Jerusalem

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Sonntag, 20. September 2015

„Winterpferde“ von Philip Kerr

Pferde, zumal Wildpferde, sind neben ihrer offensichtlichen physischen Eigenschaft als hochentwickelte Säugetiere von unbestreitbarer natürlicher Schönheit und Eleganz gleichzeitig seit Alters her auch vitale Symbole für die Unschuld eines urtümlichen, ungeteilten Lebens, das sich selbst genügt und nichts anderes wünscht als im Einklang mit sich und seiner Umwelt zu existieren. Es scheint also kein Zufall, dass uns die prähistorischen Pferdebilder in den steinzeitlichen Höhlen Südfrankreichs, Italiens oder Nordspaniens intuitiv ansprechen und bis heute faszinieren. Philip Kerr, der Schöpfer der international erfolgreichen und vielfach ausgezeichneten Berlin-Noir-Reihe um den subversiven Privatdetektiv und Ex-Kriminalpolizisten Bernie Gunter im unfreiwilligen Einsatz für unterschiedliche Nazibehörden an verschiedenen authentischen Kriegsschauplätzen, hat bei Recherchen zum bislang letzten Band der Reihe in der Ukraine einige dankbare, historisch gut dokumentierte Motive gefunden, die er nun auf durchaus spekulative, aber reizvolle Art und Weise zu einem packenden Jugendbuch verarbeitet hat, das auf ebenso mitreißende wie plausible Art und Weise die ewig junge Frage nach sozialer Verantwortung und menschlichem Mitgefühl stellt.




Seine unwiderstehliche junge Protagonistin, das vierzehnjährige Waisenmädchen Kalyna (Kalinka genannt), ist dank des umsichtigen, uneigennützigen Handelns einer fremden Ukrainerin dem bevorstehenden Massaker der SS an der jüdischen Bevölkerung ihrer Heimatstadt Dnipropetrowsk entgangen, dem anschließend allerdings ihre gesamte unmittelbare Familie zum Opfer gefallen ist, und hat auf ihrer abenteuerlichen Flucht allein fast 350 Kilometer zu Fuß durch ihre von den Deutschen besetzte Heimat zurückgelegt. Dabei hat sie auf schmerzvolle Art und Weise gelernt, dass sie keinem Menschen trauen darf, so freundlich er sich ihr gegenüber auch verhalten mag. Im bitterkalten Winter des Jahres 1941/42, der mit dem unter schweren Verlusten erkämpften sowjetischen Sieg von Stalingrad eine geschichtsträchtige entscheidende Zäsur im Kriegsverlauf erleben sollte, erreicht das mutige Mädchen schließlich das Naturschutzgebiet Askania-Nowa in der Südukraine, wo es trotz der dauerhaften Quartiernahme einer SS-Einsatzgruppe in den herrschaftlichen Verwaltungsgebäuden des weitläufigen Areals bei dem in einer einsamen Hütte lebenden alten Tierwärter Max vorübergehend Schutz und Unterschlupf findet.

Er sah ein Mädchen von vierzehn oder fünfzehn Jahren. Sie war groß und kräftig, aber sehr dünn, hatte langes schmutzig braunes Haar und sah so ängstlich aus wie ein Kaninchen in der Falle. In einer solchen Nacht musste man sich über jeden Bewohner wundern, besonders über ein junges Mädchen, aber noch erstaunlicher war die Tatsache, dass es von zwei Przewalski-Pferden begleitet wurde. Sie standen links und rechts von ihr und schützten das Mädchen mit ihren dicken Körpern vor dem Nordostwind. […] Obwohl sie mit Schnee bedeckt waren, erkannte Max sofort den Leithengst Temüdschin und seine beste Stute Börte.

Die geschichtlich verbürgte, international bekannte Hauptattraktion des durch die Kriegsereignisse vernachlässigten Tierparks ist das von dem Gründer Askania-Nowas, dem deutschstämmigen Großgrundbesitzer Friedrich von Falz-Fein (1863-1920), ins Leben gerufene einzigartige Zuchtprojekt wild lebender Przewalski-Pferde, der einzigen bis heute existierenden originären Wildpferdeart, die erst 1878 von der westlichen Wissenschaft entdeckt wurde, als sie in ihrer zentralasiatischen Heimat bereits kurz vor der Ausrottung stand. Sämtliche lebende Bestände von Przewalski-Pferden in Zoos und Auswilderungsgebieten auf der ganzen Welt stammen heute direkt von Exemplaren aus dieser Zuchtlinie ab, ihre Physiognomie weist eine verblüffende Ähnlichkeit zu den prähistorischen Höhlenbildern von Lascaux oder Altamtira auf. Die lebensfeindliche Nazi-Ideologie jedoch betrachtete die im Vergleich zum domestizierten Hauspferd augenfällig kleineren und außerdem deutlich aggressiveren Przewalski-Pferde als regelrechte „Unterpferde“, wie es Kerr in gewohnt ausgefeilten Dialogen dem diabolischen SS-Offizier, Hauptmann Grenzmann, in den Mund legt: entbehrlicher, lebensunwerter Ausschuss der Evolution, der „zu Recht vom Aussterben bedroht ist“.

