Ein Tagtraum
Was für eine spannende
Geschichte: drei weise Männer folgen der Bahn eines Himmelskörpers
in ein fremdes Land, um die Geburt eines Kindes zu bezeugen, das laut
ihrer gemeinsamen, der Reise zugrunde liegenden Vision mit besonderen
Fähigkeiten ausgestattet sein soll und dem es möglicherweise
vorherbestimmt sei, die Menschheit zu erlösen. Die Geschichte von
der Geburt Jesu ist allgemein bekannt, die Evangelisten haben sich in
ihrer Chronik der wundersamen Vorgänge mit Blick auf die
alttestamentarischen Prophezeiungen ganz offensichtlich bemüht,
Jesus als legitimen Erfüller der abstrakten messianischen
Heilserwartung des Judentums zu identifizieren. Was aber wissen wir
über jene drei* „Magier“ (Μάγοι ἀπό
ἀνατολών)
die die spätere christliche Überlieferung zu „heiligen drei
Königen“ gemacht hat, und die Martin Luther später durchaus
visionär als „drei Weise aus dem Morgenland“ übersetzte?
Leonaert Bramer: Reise der Heiligen Drei Könige nach Bethlehem |
Gerade in der
Konzentration der Evangelisten auf die zahlreichen Details zur
Erfüllung der biblischen Prophezeiungen wird deutlich, welche Rolle
die jüdische Kultur als Keimzelle der neuen Religion spielt, auch
wenn sie nun durch den neuen Glauben letztlich überwunden werden
soll. Gleichzeitig offenbart die wenig präzise Bezeichnung „Magier
aus dem Osten“ aber auch eine erschütternde Unkenntnis dessen, was
außerhalb der engen Grenzen der eigenen, vermeintlicherweise
einzigartigen Kultur vor sich geht. Die Bezeichnung „Magier aus dem
Osten“ birgt ohne Zweifel ein vom Autor beabsichtigtes Geheimnis,
oder soll durch seine Verwendung nur die eigene Unkenntnis verdeckt
werden? Streng genommen ist „der Osten“ ein sehr weitläufiger
Begriff, der nicht viel mehr als eine Himmelrichtung anzeigt – für
einen in der alten Bundesrepublik Deutschland sozialisierten Menschen
konnte er so Undenkbares wie die DDR oder – noch schlimmer – die
Sowjetunion bedeuten.
Nicht wenige Altphilologen
und Theologen vertreten die Ansicht, dass der Evangelist Matthäus
auch die alternative Wortbedeutung des Griechischen Μάγοι
gemeint haben könnte, nämlich „Mager“, also Zoroastrier. Da aus
der Perspektive des antiken Mittelmeerraums Zoroastrier aber
grundsätzlich aus dem Osten kamen, nämlich aus Persien, Nordindien
oder Afghanistan, scheint diese Verwendung allerdings höchstens als
sprachliches Stilmittel der Dopplung und Steigerung des grundsätzlich
Fremden nachvollziehbar. Persien scheint von Palästina nicht so weit
entfernt, als dass es ein zeitgenössischer Autor, der sich noch dazu
der griechischen Sprache bedient, nicht entsprechend hätte benennen
können. Es ist also wahrscheinlicher, dass ein weiter entfernter,
noch geheimnisvollerer, dem antiken Autor gänzlich unbekannter Osten
gemeint ist.
Es ist absolut
bemerkenswert, wie viel Mühe die Evangelisten darauf verwenden,
Jesus als rechtmäßigen Messias zu legitimieren. Dass drei Weise
oder gar Magier aus dem Osten aufgrund einer Vision zu seiner Geburt
anreisen, will zu diesem Zweck nicht so richtig passen. Wäre es da
der Prophezeiung nicht dienlicher, es würden Vertreter der
verlorenen Stämme Israels anreisen, um den künftigen Messias zu
salben? Dennoch scheint die Episode mit den Μάγοι zu
bedeutsam, um sie einfach wegzulassen, zeigt sie doch, dass selbst
gelehrte Vertreter einer anderen Kultur durch göttliche Eingebung
von der Geburt eines künftigen Erlösers der Menschheit erfahren
haben und dessen zukünftige Bedeutung bereitwillig anerkennen.
Handelt es sich hier womöglich um eine versteckte Legitimierung der
Überwindung des Judentums hin zu einer neuen Religion, die auch in
viel stärkerem Maße eine nichtjüdische Anhängerschaft anziehen
möchte?
