Jerusalem

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Donnerstag, 7. Januar 2016

„Das Tagebuch der Rywka Lipszyc“

Wenn bei einer Buchneuerscheinung der Anhang mehr Platz einnimmt als der eigentliche Text, muss das den Leser unwillkürlich misstrauisch stimmen, glaubt er doch schon vor der eigentlichen Lektüre zu ahnen, dass der Text ohne seinen umfangreichen Erläuterungsapparat möglicherweise nicht als eigenständiges Werk zu bestehen vermag, sondern dringend weiterführender Erklärung oder gar wissenschaftlicher Einordnung bedarf, um überhaupt verstanden werden zu können. Die von ihm selbst zu investierende Mühe, wäre dann im Verhältnis zum erwartenden intellektuellen Gewinn unter Umständen zu groß. Diese wohlabgewogene Sorge ist allerdings im Fall des im Jahr 1995 unter abenteuerlichen Umständen wiederentdeckten und 2014 in den USA erstmals veröffentlichten Tagebuchs der zum Zeitpunkt der Niederschrift vierzehnjährigen polnischen Jüdin Rywka Lipszyc über ihre Leidenszeit im Ghetto von Lodz vollkommen unbegründet. 



Dabei lohnt es sich nicht nur, über den eigentlichen Inhalt des Tagebuchs zu sprechen, dessen absolute Chronologie etwa sechs Monate im Jahr 1944 umfasst, sondern auch den verstörend unfertigen Lebensweg seiner jugendlichen Autorin nachzuverfolgen sowie die Geschichte der abenteuerlichen Auffindung ihres Textes und seines Wegs zur erfolgreichen Publikation zu erzählen. Rywka Lipszyc wurde 1929 in Lodz geboren, einer wirtschaftlich florierenden multikulturellen Großstadt, deren jüdischer Bevölkerungsanteil vor dem Zweiten Weltkrieg ein Drittel der Gesamtbevölkerung ausmachte. Ihre Familie war streng orthodox, ein Onkel von ihr hatte viele Jahre lang als geachteter Oberrabbiner von Lodz gewirkt. Die Einrichtung des sogenannten Ghettos Litzmannstadt durch die Nationalsozialisten, eines der größten abgetrennten jüdischen Wohnviertel im besetzten Osteuropa, das heute zu Unrecht als weniger berüchtigt gilt als das von Warschau, veränderte das Leben der dort wahllos zusammengepferchten Juden auf katastrophale Art und Weise, denn die Besatzer hatten für ihre schändlichen Zwecke einen unterentwickelten Stadtbezirk ausgesucht, dessen Wohnraum der Einwohnerzahl nicht nur vollkommen unangemessen war, sondern nicht einmal ein funktionierendes Abwassersystem aufwies.

Gestern Abend habe ich mich mit Minia gestritten, ich weiß gar nicht mehr, worüber (es ging um einen Stuhl), ich weiß nur noch, dass ich mich sehr aufgeregt habe und weinen wollte, als ich im Bett war. Zum Glück konnte ich weinen, aber nur ein bisschen. Ich wäre wirklich am liebsten gestorben. Ich habe wirklich versucht, mich wieder zu beruhigen, aber ich habe das Leben satt. Ich habe gedacht: Ich weiß, dass ich jetzt, wo ich gern sterben würde, nicht sterben werde. Ich werde sterben, wenn ich leben möchte, wenn ich etwas haben werde, wofür sich zu leben lohnt. Wozu braucht man solch ein Leben? Wäre es nicht besser, man würde sterben, wenn man nichts hat, wofür man lebt, als dann, wenn man leben möchte? Aber auf all diese Fragen konnte ich keine Antwort finden.

Die hermetische Abriegelung des Ghettos durch die Deutschen bewirkte zum einen, dass Flucht oder auch nur Informationsaustausch mit den äußeren Stadtbezirken nahezu unmöglich war, zum anderen, dass sich Krankheiten und Seuchen von Anfang an fast ungebremst ausbreiten konnten – selbst ein minder schwerer grippaler Infekt konnte sich unter diesen Umständen leicht zu einer Epidemie auswachsen, die innerhalb weniger Wochen die vom jüdischen Ghettoverwalter Chaim Rumkowski organisierten Manufakturen fast vollkommen zum Erliegen zu bringen vermochte, in denen er, vermeintlicherweise um die Bevölkerung zu schützen, sogenannte kriegswichtige Waren herstellen ließ. Nach dem Tod von Rywkas Vaters an den Spätfolgen einer massiven Misshandlung durch marodierende Nazis in den Tagen der Eroberung der Stadt, dem krankheitsbedingten Tod ihrer Mutter sowie der Deportation zweier ihrer Geschwister fand die Vierzehnjährige mit ihrer jüngeren Schwester Cipka wenig liebevolle Aufnahme im trostlosen Frauenhaushalt ihrer Tante und deren Töchtern, der von Neid und Missgunst geprägt war.


