Jerusalem

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Mittwoch, 2. September 2015

„Monsieur Optimist“ von Alain Berenboom

Das biblische Gleichnis von Lot und seiner Frau, die sich auf der Flucht aus der untergehenden Stadt Sodom entgegen dem himmlischen Gebot ein letztes Mal umdreht und deshalb zu Salz versteinert, will uns vor einer zu starken Anhaftung an der eigenen Vergangenheit warnen, besonders wenn diese von Gewalt und vielfältigen Traumata gekennzeichnet ist. Der altgriechische Mythos von Orpheus, der seine geliebte Eurydike aus der Unterwelt befreit, nur um sie gleich darauf endgültig zu verlieren, als er selbst noch einmal zurückblickt, warnt sogar noch deutlicher: Wir werden nicht nur handlungsunfähig, wenn wir uns zu sehr mit der Vergangenheit beschäftigen, sondern drohen darüber sogar unsere Liebsten zu verlieren.


In seinem neuen, im französischen Sprachraum zu Recht vielfach ausgezeichneten Buch „Monsieur Optimist“ erzählt der belgische Rechtswissenschaftler und Schriftssteller Alain Beerenboom als typischer Vertreter der sogenannten „Zweiten Generation“ die denkwürdige, unmittelbar zu Herzen gehende, tragikomische Geschichte des Lebens seiner Eltern in Belgien vor und nach dem Krieg sowie ihres unglaublichen Überlebens unter deutscher Besatzung. Die Geschichte von Lot und seiner Frau hat der Vater des Autors bis zu seinem unerwarteten Tod im Jahr 1979 immer wieder als Rechtfertigung für sein beharrliches Schweigen über die Kriegsjahre und ein überangepasstes Leben als allseits beliebter Kleinstadtapotheker und guter belgischer Staatsbürger erzählt. Nicht weniger als dreißig Jahre brauchte der Autor – seine Mutter war mittlerweile ebenfalls seit zehn Jahren tot – um sich emotional endlich auf den in wenigen Pappkartons unbeachtet im Keller gelagerten schriftlichen Nachlass seiner Eltern einlassen zu können.

Bis zum Schluss hat der Zauberer seine Nummer bewundernswert durchgezogen. Chapeau! Er hat sein Geburtsland genauso verschwinden lassen wie die Dame aus der Trickkiste, und er hat den Sohn eines osteuropäischen Einwanderers mit seinem Zauberstab in einen waschechten Brüsseler verwandelt. Er hat von seinem Sohn alles ferngehalten, was ihn hätte verstören können: seinen Großvater, seine Tante, seinen Onkel – in Luft aufgelöst wie das Dorf, in dem er hätte geboren werden können, wie der Laden, in dem er fasziniert hätte stöbern können zwischen Schachteln mit Perlmuttknöpfen und Spitzendeckchen. Verwehrt war ihm der Zugang zu den Sprachen, die ihn zum Weinen hätten bringen können, zu den wehmutsvollen Klängen eines untergegangenen Volkes. Abrakadabra.
Trotz seiner teuflischen Geschicklichkeit war der Zauberer am Ende doch nur ein Mensch. Als der Sohn ein bisschen an der Oberfläche kratzte und einen Zipfel des Vorhangs lüpfte, als er hinter die Kulissen und in die Bühnenfalltüren guckte, hat er alle Einzelteile mehr oder weniger intakt aufgespürt, die der Zauberer vor den Augen des Publikums in einer Wolke aus Pailletten verschwinden ließ.
Warum sich Fragen stellen? Warum den Vorhang anheben? Um den Stimmen Gehör zu verschaffen, den Stimmen von Frania, Aba und Sara und ihrer ganzen kleinen Welt, Lilit, Esther, Mazsa, Jafa, Fela, David.

Mit dem systematischen Öffnen einer Matrjoschka-Puppe beschreibt Berenboom das schmerzvolle Sichten dieses Nachlasses sehr treffend – jedes Dokument verbirgt ein weiteres und am Ende bleibt doch ein endgültig unenträtselbarer Kern. „Monsieur Optimist“ – ein passender Spitzname für einen ungläubigen polnischen Juden, der die Armut seines Heimatdorfes Maków und das traditionelle orthodoxe Judentum hinter sich gelassen hat, um in Lüttich Pharmazie zu studieren, mit seinen selbsthergestellten Schönheitssalben, Wunderpillen und Kräuterlikören zu bescheidenem Wohlstand gelangt und mit seiner nichtjüdischen Umwelt untrennbar verschmolzen scheint, der stets an das Gute im Menschen glaubt und mit seinen zahlreichen gleichgesinnten Freunden aus der Brüsseler Gesellschaft nächtelang über Politik und Philosophie diskutiert.

Apotheke in Brüssel/Foto: Michel Wal

Liebevoll aufgedrückt hat ihm den Spitznamen ein gern gesehener deutscher Gast, ein exilierter Radiotechniker, mit dem er sich regelmäßig zum Schachspielen trifft und der stets ein besonders offenes Ohr für seine linken politischen Theorien hat, sich jedoch nach dem Einmarsch der Deutschen als prominentes Mitglied der Fünften Kolonne erweist. Das von ihm anfertigte Radiogerät funktioniert heute noch.

