Die Geschichte des
wundersamen Überlebens zweier neunjähriger Jungen unter deutscher
Verfolgung im Jahr 1944 als eine Art Märchen zu erzählen, ist ein
großes literarisches Wagnis, das man einem anderen Schriftsteller
als Aharon Appelfeld, dem zweifellos größten noch lebenden
Chronisten der Schoah, wohl kaum verzeihen würde. Tatsächlich wiegt
der mögliche (und in diesem Fall unberechtigte) Vorwurf der
Verharmlosung eines singulären Verbrechens schwer, und ohne Kenntnis
des bereits vorhandenen umfangreichen Gesamtwerkes des 1932 bei
Czernowitz geborenen israelischen Autors, in dem dieser einer
beeindruckenden Anzahl einzelner Aspekte der Verfolgung eine
unvergessliche literarische Form verliehen hat, wäre ein schmaler
Band wie die nun erschienene, ungewohnt hoffnungsfrohe Erzählung
„Ein Mädchen nicht von dieser Welt“ kaum denkbar. Umso
erstaunlicher, dass der bald Vierundachtzigjährige sein Werk nun
ganz bewusst um eine scheinbar simple, sogar für junge und jüngere
Leser geeignete kleine Geschichte erweitert, in der – entgegen den
Erwartungen des Lesers – beinahe alles anfängliche Leid der
Protagonisten zu einem positiven Ende gewendet wird.
Ein namenloses Ghetto in
der Bukowina steht kurz vor der endgültigen Auflösung, die
Deportation ist für den nächsten Tag angesetzt. Zwei Mütter haben
unabhängig voneinander eine letzte, verzweifelte Idee, wie sie ihre
beiden gleichaltrigen Söhne möglicherweise doch noch vor der
schrecklich gewissen Reise ins Ungewisse bewahren können und bringen
sie kurz vor Tagesanbruch jeden für sich allein in den Wald. Anders
als im Märchen von Hänsel und Gretel jedoch, die nach Vorstellung
ihrer Stiefmutter in der Wildnis den Tod finden sollen, ist der
dichte, urwüchsige und vor allem in positiver Hinsicht unkultivierte
Wald in Appelfelds Erzählung der letztmögliche Rückzugsort des
Menschlichen, der in seiner reinen, unberührten Natürlichkeit –
so jedenfalls der sehnliche Wunsch – vielleicht auch das
unschuldige Leben der Söhne zu bewahren vermag. Hier, am glücklichen
Erinnerungsort zahlreicher gemeinsamer Sonntagsspaziergänge, sollen
sie bis zum Abend auf die Rückkehr der Mütter warten. Der Leser
ahnt jedoch sofort, dass jene kaum bis zum Einbruch der Nacht
zurückkehren werden.
„Bist du sicher, dass
unsere Mütter kommen und uns holen?“
„Meine Mutter hält
immer, was sie verspricht“, sagte Adam, „und deine Mutter
bestimmt auch. Aber wir dürfen nicht vergessen, wie gefährlich es
ist. Das Ghetto ist fest abgeriegelt. Die Wachtürme beobachten
alles, sie leuchten mit starken Scheinwerfern. Und die meisten
Kellerausgänge sind bewacht.“
„Seit dem Krieg hat
sich alles verändert“, sagte Thomas mit einer Stimme wie ein
Erwachsener.
„Unsere Eltern haben
sich nicht verändert“, entgegnete Adam. „Sie waren unsere Eltern
und werden immer unsere Eltern bleiben.“ Er wunderte sich über
seine eigenen Worte.
Schon hier, zu Beginn
seiner Erzählung arbeitet Appelfeld sehr kunstvoll heraus, was
während der gesamten Lektüre stets unausgesprochen im Leser
mitschwingen wird. Wie schwer muss den verzweifelten Müttern ihre
bittere Lüge gefallen sein, bis zum Abend zurück zu sein! Ihre
verständliche Befürchtung auch, die wir in uneingeschränkter
Empathie mit ihnen teilen, dass der zärtliche Abschied unter der
Eiche möglicherweise die unwiderruflich letzte Erinnerung der beiden
Jungen an ihre Mütter sein wird – und auch die letzte Erinnerung
der Mütter an ihre Kinder: schon hier unzählbares Leid – heilbar
vielleicht allein durch ein späteres Wiedersehen im ungewissen
Frieden, auf den man zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr als
hoffen kann. Es ist offensichtlich: der Autor darf selbst im
oberflächlichen erwachsenen Leser ein umfangreiches Vorwissen über
jüdische Lebensläufe innerhalb der Schoah voraussetzen, das ihn
während des gesamten Verlaufs der Lektüre kaum auf ein glückliches
Ende hoffen lassen wird.
