Jerusalem

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Montag, 4. Januar 2016

„Ein Mädchen nicht von dieser Welt“ von Aharon Appelfeld

Die Geschichte des wundersamen Überlebens zweier neunjähriger Jungen unter deutscher Verfolgung im Jahr 1944 als eine Art Märchen zu erzählen, ist ein großes literarisches Wagnis, das man einem anderen Schriftsteller als Aharon Appelfeld, dem zweifellos größten noch lebenden Chronisten der Schoah, wohl kaum verzeihen würde. Tatsächlich wiegt der mögliche (und in diesem Fall unberechtigte) Vorwurf der Verharmlosung eines singulären Verbrechens schwer, und ohne Kenntnis des bereits vorhandenen umfangreichen Gesamtwerkes des 1932 bei Czernowitz geborenen israelischen Autors, in dem dieser einer beeindruckenden Anzahl einzelner Aspekte der Verfolgung eine unvergessliche literarische Form verliehen hat, wäre ein schmaler Band wie die nun erschienene, ungewohnt hoffnungsfrohe Erzählung „Ein Mädchen nicht von dieser Welt“ kaum denkbar. Umso erstaunlicher, dass der bald Vierundachtzigjährige sein Werk nun ganz bewusst um eine scheinbar simple, sogar für junge und jüngere Leser geeignete kleine Geschichte erweitert, in der – entgegen den Erwartungen des Lesers – beinahe alles anfängliche Leid der Protagonisten zu einem positiven Ende gewendet wird.




Ein namenloses Ghetto in der Bukowina steht kurz vor der endgültigen Auflösung, die Deportation ist für den nächsten Tag angesetzt. Zwei Mütter haben unabhängig voneinander eine letzte, verzweifelte Idee, wie sie ihre beiden gleichaltrigen Söhne möglicherweise doch noch vor der schrecklich gewissen Reise ins Ungewisse bewahren können und bringen sie kurz vor Tagesanbruch jeden für sich allein in den Wald. Anders als im Märchen von Hänsel und Gretel jedoch, die nach Vorstellung ihrer Stiefmutter in der Wildnis den Tod finden sollen, ist der dichte, urwüchsige und vor allem in positiver Hinsicht unkultivierte Wald in Appelfelds Erzählung der letztmögliche Rückzugsort des Menschlichen, der in seiner reinen, unberührten Natürlichkeit – so jedenfalls der sehnliche Wunsch – vielleicht auch das unschuldige Leben der Söhne zu bewahren vermag. Hier, am glücklichen Erinnerungsort zahlreicher gemeinsamer Sonntagsspaziergänge, sollen sie bis zum Abend auf die Rückkehr der Mütter warten. Der Leser ahnt jedoch sofort, dass jene kaum bis zum Einbruch der Nacht zurückkehren werden.

Bist du sicher, dass unsere Mütter kommen und uns holen?“
Meine Mutter hält immer, was sie verspricht“, sagte Adam, „und deine Mutter bestimmt auch. Aber wir dürfen nicht vergessen, wie gefährlich es ist. Das Ghetto ist fest abgeriegelt. Die Wachtürme beobachten alles, sie leuchten mit starken Scheinwerfern. Und die meisten Kellerausgänge sind bewacht.“
Seit dem Krieg hat sich alles verändert“, sagte Thomas mit einer Stimme wie ein Erwachsener.
Unsere Eltern haben sich nicht verändert“, entgegnete Adam. „Sie waren unsere Eltern und werden immer unsere Eltern bleiben.“ Er wunderte sich über seine eigenen Worte.

Schon hier, zu Beginn seiner Erzählung arbeitet Appelfeld sehr kunstvoll heraus, was während der gesamten Lektüre stets unausgesprochen im Leser mitschwingen wird. Wie schwer muss den verzweifelten Müttern ihre bittere Lüge gefallen sein, bis zum Abend zurück zu sein! Ihre verständliche Befürchtung auch, die wir in uneingeschränkter Empathie mit ihnen teilen, dass der zärtliche Abschied unter der Eiche möglicherweise die unwiderruflich letzte Erinnerung der beiden Jungen an ihre Mütter sein wird – und auch die letzte Erinnerung der Mütter an ihre Kinder: schon hier unzählbares Leid – heilbar vielleicht allein durch ein späteres Wiedersehen im ungewissen Frieden, auf den man zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr als hoffen kann. Es ist offensichtlich: der Autor darf selbst im oberflächlichen erwachsenen Leser ein umfangreiches Vorwissen über jüdische Lebensläufe innerhalb der Schoah voraussetzen, das ihn während des gesamten Verlaufs der Lektüre kaum auf ein glückliches Ende hoffen lassen wird.  