Przewalski-Pferde im Schnee/Foto: Wikimedia

Als angesichts der zunehmend unaufhaltsamen Gebietszugewinne sowjetischer Truppen ein baldiger Rückzug der SS-Einsatzgruppe von Askania-Nowa unmittelbar bevorsteht, macht Hauptmann Grenzmann dem gutherzigen, inmitten der ostensiven Brutalität und sittlichen Verrohung der Besatzungssoldaten stets besonnen agierenden Max eine entsetzliche Mitteilung: aus vorauseilendem, bürokratischem Diensteifer hat er seine vorgesetzte Stelle in Berlin nicht nur um detaillierte Anweisungen gebeten, wie vor dem unvermeidlichen Abmarsch mit den „primitiven Urpferden“ zu verfahren sei, sondern ist auch festen Willens, die tatsächlich von seiner Behörde erteilten absurden Direktiven fern jeder Überprüfbarkeit durch die Berliner Führung lückenlos umzusetzen.

Habe ich das nicht schon erwähnt? Die Przewalskis sind jetzt geächtet, eine verbotene Rasse, und müssen als solche vernichtet werden.“
Das können Sie doch nicht ernst meinen!“
Es tut mir leid, Max, aber das liegt nicht in meiner Hand. Das SS- Hauptquartier trifft die Entscheidungen in allen Rassenangelegenheiten. Und im Fall der Przewalski-Pferde hat Berlin mir befohlen, die Arbeit zu vollenden, die die Natur bereits begonnen hat, Max. Nämlich eine biologisch ungeeignete Rasse aus der Tierpopulation der Großdeutschen Reiches zu entfernen, um die Linie von vernünftig domestizierten Pferden […] davor zu schützen, von euren herumstreunenden Höhlenponys verunreinigt zu werden. Das gehört alles zu unserem Plan der völligen Zerstörung ukrainischer und asiatischer Kultur, damit euer Volk vernünftig germanisiert werden kann. […] Ein paar Exemplare müssen nach Berlin gebracht werden, […] damit Reichsmarschall Göring sie auf seinem Anwesen Carinhall jagen kann. Er ist selbst ein großer Jäger, weißt du? Doch der Rest der Przewalski-Pferde wird ohne weitere Verzögerung erschossen.“

Am Beispiel der vollkommen sinnlosen, technokratischen Ermordung einer ganzen Herde prächtiger Przewalski-Pferde durch vom Beiwagen eines Motorrads abgefeuerte Maschinengewehrsalven gelingt es Philip Kerr auf ebenso pointierte wie glaubhafte Art und Weise, selbst noch dem oberflächlichsten, vielleicht nur an einer spannenden Romanhandlung interessierten jungen Leser unmissverständlich vor Augen zu führen, als wie verlogen die hinlänglich bekannte, fast schon sprichwörtliche Eigendarstellung der gesamten deutschen Tätergeneration tatsächlich bewertet werden muss: man habe während der Zeit der Selbstunterwerfung unter ein unzweifelhaft verbrecherisches Regime niemals eine noch so geringe Wahlmöglichkeit gehabt, sondern stets nur seine unentrinnbare Pflicht als Soldat oder Staatsbürger verrichtet und unverhandelbaren Befehlen gehorcht, so als gäbe es keine allgemeinen moralischen Maßstäbe, die jeder Mensch seinem eigenen Handeln zu Grunde legt, und als habe es diese auch niemals gegeben. Dieses von den Nationalsozialisten bewusst hervorgerufene moralische Vakuum in der deutschen Gesellschaft ist möglicherweise eines der am stärksten nachwirkenden Kennzeichen ihrer lebensfeindlichen Ideologie, gerade weil es jeder Täter, Mitläufer oder Dulder des Regimes nach der Befreiung am leichtesten hätte aufgeben können.

Winternebel, -22° C/Foto: Vadym Serpak

Doch gleichzeitig führt uns Philip Kerr im weiteren Verlauf der Handlung wie nebenbei zahlreiche geglückte Beispiele unabhängigen und selbstbestimmten Handelns im Sinne der Humanität vor Augen: so etwa in Gestalt der selbstlosen Retterin in Dnipropetrowsk, die die verängstigte Kalinka aus der Marschkolonne heraus in ihren Hauseingang zieht, um sie vor der SS zu verstecken, dem mitfühlenden Gutsverwalter Max, der sein eigenes Leben riskiert, um das Mädchen und die seltenen Pferde vor dem sicheren Tod zu retten oder einem erfahrenen deutschen Nachrichtenoffizier, der am Ende des Buches zur großen Erleichterung des Lesers einem ausdrücklichen Befehl bewusst zuwiderhandelt und so eine entscheidende Wende herbeiführt.