Fußgängerbrücke im "Ghetto Litzmannstadt"/Bundesarchiv, Bild 101I-133-0703-20

Durch die immer noch hilfreiche, nachhaltige Prominenz ihres verstorbenen Onkels, des ehemaligen Oberrabbiners, gelang es dem aufgeweckten Mädchen schnell, durch eigene Initiative an eine der begehrten und privilegierten Stellen in einer Kleiderfabrik zu gelangen, in deren Rahmen junge Frauen nicht nur zu Schneiderinnen ausgebildet wurden, sondern während ihrer Arbeitszeit von zehn Stunden und mehr auch eine gewisse rudimentäre Schulbildung erhielten. In den Abendstunden nahm sie regelmäßig an einem Literaturkreis älterer Mitschülerinnen teil, der ihr unter den ungünstigen Rahmenbedingungen im Ghetto dennoch wichtigen Raum zur geistigen Entwicklung eröffnete. Ihr ergreifend ehrliches, emotionales Tagebuch, in dem sie immer wieder auch ihre Herzensfreundin Surcia direkt anspricht, diente der Heranwachsenden vor allem als dankbares Mittel zur Selbstvergewisserung in einer feindlichen Welt, die aus der Perspektive ihrer bisherigen gut behüteten, tief religiösen Lebenserfahrung kaum mehr zu begreifen war.

Liebe Surcia!
Manchmal denke ich, das Leben ist ein dunkler Weg. Auf diesem Weg gibt es zwischen den Dornen auch andere, zartere Blumen. Diese Blumen haben kein besonderes Leben, sie leiden wegen der Dornen. Manchmal beneiden die Dornen die anderen Blumen um ihre Schönheit und setzen ihnen noch mehr zu. Und die Blumen werden entweder selbst zu Dornen oder leiden still und gehen weiter auf der Dornenstraße. Nicht alle schaffen es, doch wenn sie durchhalten, werden sie dafür belohnt. Ich glaube, das passiert nicht oft, aber ich denke, dass jeder wahre Jude auf ein Ziel zustrebt, still und leidend zugleich. Außerdem denke ich, das Leben ist schön und schwer, man muss zu leben wissen. Beneidenswert sind die Menschen, die viel gelitten haben, die durchs Leben gegangen sind und im Kampf mit dem Leben gesiegt haben. Surcia, solche Menschen (wenn ich etwas über solche Menschen lese oder höre) machen mir Mut. Ich merke dann, dass ich weder die Einzige noch die Erste bin, dass ich hoffen kann. Aber ich schreibe nicht über mich.

Doch auch der schwer fassbare Schmerz und die vielfältigen Verunsicherungen des Erwachsenwerdens, noch gesteigert durch den schwelenden Streit mit ihrer Cousine um zahlreiche alltägliche Nichtigkeiten sowie ihr fundamentales Verlassenheitsgefühl nach der Deportation und dem Tod ihrer Eltern nehmen wichtigen Raum in Rywkas Aufzeichnungen ein. Daneben spüren wir stets das tiefe, rührend wahrhaftige innere Anliegen der jugendlichen Autorin, trotz der widrigen Umstände auch vor sich selbst ein gottgefälliges, moralisch vorbildliches Leben aufrecht zu erhalten und ihrer jüngeren Schwester ein sicherer familiärer und freundschaftlicher Rückhalt zu sein. Dabei erkundet sie für sich selbst und in Gesprächsrunden mit ihren Kameradinnen auch die zahlreichen, bereits seit Jahrzehnten lebhaft diskutierten Möglichkeiten, wie ein traditionelles jüdisches Leben auch jenseits einer vorwiegend religiösen Definition aussehen könnte.