Im Dickicht/Foto: Steven Brown


Am Ende des ersten Tages im Wald begegnen sich die beiden Jungen und erkennen in sich ehemalige Schulkameraden aus der Zeit der ersten und zweiten Klasse – damals, als es noch Kindheit, Familie und Schule gab. Adam ist ein praktisch veranlagter, unbekümmerter Junge, der in den letzten Monaten schwere Arbeiten verrichtet hat, um seine Eltern zu unterstützen, während der wohlerzogene Thomas, Sohn eines Gymnasiallehrers, ein weltfremder Denker und Träumer ist, der sich im Elternhaus bis zuletzt mit Denkaufgaben und Schachrätseln beschäftigt hat. Als vom Autor bewusst so konzipierte charakterliche Gegenpole ergänzen sich die beiden perfekt und wachsen im Verlauf ihres Abenteuers zu echten Schicksalsbrüdern zusammen. Und indem jeder der beiden unablässig vom anderen lernt, führt uns Appelfeld unaufdringlich vor Augen, dass für das Überleben an diesem außergewöhnlichen Ort beide Charaktereigenschaften notwendig sind. Was bewahrt einen Menschen davor aufzugeben? Was hält ihn am Leben, wenn die Vorräte ausgehen? Welche Früchte und Wurzeln sind essbar? Wie kann man auch einen bitterkalten Winter im Wald überleben? Und was ist eigentlich Hoffnung?

Sie saßen am Bach blickten in das klare Wasser und schwiegen.
Der Bach ist ein lebendiges Wesen“, sagte Adam schließlich.
Willst du damit sagen, dass der Bach uns am Leben erhält?“
Nein, das meine ich nicht. Es ist schön anzusehen, wie das Wasser glitzert und sich bewegt. Die Augen genießen den Anblick des Wassers, und das Herz wird froh.“
Seltsam“, sagte Thomas.
Was ist daran seltsam?“
Mein Vater sagt immer, wir müssten von allen Dingen lernen. Aber was können wir vom Wasser lernen?“
Das ist schwer zu erklären. Wenn du gern zuschaust, wie das Wasser fließt, wirst du auch gern einen schlafenden Hund betrachten“, sagte Adam, und beide lachten.

Am ersten Abend im Wald teilen die beiden Jungen ihre Vorräte brüderlich miteinander und schlafen gemeinsam im Moos. Keiner von ihnen will zu Diana gehen, der mürrischen alten Haushaltshilfe von Adams Mutter, die gegen einen ins Futter des Mantels eingenähten Goldreif Unterschlupf gewähren soll. Schon am nächsten Tag beginnen sie, sich ein Baumhaus zu bauen, das sie von Woche zu Woche noch perfektionieren. Als nachts immer wieder in wilder Flucht Menschen unter ihrem Baum vorbeihetzen, sie immer häufiger auch Gewehrschüsse hören, ziehen sie tiefer in den Wald und später noch weiter ins Dickicht, wo sie sich einen neuen Unterschlupf bauen. Als der Herbst beginnt, legt ihnen ein Fremder, den sie bei ihren Erkundungsspaziergängen getroffen haben, Nahrungsmittel und eine Schutzplane unter einen Baum. Und dann begegnen sie ganz unverhofft ihrem persönlichen „Engel“ – einem „Mädchen, nicht von dieser Welt“, einer ehemaligen Schulkameradin, die von einem Bauern versteckt wird. Sie ist diejenige, die unter großer persönlicher Gefahr und Erduldung regelmäßiger Schläge die beiden Jungen mit ihren regelmäßigen unverhofften Lebensmittelgaben am Leben erhält.


