserer
vermeintlich unbelasteten, sicheren Perspektive der Nachgeborenen
auch für die Zwischenkriegszeit konstatieren müssen. Wie bei jeder
physischen oder psychischen Krankheit ist es jedoch absolut
(überlebens-)notwendig, diese wertvollen Hinweise nicht zu negieren,
sondern sie konkret zum Anlass zu nehmen, unmittelbar nach einer
angemessenen Therapie zu suchen und sich dabei immer wieder bewusst
zu machen, dass selbst der verhängnisvolle Weg in den Ersten oder
Zweiten Weltkrieg keiner unveränderlichen zwangsläufigen
Entwicklung folgte, die niemand jemals aufzuhalten die Macht hatte.
Die Floskel „Man wird doch mal sagen dürfen“ beinhaltet dabei
stets das volle Wissen des Sprechers, dass seine auf diese Weise
geäußerte Meinung keine rationale und schon gar keine objektive,
moralisch akzeptable Auffassung darstellt, sondern in der Regel die
kindlich-unreife Einstellung eines Beleidigten repräsentiert, der um
seine bequemen, als gottgegeben angesehenen Privilegien als Bürger
und Steuerzahler fürchtet.
Es spricht also viel dafür
zu behaupten, dass es angesichts der aktuellen Herausforderungen
neben eines ganzheitlichen Heilungsansatzes auch einer kurzfristigen
Behandlung der Symptome bedarf. Hitlers Buch ist ein Paradebeispiel
für „Man wird doch mal sagen dürfen“ – wobei hier dem
überforderten Leser nicht nur eine kaum zu bewältigende Liste
vermeintlicher und tatsächlicher Missstände präsentiert wird, die
zudem noch unter der unausgesprochenen Aufforderung „mach doch
selbst weiter“ zum Teil mit „usw. –„ abgekürzt werden.
Gleichzeitig installiert der zukünftige Massenmörder „den Juden“
auf besonders abscheuliche Art und Weise als willkommenes Feindbild,
das er für alle Übel der Welt verantwortlich gemacht wissen will.
Dabei gibt er dem Leser sogar einen relativ unverstellten Ausblick
darauf, wie er selbst mit diesem Feind in Zukunft zu verfahren
gedenkt. Sein Rudolf Hess während der Haft in die Schreibmaschine
diktiertes Buch als besonders aufschlussreiches Psychogramm eines
zukünftigen Diktators mit angekündigtem Massenmord war allgemein
bekannt. Die Tatsache, dass jeder Deutsche spätestens nach dem
nationalsozialistischen Wahlerfolg von 1933 über Hitlers Pläne
hätte informiert sein können, vielleicht sogar müssen, ist
erschreckend. Es ist die Philosophie des gezielten Wegsehens, solange
ein eigener Vorteil zumindest im Bereich des Möglichen liegt. Und es
ist dieselbe Einstellung, die sich später auch in der viel bemühten
Lüge äußern sollte, man habe von all dem nichts gewusst.
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Pegida-Demonstration in Dresden |
Die scharfsinnigste
Abhandlung über den späteren Diktator als Autor sowie die
Entstehungsgeschichte, Wirkung und fatale Nachwirkung seines Buches
hat der Schauspieler und Kabarettist Serdar Somuncu bereits vor 15
Jahren als Hörbuch veröffentlicht. In seiner ausdrücklich
unvollständigen Lesung (denn die vollständige Lesung war ja
verboten) wird auf kongeniale Art und Weise deutlich wie die
schleichende Implementation eines totalitaristischen Weltbildes
funktioniert. „Darf man über dieses Buch lachen?“, fragt Somuncu
gleich zu Beginn seiner Lesung und beantwortet diese angesichts der
im Buch indirekt angekündigten Verbrechen absolut naheliegende und
legitime Frage sogleich mit einem kategorischen „Nein!“. Schiebt
dann aber mit Hinweis auf die zahlreichen darin versammelten
sexuellen Zweideutigkeiten und kuriosen Tierbeispiele nach: „Aber
man kann gar nicht anders“, zum Beispiel, wenn Hitler über die
„Eier der Columbusse“ schwadroniert, die „zu Hunderttausenden“
herumliegen, oder ganz ernsthaft behauptet: „Schöpferisch tätige
Menschen sind von jeher und von Grund aus schöpferisch veranlagt,
auch wenn dies den Augen oberflächlicher Betrachter nicht
erkenntlich sein sollte“.
Somuncu, der auf einer
späteren CD auch Goebbels berüchtigte „Sportpalastrede“
treffend sezierte, ist mit seinem Programm überall auf der Welt
aufgetreten, in New York ebenso wie in Israel, auch vor deutschen
Neonazis, deren erklärtes Ziel es eigentlich war, die „Türkenlesung“
zu stören. Doch selbst die mussten am Ende lauthals lachen. Es ist
allerdings ein Lachen bitterster Erkenntnis, das dem Hörer
unweigerlich im Halse stecken bleiben muss. Während seiner
unmittelbaren Entstehungszeit hat kaum jemand dieses Buch ernst
genommen, nicht einmal die erklärten politischen Gegner der
Nationalsozialisten. Auch heute nimmt nahezu niemand die
Protagonisten von Pegida ernst. Für beides gibt oder gab es
naheliegende Gründe. Wenn es jedoch eine einfach Erkenntnis aus der
Beschäftigung mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten sowie der
Rezeptionsgeschichte von „Mein Kampf“ gibt, dann ist es die
Einsicht, dass auch ein simples, unrealistisches, aberwitziges,
leicht als falsch zu durchschauendes Weltbild von uns sehr wohl als
konkrete Gefahr ernst genommen werden muss.
Es ist ausgesprochen
leicht und verlockend, einzelne Aussagen von Pegida-Mitgliedern oder
AfD-Funktionären als absurde, kurzsichtige oder verblendete
Ausprägungen eines unrealistischen Weltbildes abzutun und der
Lächerlichkeit preiszugeben. Eine offene Auseinandersetzung mit
starren Ideologien ist immer aufwendig, da sich diese nicht auf
objektive Erfahrungen gründen, sondern allein auf zu Dogmen
geronnenen Hypothesen, die vor allem der geistigen Bequemlichkeit
ihrer Postulanten dienen. Deren mangelnde Empfänglichkeit gegenüber
sachlichen Argumenten, objektiver Vernunft und allgemeiner
menschlicher Herzensbildung macht eine Diskussion mit ihnen besonders
schwierig. Trotzdem müssen wir sie auf uns nehmen, denn ideologische
oder gar physische Abgrenzung kann immer nur ein kurzfristiger
Selbstschutz sein – als langfristige Strategie taugt sie ebenso
wenig gegen rechtes Gedankengut wie gegen den legitimen Wunsch von
Bürgerkriegsflüchtlingen auf ein menschenwürdiges Leben in
Freiheit. Tatenlosigkeit ist keine Option – Opposition muss immer
aktiv sein.
"Serdar Somuncu liest aus dem Tagebuch eines Massenmörders", erschienen bei Random House Audio,
ca. 60 Minuten, € 14,99
"Der Adolf in mir - Die Karriere einer verbotenen Idee", erschienen bei Wortartisten, 158 Seiten, € 12,95
"Der Adolf in mir - Die Karriere einer verbotenen Idee", erschienen bei Wortartisten, 158 Seiten, € 12,95
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