Näherinnen in der Kleiderfabrik, 1941/Bundesarchiv, Bild 101I-133-0719-13

Im Winter 1943/44 lassen die Nationalsozialisten die Lebensbedingungen im Ghetto weiter eskalieren. Die Lebensmittelrationen werden stetig reduziert, Arbeiter mit Sonderschichten verlieren nach und nach ihre Privilegien, und die Deportationen in die Konzentrations- und Vernichtungslager werden häufiger und regelmäßiger. Wir müssen davon ausgehen, dass Rywka kurze Zeit nach ihrem abrupt abgebrochenen letzten Tagebucheintrag am 12. April 1944 nach Auschwitz deportiert wurde. Ihre Aufzeichnungen wurden im Frühjahr 1945 von Angehörigen der Roten Armee in den Ruinen des Konzentrationslagers gefunden – die Heranwachsende hatte sie offensichtlich als wertvoll genug angesehen, um sie auf ihrer Reise mitzuführen, obwohl die Nazi-Bürokraten nur ein äußerst geringes zulässiges Gesamtgewicht für Reisegepäck definiert hatten. Eine russische Stabsärztin nahm das Tagebuch nach dem Krieg mit nach Sibirien, von wo aus sie ohne Erfolg zahlreiche Versuche unternahm, Rywkas Text ins Russische übersetzen zu lassen. Mit ihrem Nachlass gelangte das Manuskript schließlich in die USA. Dem Engagement der langjährigen Archivarin des Holocaust Center of Northern California, Judy Janec, ist es zu verdanken, dass Rywka Lipszyc‘ Aufzeichnungen heute nicht nur in gedruckter Form vorliegen, sondern auch um einen eindrucksvollen Anhang erweitert wurden, in dem sich neben renommierten Historikern auch Rywkas überlebenden Verwandten mit ihren Erinnerungen zu Wort melden.

Weißt Du, manchmal, wenn es mir sehr schlecht geht, bewundere ich das Leben. Dann komme ich ins Grübeln. In ein und demselben Moment weinen Menschen, andere lachen, wieder andere leiden usw. Manche werden geboren, andere sterben, wieder andere sind krank usw. Die geboren werden, wachsen heran und reifen, um wieder zu leben und zu leiden. Und doch wollen alle leben, unbedingt leben, und jeder, der lebt, hat Hoffnung (vielleicht manchmal unbewusst), und obwohl das Leben schwer ist, ist es schön. Das Leben hat einen seltsamen Reiz. (Aber ich sage Dir die Wahrheit, dass ich jetzt gar nicht mehr leben will, ich habe einfach keine Kraft mehr, gleich lege ich mich schlafen und am liebsten möchte ich gar nicht mehr aufstehen.)

Dabei scheint es durchaus fragwürdig, die Buchausgabe anstatt mit dem voll und ganz für sich selbst sprechenden Tagebuchtext mit einem sehr umfangreichen, allerdings auch sehr erhellenden Vorwort des Historikers Fred Rosenbaum beginnen zu lassen. Unabhängig von den unbestrittenen Meriten eines ausgewiesenen Holocaust-Experten besitzt ein autobiografischer Text (der in diesem Fall von der Autorin niemals zur Veröffentlichung vorgesehen war, worin eine zusätzliche Problematik besteht, über die wir gewöhnlich aus dokumentarischen Erwägungen einfach hinweggehen) immer auch eine Dimension, die sich besonders dem historisch interessierten Leser von ganz allein erschließt, ohne dass er besondere Mühe darauf verwenden müsste. Jede Stimme jedes einzelnen Opfers sollte gehört und verstanden werden – allein daraus erschließt sich seine ganz spezifische verlorene Lebenswelt, und allein dadurch wird das Ausmaß des von den Nationalsozialisten entfesselten Schreckens deutlich.  Dass dem Leser hier schon vor der eigentlichen Lektüre gewissermaßen vorgeschlagen wird, wie er das Tagebuch Rywka Lipszyc‘ aufnehmen sollte, hat trotz der angebotenen Faktenfülle einen unangenehm arroganten Beigeschmack.

Mahnmal am Deportationsbahnhof Radegast, Lodz/Foto: Piotr Matyja

Ohne Frage sollten wir niemals aufhören danach zu streben, unsere Vergangenheit verstehen zu wollen. Allerdings scheint es fragwürdig, sie mit unserer Deutung gleichzeitig auch für abgeschlossen zu erklären – dazu ist die Vergangenheit zu komplex. Rywkas Geschichte indes ist mit dem Tagebuchtext noch lange nicht auserzählt. Wir wissen, dass sie die Konzentrations- und Todeslager, schwer vom Typhus gezeichnet, überlebt hat und sich nach dem Krieg in Lübeck auf die Auswanderung nach Schweden vorbereitete. In einem Krankenhaus der Hansestadt verliert sich ihre Spur, und alle Versuche, sie wieder aufzunehmen, sind seither gescheitert. Es existiert weder eine Sterbeurkunde noch ein Grab noch gibt es Hinweise, dass sie unter anderem Namen vielleicht doch weitergelebt haben könnte. Dieses spurlose Verhallen einer verfolgten, misshandelten Seele mit all ihren unschuldigen, reinen Plänen, Hoffnungen und Träumen macht Rywkas Schicksal noch unerträglicher.