Im Dickicht/Foto: Steven Brown |
Am Ende des ersten Tages
im Wald begegnen sich die beiden Jungen und erkennen in sich
ehemalige Schulkameraden aus der Zeit der ersten und zweiten Klasse –
damals, als es noch Kindheit, Familie und Schule gab. Adam ist ein
praktisch veranlagter, unbekümmerter Junge, der in den letzten
Monaten schwere Arbeiten verrichtet hat, um seine Eltern zu
unterstützen, während der wohlerzogene Thomas, Sohn eines
Gymnasiallehrers, ein weltfremder Denker und Träumer ist, der sich
im Elternhaus bis zuletzt mit Denkaufgaben und Schachrätseln
beschäftigt hat. Als vom Autor bewusst so konzipierte charakterliche
Gegenpole ergänzen sich die beiden perfekt und wachsen im Verlauf
ihres Abenteuers zu echten Schicksalsbrüdern zusammen. Und indem
jeder der beiden unablässig vom anderen lernt, führt uns Appelfeld
unaufdringlich vor Augen, dass für das Überleben an diesem
außergewöhnlichen Ort beide Charaktereigenschaften notwendig sind.
Was bewahrt einen Menschen davor aufzugeben? Was hält ihn am Leben,
wenn die Vorräte ausgehen? Welche Früchte und Wurzeln sind essbar?
Wie kann man auch einen bitterkalten Winter im Wald überleben? Und
was ist eigentlich Hoffnung?
Sie saßen am Bach
blickten in das klare Wasser und schwiegen.
„Der Bach ist ein
lebendiges Wesen“, sagte Adam schließlich.
„Willst du damit
sagen, dass der Bach uns am Leben erhält?“
„Nein, das meine ich
nicht. Es ist schön anzusehen, wie das Wasser glitzert und sich
bewegt. Die Augen genießen den Anblick des Wassers, und das Herz
wird froh.“
„Seltsam“, sagte
Thomas.
„Was ist daran
seltsam?“
„Mein Vater sagt
immer, wir müssten von allen Dingen lernen. Aber was können wir vom
Wasser lernen?“
„Das ist schwer zu
erklären. Wenn du gern zuschaust, wie das Wasser fließt, wirst du
auch gern einen schlafenden Hund betrachten“, sagte Adam, und beide
lachten.
Am ersten Abend im Wald
teilen die beiden Jungen ihre Vorräte brüderlich miteinander und
schlafen gemeinsam im Moos. Keiner von ihnen will zu Diana gehen, der
mürrischen alten Haushaltshilfe von Adams Mutter, die gegen einen
ins Futter des Mantels eingenähten Goldreif Unterschlupf gewähren
soll. Schon am nächsten Tag beginnen sie, sich ein Baumhaus zu
bauen, das sie von Woche zu Woche noch perfektionieren. Als nachts
immer wieder in wilder Flucht Menschen unter ihrem Baum vorbeihetzen,
sie immer häufiger auch Gewehrschüsse hören, ziehen sie tiefer in
den Wald und später noch weiter ins Dickicht, wo sie sich einen
neuen Unterschlupf bauen. Als der Herbst beginnt, legt ihnen ein
Fremder, den sie bei ihren Erkundungsspaziergängen getroffen haben,
Nahrungsmittel und eine Schutzplane unter einen Baum. Und dann
begegnen sie ganz unverhofft ihrem persönlichen „Engel“ –
einem „Mädchen, nicht von dieser Welt“, einer ehemaligen
Schulkameradin, die von einem Bauern versteckt wird. Sie ist
diejenige, die unter großer persönlicher Gefahr und Erduldung
regelmäßiger Schläge die beiden Jungen mit ihren regelmäßigen
unverhofften Lebensmittelgaben am Leben erhält.