Mehr als alles liebte mein Vater es, „seine Mittelchen“ herzustellen. In den Tiefen seines Labors hatte er eine Schönheitscreme entwickelt, eine Körpermilch, Dragees gegen Kopfschmerzen, ein sprudelndes durstlöschendes Getränk gegen Verstopfung, eine Vitaminmischung für schwächelnde Kinder, ein Sortiment an Sirups für alle möglichen Anwendungsgebiete, ein Dutzend unterschiedlicher Alkoholika, die er selbst im Keller destillierte, sowie extra gemixte Tinkturen für die jungen Damen, die direkt um die Ecke in den Schaufenstern der Rue du Marché arbeiteten. […] Die Cremes, Tabletten, Pomaden und anderen Produkte, die er entwickelte, hätten aus ihm den größten Konkurrenten von Herrn L'Oréal machen können, wenn er sich nicht hartnäckig geweigert htte, seine Geheimnisse den Laboratorien zu verkaufen, die bei ihm anfragte. Das wenigstens erzählt meine Mutter mit mal bewunderndem, mal bitterem Unterton, je nach Tagesform. Mein Vater hat den Behauptungen seiner Frau nie widersprochen. […] Ein Taubenzüchterklub bezog sein Hauptquartier im Café direkt neben der Apotheke. Mein Vater machte sich unverzüglich an die Herstellung von Medikamenten für Tauben. Innerhalb weniger Monate wurde er der Spezialist auf dem Gebiet. Sein Ruf machte schnell die Runde in Taubenliebhaberkreisen, und die Kundschaft strömte von überall herbei.

Der geradezu halsbrecherische Optimismus von Chaim und Rebecca zeigt sich aber nicht nur in ihrer überstürzten Hochzeit, nur wenige Wochen vor, sondern vor allem im absolut zeitgleichen Aufbruch mit dem Einmarsch der Deutschen zur Hochzeitsreise nach Frankreich inmitten von Panzern und Heerestransporten, bei dem die junge Braut einen ihrer Reisekoffer verliert, wegen dem sie sich anschließend einen jahrelangen, jedoch ergebnislosen Streit mit belgischen und französischen Behörden liefert. All dies erfährt Alain Berenboom (geboren 1947) erst nach und nach aus den ungeordneten Nachlass-Dokumenten. Die Ereignisse seit dem Einmarsch haben die Zuversicht seiner Eltern offenbar nachhaltig gedämpft – der befohlenen Eintragung ins Judenregister kommen sie brav und folgsam nach. Als der zuständige, ihnen wohl bekannte und freundlich gesinnte Polizist ihnen jedoch anderthalb Jahre später eine amtliche „Vorladung“ in eine Militärkaserne überreicht, ergreifen sie ohne Bedenkzeit sofort die ihnen von ihm gebotene Chance zum Untertauchen: mit Hilfe von hochoffiziell und „echt“ gefälschten Papieren werden sie als Ehepaar Berenbaum für tot erklärt und erhalten gleichzeitig den neuen Namen Janssen, der so typisch belgisch ist, das ihn in Hergés Tim-und-Struppi-Comics auch die vertrottelten Detektive tragen.

Alain Berenboom

Der Autor erzählt aber nicht nur eine nahezu unglaublich scheinende authentische Geschichte jüdischen Überlebens und aktiven Widerstands unter deutscher Besatzung, die ihn selbst noch im fortgeschrittenen Erwachsenenalter überrascht hat. Mit viel warmherzigem Humor vergegenwärtigt er in zahlreichen, manchmal zum Weinen schönen Einzelepisoden seine eigene liebevolle, wohlbehütete Kindheit, während der seine Eltern ihren Sohn vor allem vor der eigenen Vergangenheit zu bewahren versuchten und ihm dabei eher die Liebe zu Italien als zu Israel vermittelten. „Als Gefangene im Ghetto war es für deine Großmutter eine Ehrensache, sich täglich die Zähne zu putzen.“ – Solch kuriose elterliche Motivationskniffe zum abendlichen Zähneputzen waren dabei eher die Seltenheit. In seinen wunderbaren Erinnerungen führt uns Alain Berenboom überzeugend vor Augen, dass es für die betroffene Generation durchaus heilsam, vielleicht sogar lebensrettend sein kann, den Blick zurück auf das erlittene Unrecht zu verweigern. Für das Selbstverständnis der Generationen danach ist er nicht nur außerordentlich bedeutsam, sondern geradezu unabdingbar.

„Monsieur Optimist“, aus dem Französischen von Tanja Graf und Helmut Moysich, erschienen beim Graf Verlag, 288 Seiten, € 18,-

Eine leicht veränderte Fassung dieses Artikels erschien in der Septemberausgabe der Jüdischen Rundschau.

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