„Das Tagebuch der Rywka Lipszyc“, aus dem Polnischen und Englischen von Bernhard Hartmann, erschienen im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp, 237 Seiten, € 22,95

Dienstag, 5. Januar 2016

„Gott gab es aber Gretel ein“

Über den Verbleib der bösen Mutter im Märchen


Als Hänsel und Gretel den dunklen Wald ihrer furchtbaren inneren Reise verlassen und das Wasser des Unbewussten auf dem Rücken einer weißen Ente überqueren, schließt der dankbare Vater seine beiden Kinder erleichtert in seine Arme und heißt sie freudig willkommen. Wo aber ist seine hartherzige Frau geblieben, die böse Mutter der Urfassung von 1812 bzw. die Stiefmutter der späteren Fassungen, die ihren Mann überredet hatte, die beiden gemeinsamen Kinder im tiefen Wald auszusetzen, damit sie sich verirren oder gar sterben und das arme Ehepaar auf ihre Kosten künftig ein unbeschwerteres Leben führen kann und nicht länger hungern muss? „Die Mutter aber war gestorben“, heißt es am Ende ganz lapidar. Trotzdem haben sich viele Leser und Interpretatoren dieses archetypischen Ur-Märchens immer wieder die Frage gestellt, was genau aus dieser von Grund auf bösen Frau geworden sein mag, die kaltblütig ihre Kinder opferte, und welches unbekannten Todes sie gestorben ist.






Wenn man das Märchen von Hänsel und Gretel als große innere Handlung einer gewaltigen, von den beiden Kindern gemeinsam zu leistenden psychischen Aufgabe interpretiert, deren einzelne Stationen wie in einem intensiven Traum erstaunlich klar und folgerichtig und in geradezu unmissverständlicher Deutlichkeit vor uns liegen, kann die anfängliche Überraschung kaum größer sein als die nachhaltig überwältigende Erkenntnis, dass wir uns die ganze Zeit über von einer vollkommen falsch formulierten Frage haben in die Irre führen lassen. Das Schicksal der bösen (Stief-)Mutter wird uns doch ganz konkret und überdeutlich im Märchen selbst geschildert, wir müssen gar nicht darüber spekulieren: Hänsel und Gretel haben sie in Gestalt der Hexe in den Ofen geschoben, wo sie unter furchtbarem Geschrei und Gejammer bei lebendigem Leib verbrannt ist.  Die Figur der Hexe im dunklen Wald des Unbewussten kann zweifellos nichts anderes sein als eine besonders deutliche Vergegenwärtigung der (Stief-)Mutter, deren Bösartigkeit allerdings nun erst besonders augenscheinlich geworden ist. 

Da schien der Mond hell und die weißen Rieselsteine glänzten wie lauter Batzen. Hänsel bückte sich und machte sich sein ganz Rocktäschlein voll davon, so viel nur hinein wollten, dann ging er zurück ins Haus: „tröste dich, Gretel, und schlaf nur ruhig,“ legte sich wieder ins Bett und schlief ein.

Es gibt im Text des Märchens zahlreiche Hinweise, dass seine innere Logik der eines bedeutsamen Traumes folgt. Ein Traum, der uns eine dem wachen Bewusstsein noch verborgene Erkenntnis mitteilen will, arbeitet stets mit einer Vielzahl von unterschiedlichen Symbolen, die sich zwar von Situation zu Situation verändern oder oft auch graduell verstärken können, aber in der Regel stets dieselbe Aussage wiederholen – und zwar (sofern wir den Traum aushalten) so lange, bis wir ihre Bedeutung für uns selbst erkennen und deuten können.  Hänsel und Gretel versuchen die Begegnung mit der wahren Gestalt ihrer Mutter, wie sie ihnen später im Wald als Knusperhexe erscheint, zweimal zu vermeiden – zu verdrängen eigentlich: indem Hänsel zunächst eine Spur aus Kieselsteinen legt, die die beiden Kinder schließlich nach Hause führt, und beim zweiten Mal eine aus Brotkrümeln, die von Vögeln und anderen Tieren des Waldes gefressen und somit beseitigt wird. Nun können sich die beiden Geschwister der großen, von ihnen zu vollführenden Aufgabe endgültig nicht mehr entziehen.


Hänsel und Gretel erschracken so gewaltig, daß sie fallen ließen, was sie in der Hand hielten, und gleich darauf sahen sie aus der Thüre eine kleine steinalte Frau schleichen. Sie wackelte mit dem Kopf und sagte: „ei, ihr lieben Kinder, wo seyd ihr denn hergelaufen, kommt herein mit mir, ihr sollts gut haben,“ faßte beide an der Hand und führte sie in ihr Häuschen.