Lichtblick/Foto: Rosa-Maria Rinkl |
Als man in der Ferne
bereits den Kanonendonner der Roten Armee hört, beginnt der Winter
mit unerbittlicher Härte. Wäre nicht mittlerweile auf wundersame
Art und Weise Adams Hund zu den beiden Jungen gestoßen, der sie
nachts mit seinem Körper wärmt, hätten sie die erste Winterwoche
nicht überstanden. Doch dann wird es noch kälter, und es hört
einfach nicht auf zu schneien. Schließlich flüchtet sich auch das
von den Schlägen ihres Retters zerschundene Mädchen zu den beiden
Jungen. Die Lage der drei scheint endgültig hoffnungslos. Frierend
liegen sie gemeinsam im Baumhaus und möchten am liebsten dem Drang
nachgeben einzuschlafen. Doch da wird der Hund unruhig, fängt an zu
bellen und springt aus dem Versteck. Was dann passiert, erinnert an
den Traum des Mädchens mit den Schwefelhölzern aus Hans Christian
Andersens berühmtem Kunstmärchen, denn die folgenden Ereignisse
scheinen buchstäblich „zu schön für diese Welt“, und der Leser
befürchtet bis zum Schluss, dass sich auch die Schlusswendung von
Appelfelds Erzählung letztlich nur als schöner Traum vor dem
Erfrieren entpuppt.
Adams Mutter sagte:
„Wer hat unsere Kinder nur in diesem harten Winter beschützzt?“
„Unsere Kinder sind
vernünftig, sie selbst haben auf sich aufgepasst“, sagte Thomas'
Mutter.
Adam wollte fragen, wo
sein Vater und seine Großeltern waren, aber er schwieg. Tief im
Herzen wusste er, dass es nicht der richtige Zeitpunkt für Fragen
war.
Aharon Appelfeld ist mit
seiner kleinen, märchenhaften Erzählung das eindrucksvolle
Kunststück einer scheinbar konventionellen Abenteuergeschichte mit
Happy End gelungen, in der trotz des wunderbaren Handlungsverlaufs
stets deutlich der Schatten des „was wäre, wenn es böse ausginge“
mitschwingt. Diese im Leser stets präsente zweite Dimension der
Handlung, die wir leider für ein Holocaust-Schicksal eher als
symptomatisch annehmen müssen als das von uns herbeigesehnte
glückliche Überleben der beiden Jungen im Wald, macht den möglichen
Vorwurf der Simplifizierung oder Verharmlosung letztlich vollkommen
unsinnig. Natürlich muss es trotz der unfassbaren Zahl von sechs
Millionen Ermordeten immer auch möglich sein, einen alternativen
Lebenslauf vollständig auszuerzählen, der die Verfolgung durch
Nazi-Deutschland erfolgreich besteht: auch Rettung durch fremde Hilfe
oder eigene Kraft war bekanntermaßen möglich. Appelfeld gelingt es
auf selten dagewesene Art und Weise diese beiden Alternativen
gleichzeitig zu erzählen, mit einer furchtbaren, unterschwelligen
Suggestionskraft, wie wir sie sonst tatsächlich fast nur aus dem
Märchen kennen.
Aharon Appelfeld/Foto: Marianne Fleitmann |
Trotzdem bleibt der Autor
stets im Bereich des objektiv Möglichen. Das für unsere Begriffe
„Normale“, „Wünschenswerte“, „Menschliche“, scheint in
seiner Erzählung nur deswegen wunderbar, exotisch und märchenhaft,
weil es zuvor von den Nationalsozialisten willkürlich zur Ausnahme
erklärt worden ist: als ausdrücklich und unter Strafandrohung nicht
anwendbar auf Juden. Nur der dichte, von Menschenhand – und
Menschengeist – unberührte Wald, auch als Symbol des Unbewussten
sowie als unveränderlicher reiner Kern alles Menschlichen, vermag
das unschuldige Leben zu bewahren und zu erneuern, damit es
schließlich gestärkt und mit neuer innerer Kraft und neuem
Bewusstsein aus dem Schatten hervortritt, um sich den
Herausforderungen seiner Existenz zu stellen: das ist der
unterschwellige Konsens des Unerzählten in Appelfelds Geschichte wie
im klassischen Märchen. Nur die von den beiden gegensätzlichen
Jungen repräsentierte Dualität aus Intellekt und Lebenskraft kann
das von den Nationalsozialisten geschaffene Chaos in der äußeren
Welt beseitigen. (Nicht zufällig heißt der eine Junge Adam, wie der
erste und einzige Mensch, und der andere Thomas, was sich vom
aramäischen Wort „Te'oma“=Zwilling ableitet.) Es ist leicht
Appelfelds scheinbar simple Erzählung zu unterschätzten. Als
gelungene Variation seines Lebensthemas fügt sie sich wunderbar in
sein Gesamtwerk ein.
„Ein Mädchen, nicht von dieser Welt“, aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, erschienen
bei Rowohlt Berlin, € 18,-
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