Lichtblick/Foto: Rosa-Maria Rinkl


Als man in der Ferne bereits den Kanonendonner der Roten Armee hört, beginnt der Winter mit unerbittlicher Härte. Wäre nicht mittlerweile auf wundersame Art und Weise Adams Hund zu den beiden Jungen gestoßen, der sie nachts mit seinem Körper wärmt, hätten sie die erste Winterwoche nicht überstanden. Doch dann wird es noch kälter, und es hört einfach nicht auf zu schneien. Schließlich flüchtet sich auch das von den Schlägen ihres Retters zerschundene Mädchen zu den beiden Jungen. Die Lage der drei scheint endgültig hoffnungslos. Frierend liegen sie gemeinsam im Baumhaus und möchten am liebsten dem Drang nachgeben einzuschlafen. Doch da wird der Hund unruhig, fängt an zu bellen und springt aus dem Versteck. Was dann passiert, erinnert an den Traum des Mädchens mit den Schwefelhölzern aus Hans Christian Andersens berühmtem Kunstmärchen, denn die folgenden Ereignisse scheinen buchstäblich „zu schön für diese Welt“, und der Leser befürchtet bis zum Schluss, dass sich auch die Schlusswendung von Appelfelds Erzählung letztlich nur als schöner Traum vor dem Erfrieren entpuppt.

Adams Mutter sagte: „Wer hat unsere Kinder nur in diesem harten Winter beschützzt?“
Unsere Kinder sind vernünftig, sie selbst haben auf sich aufgepasst“, sagte Thomas' Mutter.
Adam wollte fragen, wo sein Vater und seine Großeltern waren, aber er schwieg. Tief im Herzen wusste er, dass es nicht der richtige Zeitpunkt für Fragen war.

Aharon Appelfeld ist mit seiner kleinen, märchenhaften Erzählung das eindrucksvolle Kunststück einer scheinbar konventionellen Abenteuergeschichte mit Happy End gelungen, in der trotz des wunderbaren Handlungsverlaufs stets deutlich der Schatten des „was wäre, wenn es böse ausginge“ mitschwingt. Diese im Leser stets präsente zweite Dimension der Handlung, die wir leider für ein Holocaust-Schicksal eher als symptomatisch annehmen müssen als das von uns herbeigesehnte glückliche Überleben der beiden Jungen im Wald, macht den möglichen Vorwurf der Simplifizierung oder Verharmlosung letztlich vollkommen unsinnig. Natürlich muss es trotz der unfassbaren Zahl von sechs Millionen Ermordeten immer auch möglich sein, einen alternativen Lebenslauf vollständig auszuerzählen, der die Verfolgung durch Nazi-Deutschland erfolgreich besteht: auch Rettung durch fremde Hilfe oder eigene Kraft war bekanntermaßen möglich. Appelfeld gelingt es auf selten dagewesene Art und Weise diese beiden Alternativen gleichzeitig zu erzählen, mit einer furchtbaren, unterschwelligen Suggestionskraft, wie wir sie sonst tatsächlich fast nur aus dem Märchen kennen.


Aharon Appelfeld/Foto: Marianne Fleitmann

Trotzdem bleibt der Autor stets im Bereich des objektiv Möglichen. Das für unsere Begriffe „Normale“, „Wünschenswerte“, „Menschliche“, scheint in seiner Erzählung nur deswegen wunderbar, exotisch und märchenhaft, weil es zuvor von den Nationalsozialisten willkürlich zur Ausnahme erklärt worden ist: als ausdrücklich und unter Strafandrohung nicht anwendbar auf Juden. Nur der dichte, von Menschenhand – und Menschengeist – unberührte Wald, auch als Symbol des Unbewussten sowie als unveränderlicher reiner Kern alles Menschlichen, vermag das unschuldige Leben zu bewahren und zu erneuern, damit es schließlich gestärkt und mit neuer innerer Kraft und neuem Bewusstsein aus dem Schatten hervortritt, um sich den Herausforderungen seiner Existenz zu stellen: das ist der unterschwellige Konsens des Unerzählten in Appelfelds Geschichte wie im klassischen Märchen. Nur die von den beiden gegensätzlichen Jungen repräsentierte Dualität aus Intellekt und Lebenskraft kann das von den Nationalsozialisten geschaffene Chaos in der äußeren Welt beseitigen. (Nicht zufällig heißt der eine Junge Adam, wie der erste und einzige Mensch, und der andere Thomas, was sich vom aramäischen Wort „Te'oma“=Zwilling ableitet.) Es ist leicht Appelfelds scheinbar simple Erzählung zu unterschätzten. Als gelungene Variation seines Lebensthemas fügt sie sich wunderbar in sein Gesamtwerk ein.

„Ein Mädchen, nicht von dieser Welt“, aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, erschienen bei Rowohlt Berlin, € 18,-


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