Doch obwohl Hänsel und Gretel nun „mutterseelenallein“ sind, auf sich selbst zurückgeworfen, drängt gerade jetzt die grausame Mutterfigur noch einmal mit übersteigerter Wucht zurück in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, so dass sie nicht mehr ignoriert werden kann, zunächst jedoch als letzte verzweifelte Täuschung: hatten die beiden Geschwister kurz zuvor noch ihre letzten Brotkrümel weggeworfen, um eine sinnlos-vergängliche Spur in ihr altes Leben zu legen, das inzwischen unerreichbar ist, stehen sie plötzlich ganz unverhofft vor einem ganzen Haus aus Brot. Das dort wohnende gute alte Mütterchen, das sie zunächst so gastfreundlich mit Milch, Pfannkuchen und Nüssen bewirtet, entpuppt sich schon bald als böse alte Hexe, die sich im wahrsten Sinne des Wortes von den beiden Kindern ernähren will: Hänsel soll gekocht, Gretel gebraten werden. Nun lässt sich die bahnbrechende Erkenntnis nicht mehr verdrängen, die beiden Geschwister müssen handeln und sich radikal von der bösen Mutterfigur befreien. Gretel gelingt es, die Hexe zu überlisten, so dass am Ende jene statt ihrer selbst im Ofen verbrennt.




Der Reichtum aus Edelsteinen und Perlen, den Hänsel und Gretel im Hexenhaus vorfinden, ist allerdings – ähnlich wie im Märchen von den „Sterntalern“, der vermutlich einzigen Zen-Geschichte der deutschen Romantik – nur symbolischer Natur: jetzt, nach dem Tod der Hexe, können sie endlich jenes freie, selbstbestimmte, edelsteinfunkelnde Leben als geliebte Kinder führen, das ihnen von Natur aus gebührt. Obwohl die abschließende Formulierung „Die Mutter aber war gestorben“ letztlich überflüssig ist, denn wir haben es ja selbst gehört oder gelesen und „miterlebt“, scheint der eigentümliche Satz in seinem umgangssprachlichen Doppelsinn umso tröstlicher und kann somit als letzte Bekräftigung der von den Kindern vollführten Aufgabe gelten: die böse Mutter wäre und bliebe für die beiden Geschwister wie für ihren reumütigen Vater selbst noch als Lebendige „gestorben“ im Sinne einer abgeschlossenen Vergangenheit, mit der man sich schon aus Gründen der eigenen Seelenökonomie nicht mehr beschäftigen sollte.

Montag, 4. Januar 2016

„Ein Mädchen nicht von dieser Welt“ von Aharon Appelfeld

Die Geschichte des wundersamen Überlebens zweier neunjähriger Jungen unter deutscher Verfolgung im Jahr 1944 als eine Art Märchen zu erzählen, ist ein großes literarisches Wagnis, das man einem anderen Schriftsteller als Aharon Appelfeld, dem zweifellos größten noch lebenden Chronisten der Schoah, wohl kaum verzeihen würde. Tatsächlich wiegt der mögliche (und in diesem Fall unberechtigte) Vorwurf der Verharmlosung eines singulären Verbrechens schwer, und ohne Kenntnis des bereits vorhandenen umfangreichen Gesamtwerkes des 1932 bei Czernowitz geborenen israelischen Autors, in dem dieser einer beeindruckenden Anzahl einzelner Aspekte der Verfolgung eine unvergessliche literarische Form verliehen hat, wäre ein schmaler Band wie die nun erschienene, ungewohnt hoffnungsfrohe Erzählung „Ein Mädchen nicht von dieser Welt“ kaum denkbar. Umso erstaunlicher, dass der bald Vierundachtzigjährige sein Werk nun ganz bewusst um eine scheinbar simple, sogar für junge und jüngere Leser geeignete kleine Geschichte erweitert, in der – entgegen den Erwartungen des Lesers – beinahe alles anfängliche Leid der Protagonisten zu einem positiven Ende gewendet wird.




Ein namenloses Ghetto in der Bukowina steht kurz vor der endgültigen Auflösung, die Deportation ist für den nächsten Tag angesetzt. Zwei Mütter haben unabhängig voneinander eine letzte, verzweifelte Idee, wie sie ihre beiden gleichaltrigen Söhne möglicherweise doch noch vor der schrecklich gewissen Reise ins Ungewisse bewahren können und bringen sie kurz vor Tagesanbruch jeden für sich allein in den Wald. Anders als im Märchen von Hänsel und Gretel jedoch, die nach Vorstellung ihrer Stiefmutter in der Wildnis den Tod finden sollen, ist der dichte, urwüchsige und vor allem in positiver Hinsicht unkultivierte Wald in Appelfelds Erzählung der letztmögliche Rückzugsort des Menschlichen, der in seiner reinen, unberührten Natürlichkeit – so jedenfalls der sehnliche Wunsch – vielleicht auch das unschuldige Leben der Söhne zu bewahren vermag. Hier, am glücklichen Erinnerungsort zahlreicher gemeinsamer Sonntagsspaziergänge, sollen sie bis zum Abend auf die Rückkehr der Mütter warten. Der Leser ahnt jedoch sofort, dass jene kaum bis zum Einbruch der Nacht zurückkehren werden.