Lamas in Rot/Buchillustration, ca. 1920 |
Aus heutiger Sicht scheint
es unvorstellbar, dass sich jemand aufgrund eines Traums oder einer
Vision allein auf den Weg macht, um bei der Geburt eines fremden
Kindes dabei zu sein, noch dazu aus einer so weit entfernten Region,
dass sämtliche Menschen, denen er unterwegs begegnen wird, von
seiner Heimat möglicherweise noch nie gehört haben werden. Eine so
weite Pilgerreise würde ein heutiger Mensch höchstens einem von ihm
verehrten Popstar zuliebe auf sich nehmen, aber wohl kaum schon zu
dessen Geburt: der künftige Liebling der Massen muss sein Talent ja
erst noch unter Beweis stellen. Dennoch gibt es noch heute eine
spezifische Ausprägung einer großen Weltreligion, die auch in
unserer Zeit noch auf ganz ähnliche Art und Weise auf die Suche nach
neugeborenen Kindern als Neuverkörperungen ihrer verstorbenen
spirituellen Führer geht: der tibetische Buddhismus setzt
unmittelbar nach dem Tod des Dalai Lama oder des Panchen Lama
Suchkommissionen aus hohen Würdenträgern ein, um deren neueste
Inkarnationen ausfindig zu machen und entsprechend zu fördern.
Der Osten als mystisches
„Morgenland“ ist voller wundersamer Geschichten, aber schon in
der Antike sorgten gut ausgebaute Karawanenwege für einen regen
Austausch. Obwohl die Paschtunen Afghanistans bis heute alles
spezifisch Jüdische aufgrund ihres islamischen Glaubens ablehnen,
leiteten sie sich noch im 18. Jahrhundert wie selbstverständlich von
einem der verlorenen jüdischen Stämme her – eine Theorie, die im
kolonialen England viel diskutiert wurde, aber hierzulande bis heute
kaum bekannt ist. Es kursieren außerdem Theorien, nach denen Jesus
als junger Mann, bevor er in Palästina zu predigen begann, Indien
besuchte, wo er mit dem Buddhismus in Berührung gekommen sein soll.
Buddhistische Quellen erwähnen in diesem Zusammenhang einen
bestimmten Bodhisattva, der die fünfte Reinkarnation Buddhas gewesen
sei und der mit seinen Lehren den späten Buddhismus beeinflusst
habe. Einer jüngeren Überlieferung der muslimischen
Ahmadiyya-Gemeinschaft zufolge sei Jesus sogar nach seiner Kreuzigung
nach Kaschmir geflohen, wo er als Yuz-Asaf im sogenannten
Roza-Bal-Schrein in Srinagar beerdigt sei, der bis heute besucht
werden kann.
Unabhängig von ihrem
historischen Wahrheitsgehalt, den wir niemals werden ergründen
können, sind das alles ohne jeden Zweifel absolut prächtige
Geschichten, die ganz offensichtlich erzählt werden wollen.
Folgerichtig hat der indische Bestsellerautor Ashwin Sanghi unter dem
Titel „The Rozabal Line“ daraus im Jahr 2007 einen spannenden
Thriller im Stile Dan Browns konstruiert, dem auch international
kommerzieller Erfolg und Kritikerlob beschieden war. Die Suche nach
verborgenen Verbindungslinien zwischen einzelnen physischen
Erscheinungsformen, die möglicherweise die Macht haben, das
Unfertige und Trennende im Leben zu überwinden und uns zu einem
Gefühl der Einheit mit uns und unserer Umwelt zu führen, ist ein
natürliches menschliches Streben, dem wir uns offensichtlich nicht
entziehen können, auch wenn uns jede scheinbare Erkenntnis oft allzu
schnell immer wieder zu entgleiten vermag. Die Grenzen zwischen
heilsamer Imagination, Esoterik und Verschwörungstheorie sind
allerdings erschreckend fragil, deshalb müssen wir uns immer aktiv
vor Augen führen, dass es sich dabei immer nur um Geschichten
handelt.
Leonaert Bramer: Anbetung der Heiligen Drei Könige |
Der Zweck einer Geschichte
aber kann – losgelöst von so dehnbaren Begriffen wie Sinn und
Moral – auch allein darin bestehen, dass sie einfach nur erzählt
und gehört wird. In dieser Hinsicht ist das überraschende Bild von
drei lächelnden tibetischen Mönchen an der Krippe im Stall von
Bethlehem ein ausgesprochen tröstliches, da es auf unkonventionelle,
aber überzeugende Art und Weise der wunderbaren Vorstellung Ausdruck
verleiht, dass hier nicht eine neue Religion als Prinzip zukünftiger
Trennung entsteht, sondern ein vermeintlich Neues bereits im Werden
von einem älteren Prinzip erkannt und als gegenwärtige
Erscheinungsform eines ewigen Kreislaufes umschlossen wird, der sich
beständig immer wieder erneuern muss, ohne sich in seiner Substanz
und seinem Wesen zu verändern. An diesem Punkt wäre alle
Spekulation über historische Fakten oder religiöse Wahrheit
vollkommen überflüssig geworden, denn die drei Μάγοι
wären hier fündig geworden und hätten ihre visionäre, in der Tat
magische Aufgabe erfüllt.
* In der Bibel wird die genaue Anzahl der Μάγοι nicht genannt.