Kalinka schob ihre Hände in die Taschen ihres schwarzen Fellmantels und tastete nach dem Kompass, dem Geld, dem Brot und dem Käse, die er so fürsorglich hineingesteckt hatte. Die Freundlichkeit des alten Mannes ließ einen Kloß in ihrem Hals wachsen. Sie hätte gern geweint, aber sie wusste, dass sie es nicht konnte. […] Sie hatte gelernt, dass man nicht weglaufen konnte, wenn man weinte, und dass man sich auch nicht in einem Schrank verstecken konnte, ohne gehört zu werden. Wenn man niemandem vertrauen konnte, musste man sich auf sich selbst verlassen können. Sie hatte gedacht, irgendwann würde sie weinen können, doch seit ihrer Flucht war das nicht passiert. Mittlerweile glaubte sie, dass sie vielleicht niemals mehr würde weinen können, dass etwas Menschliches zusammen mit dem Rest ihrer Familie gestorben war.

Kalinka flieht ganz auf sich allein gestellt mit den beiden als unzähmbar geltenden verletzten Przewalski-Pferden Temüdschin und Börte, deren Vertrauen sie mit ihrer sensiblen, einfühlsamen Art dauerhaft gewonnen hat, sowie begleitet von Max' treuem Wolfshund: eine erstaunlich wehrhafte, eng verschworene, geradezu mythische Reise- und Schicksalsgemeinschaft, die da in Wald und Steppe hinauszieht – wie aus einem Märchen der Gebrüder Grimm. In Hauptmann Grenzmann jedoch haben sie einen unerbittlichen, fanatischen Verfolger gefunden, der trotz seiner musischen Interessen und einer zurückliegenden Karriere als olympischer Reiter nichts unversucht lassen wird, den unsinnigen, von ihm selbst heraufbeschworenen Befehl umzusetzen, mit unverhältnismäßigem militärischen Aufwand drei unschuldige Lebewesen zu töten, die sich nichts anderes wünschen, als selbstbestimmt in Freiheit und Frieden zu leben. In einer fesselnden Verfolgungsjagd mit zahlreichen überraschenden Wendungen gelingt es dem mutigen Mädchen schließlich hinter die befreiten Frontlinien zu gelangen. Hier allerdings muss sie sich unverhofft ganz neuen ungeahnten Herausforderungen stellen.

Philip Kerr/Foto: Ed Lederman

In „Winterpferde“, dem ersten nicht unter seinem Pseudonym P.B. Kerr veröffentlichten Jugendbuch, kann Philip Kerr sein Faible für Geschichte und Geschichten des Zweiten Weltkriegs sowie sein außergewöhnliches Talent für reflektierte, spannende Unterhaltungsliteratur erstmals in vollem Maße auch für junge Leser entfalten. Dabei bewegt er sich wie in seinen Kriminalromanen stets unmittelbar entlang belegbarer Fakten sowie im engen Rahmen historischer Wahrscheinlichkeit. Das Bild der seltenen Przewalski-Pferde als denkbar unschuldigste Opfer des nationalsozialistischen Zerstörungswahns ist ein genialer, ausgesprochen tragfähiger Schachzug. Ähnlich wie in seinen unnachahmlichen Bernie-Gunter-Romanen enthält sich der Autor dabei jeglicher vereinfachender Sichtweise oder kollektiver Schuldzuweisung: so erweist sich im Verlauf der Handlung ausgerechnet eine scheinbar hilfreiche ukrainische Bäuerin als eine der grausamsten Gegnerinnen Kalinkas, während ein deutscher Offizier als unverhoffter Retter in letzter Not fungiert. Der Mensch, so wie Philip Kerr ihn beschreibt, ist niemals eindimensional, und die Taten, zu denen er fähig ist, sind im Positiven wie im Negativen kaum voraussehbar. In seinem ebenso engagierten wie ausgewogenen literarischen Plädoyer für die Kraft und Schönheit des Lebens zeigt der ausgebildete Jurist, dass Mitgefühl, Liebe und Menschlichkeit damals wie heute ohne jede Alternative sind – doch die Entscheidung darüber liegt ganz bei uns.

„Winterpferde“ von Philip Kerr, aus dem Englischen von Christiane Steen, erschienen bei Rowohlt Rotfuchs, 287 Seiten, € 16,99

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