Bist du sicher, dass unsere Mütter kommen und uns holen?“
Meine Mutter hält immer, was sie verspricht“, sagte Adam, „und deine Mutter bestimmt auch. Aber wir dürfen nicht vergessen, wie gefährlich es ist. Das Ghetto ist fest abgeriegelt. Die Wachtürme beobachten alles, sie leuchten mit starken Scheinwerfern. Und die meisten Kellerausgänge sind bewacht.“
Seit dem Krieg hat sich alles verändert“, sagte Thomas mit einer Stimme wie ein Erwachsener.
Unsere Eltern haben sich nicht verändert“, entgegnete Adam. „Sie waren unsere Eltern und werden immer unsere Eltern bleiben.“ Er wunderte sich über seine eigenen Worte.

Schon hier, zu Beginn seiner Erzählung arbeitet Appelfeld sehr kunstvoll heraus, was während der gesamten Lektüre stets unausgesprochen im Leser mitschwingen wird. Wie schwer muss den verzweifelten Müttern ihre bittere Lüge gefallen sein, bis zum Abend zurück zu sein! Ihre verständliche Befürchtung auch, die wir in uneingeschränkter Empathie mit ihnen teilen, dass der zärtliche Abschied unter der Eiche möglicherweise die unwiderruflich letzte Erinnerung der beiden Jungen an ihre Mütter sein wird – und auch die letzte Erinnerung der Mütter an ihre Kinder: schon hier unzählbares Leid – heilbar vielleicht allein durch ein späteres Wiedersehen im ungewissen Frieden, auf den man zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr als hoffen kann. Es ist offensichtlich: der Autor darf selbst im oberflächlichen erwachsenen Leser ein umfangreiches Vorwissen über jüdische Lebensläufe innerhalb der Schoah voraussetzen, das ihn während des gesamten Verlaufs der Lektüre kaum auf ein glückliches Ende hoffen lassen wird.  


Im Dickicht/Foto: Steven Brown


Am Ende des ersten Tages im Wald begegnen sich die beiden Jungen und erkennen in sich ehemalige Schulkameraden aus der Zeit der ersten und zweiten Klasse – damals, als es noch Kindheit, Familie und Schule gab. Adam ist ein praktisch veranlagter, unbekümmerter Junge, der in den letzten Monaten schwere Arbeiten verrichtet hat, um seine Eltern zu unterstützen, während der wohlerzogene Thomas, Sohn eines Gymnasiallehrers, ein weltfremder Denker und Träumer ist, der sich im Elternhaus bis zuletzt mit Denkaufgaben und Schachrätseln beschäftigt hat. Als vom Autor bewusst so konzipierte charakterliche Gegenpole ergänzen sich die beiden perfekt und wachsen im Verlauf ihres Abenteuers zu echten Schicksalsbrüdern zusammen. Und indem jeder der beiden unablässig vom anderen lernt, führt uns Appelfeld unaufdringlich vor Augen, dass für das Überleben an diesem außergewöhnlichen Ort beide Charaktereigenschaften notwendig sind. Was bewahrt einen Menschen davor aufzugeben? Was hält ihn am Leben, wenn die Vorräte ausgehen? Welche Früchte und Wurzeln sind essbar? Wie kann man auch einen bitterkalten Winter im Wald überleben? Und was ist eigentlich Hoffnung?

Sie saßen am Bach blickten in das klare Wasser und schwiegen.
Der Bach ist ein lebendiges Wesen“, sagte Adam schließlich.
Willst du damit sagen, dass der Bach uns am Leben erhält?“
Nein, das meine ich nicht. Es ist schön anzusehen, wie das Wasser glitzert und sich bewegt. Die Augen genießen den Anblick des Wassers, und das Herz wird froh.“
Seltsam“, sagte Thomas.
Was ist daran seltsam?“
Mein Vater sagt immer, wir müssten von allen Dingen lernen. Aber was können wir vom Wasser lernen?“
Das ist schwer zu erklären. Wenn du gern zuschaust, wie das Wasser fließt, wirst du auch gern einen schlafenden Hund betrachten“, sagte Adam, und beide lachten.

Am ersten Abend im Wald teilen die beiden Jungen ihre Vorräte brüderlich miteinander und schlafen gemeinsam im Moos. Keiner von ihnen will zu Diana gehen, der mürrischen alten Haushaltshilfe von Adams Mutter, die gegen einen ins Futter des Mantels eingenähten Goldreif Unterschlupf gewähren soll. Schon am nächsten Tag beginnen sie, sich ein Baumhaus zu bauen, das sie von Woche zu Woche noch perfektionieren. Als nachts immer wieder in wilder Flucht Menschen unter ihrem Baum vorbeihetzen, sie immer häufiger auch Gewehrschüsse hören, ziehen sie tiefer in den Wald und später noch weiter ins Dickicht, wo sie sich einen neuen Unterschlupf bauen. Als der Herbst beginnt, legt ihnen ein Fremder, den sie bei ihren Erkundungsspaziergängen getroffen haben, Nahrungsmittel und eine Schutzplane unter einen Baum. Und dann begegnen sie ganz unverhofft ihrem persönlichen „Engel“ – einem „Mädchen, nicht von dieser Welt“, einer ehemaligen Schulkameradin, die von einem Bauern versteckt wird. Sie ist diejenige, die unter großer persönlicher Gefahr und Erduldung regelmäßiger Schläge die beiden Jungen mit ihren regelmäßigen unverhofften Lebensmittelgaben am Leben erhält.


Lichtblick/Foto: Rosa-Maria Rinkl


Als man in der Ferne bereits den Kanonendonner der Roten Armee hört, beginnt der Winter mit unerbittlicher Härte. Wäre nicht mittlerweile auf wundersame Art und Weise Adams Hund zu den beiden Jungen gestoßen, der sie nachts mit seinem Körper wärmt, hätten sie die erste Winterwoche nicht überstanden. Doch dann wird es noch kälter, und es hört einfach nicht auf zu schneien. Schließlich flüchtet sich auch das von den Schlägen ihres Retters zerschundene Mädchen zu den beiden Jungen. Die Lage der drei scheint endgültig hoffnungslos. Frierend liegen sie gemeinsam im Baumhaus und möchten am liebsten dem Drang nachgeben einzuschlafen. Doch da wird der Hund unruhig, fängt an zu bellen und springt aus dem Versteck. Was dann passiert, erinnert an den Traum des Mädchens mit den Schwefelhölzern aus Hans Christian Andersens berühmtem Kunstmärchen, denn die folgenden Ereignisse scheinen buchstäblich „zu schön für diese Welt“, und der Leser befürchtet bis zum Schluss, dass sich auch die Schlusswendung von Appelfelds Erzählung letztlich nur als schöner Traum vor dem Erfrieren entpuppt.

Adams Mutter sagte: „Wer hat unsere Kinder nur in diesem harten Winter beschützzt?“
Unsere Kinder sind vernünftig, sie selbst haben auf sich aufgepasst“, sagte Thomas' Mutter.
Adam wollte fragen, wo sein Vater und seine Großeltern waren, aber er schwieg. Tief im Herzen wusste er, dass es nicht der richtige Zeitpunkt für Fragen war.

Aharon Appelfeld ist mit seiner kleinen, märchenhaften Erzählung das eindrucksvolle Kunststück einer scheinbar konventionellen Abenteuergeschichte mit Happy End gelungen, in der trotz des wunderbaren Handlungsverlaufs stets deutlich der Schatten des „was wäre, wenn es böse ausginge“ mitschwingt. Diese im Leser stets präsente zweite Dimension der Handlung, die wir leider für ein Holocaust-Schicksal eher als symptomatisch annehmen müssen als das von uns herbeigesehnte glückliche Überleben der beiden Jungen im Wald, macht den möglichen Vorwurf der Simplifizierung oder Verharmlosung letztlich vollkommen unsinnig. Natürlich muss es trotz der unfassbaren Zahl von sechs Millionen Ermordeten immer auch möglich sein, einen alternativen Lebenslauf vollständig auszuerzählen, der die Verfolgung durch Nazi-Deutschland erfolgreich besteht: auch Rettung durch fremde Hilfe oder eigene Kraft war bekanntermaßen möglich. Appelfeld gelingt es auf selten dagewesene Art und Weise diese beiden Alternativen gleichzeitig zu erzählen, mit einer furchtbaren, unterschwelligen Suggestionskraft, wie wir sie sonst tatsächlich fast nur aus dem Märchen kennen.


Aharon Appelfeld/Foto: Marianne Fleitmann

Trotzdem bleibt der Autor stets im Bereich des objektiv Möglichen. Das für unsere Begriffe „Normale“, „Wünschenswerte“, „Menschliche“, scheint in seiner Erzählung nur deswegen wunderbar, exotisch und märchenhaft, weil es zuvor von den Nationalsozialisten willkürlich zur Ausnahme erklärt worden ist: als ausdrücklich und unter Strafandrohung nicht anwendbar auf Juden. Nur der dichte, von Menschenhand – und Menschengeist – unberührte Wald, auch als Symbol des Unbewussten sowie als unveränderlicher reiner Kern alles Menschlichen, vermag das unschuldige Leben zu bewahren und zu erneuern, damit es schließlich gestärkt und mit neuer innerer Kraft und neuem Bewusstsein aus dem Schatten hervortritt, um sich den Herausforderungen seiner Existenz zu stellen: das ist der unterschwellige Konsens des Unerzählten in Appelfelds Geschichte wie im klassischen Märchen. Nur die von den beiden gegensätzlichen Jungen repräsentierte Dualität aus Intellekt und Lebenskraft kann das von den Nationalsozialisten geschaffene Chaos in der äußeren Welt beseitigen. (Nicht zufällig heißt der eine Junge Adam, wie der erste und einzige Mensch, und der andere Thomas, was sich vom aramäischen Wort „Te'oma“=Zwilling ableitet.) Es ist leicht Appelfelds scheinbar simple Erzählung zu unterschätzten. Als gelungene Variation seines Lebensthemas fügt sie sich wunderbar in sein Gesamtwerk ein.

„Ein Mädchen, nicht von dieser Welt“, aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, erschienen bei Rowohlt Berlin, € 18,-


Sonntag, 27. Dezember 2015

Das Rätsel Trojas und die Buchstabensuppe der akademischen Lehre

Warum wir im Wüstensand nach Tonscherben graben


Angeregt von einem langen Gespräch mit Michael Köhlmeier über die Odyssee als möglicherweise ersten modernen Romanentwurf, habe ich mich im Verlauf des vergangenen Jahres in die Thematik des Trojanischen Krieges, die umstrittene Autorschaft Homers und den akademischen Streit um die geographische Lage Trojas sowie die wirtschaftliche und militärische Bedeutung der antiken Stadt eingelesen. Die unvermeidliche Begegnung mit dem akademischen Betrieb in Deutschland, den ich mit dem Verlassen der Universität endgültig hinter mir gelassen zu haben glaubte, hat mir schmerzlich vor Augen geführt, dass viele seiner Protagonisten auch in Zeiten fortgeschrittener Vernetzung immer noch die bequeme Isolation althergebrachter Methodik und jahrhundertealter wissenschaftlicher Tradition bevorzugen, anstatt die unbegrenzten Möglichkeiten interdisziplinärer Zusammenarbeit zu erkunden, die der technische Fortschritt und die Spezialisierung vieler Forschungsbereiche möglich gemacht haben: ein wachsamer Blick über den Tellerrand der akademischen Buchstabensuppe scheint vielen Altphilologen und klassischen Archäologen immer noch undenkbar.

Homer

Besonders deutlich wird das im unversöhnlich geführten Streit zwischen dem langjährigen Grabungsleiter in Troja, Manfred Korfmann (1942-2005), und dem Geoarchäologen Eberhard Zangger (geboren 1958), der Anfang der 1990er mit einer sensationellen Theorie an die Öffentlichkeit trat, die international weitgehend begrüßt und mit großem Interesse diskutiert wurde, in Deutschland aber bis heute vom akademischen Establishment fast einhellig abgelehnt wird. Zangger hatte nicht nur die Hypothese aufgestellt, dass der allgemeine Zusammenbruch der antiken Hochkulturen in Mesopotamien, Ägypten und im östlichen Mittelmeergebiet um das Jahr 1200 v. Chr. in direktem Zusammenhang mit der Vernichtung Trojas gesehen werden müsse, er vertrat auch die Auffassung, dass Troja die führende Macht innerhalb einer Militärkoalition der in ägyptischen Texten mehrfach erwähnten sogenannten „Seevölker“ gewesen sein müsse. Und er setzte noch eine weitere umstrittene Hypothese hinzu: die beiden mystischen Städte Troja und Atlantis seien in Wirklichkeit ein und dieselbe – Plato habe in seinem Bericht über Atlantis unwissentlich eine ägyptische Beschreibung des Untergangs von Troja verzerrt wiedergegeben. Zangger zog sich Ende der 1990er Jahre aus der Forschung zurück, während Korfmann bei seinen weiteren Ausgrabungen nach und nach immer mehr Hinweise fand, die die unbequemen Theorien seines langjährigen Gegners zu unterstützen schienen und nun den geläuterten Chefausgräber selbst zum Ziel bösartiger Angriffe seiner eigenen Zunft machten.

Die Ilias, der große Gesang über den Kampf um Troja, wurde nach Meinung der Forschung um das Jahr 800 v. Chr. schriftlich fixiert, ob basierend auf der genuinen Autorschaft eines Homer, scheint dabei weniger interessant als die Frage, ob es sich hier wesentlich um Dichtung im modernen Sinne handelt, Fiktion also, oder ob der Sänger reale Personen, Orte und Begebenheiten schildert. Alles, was innerhalb der letzten 150 Jahre zur Auffindung Trojas beigetragen hat (über dessen Lokalität bei Hisarlık an der anatolischen Mittelmeerküste heute kaum noch wissenschaftlicher Dissenz besteht) scheint dabei die revolutionäre Auffassung Heinrich Schliemanns (1822-1890) und seiner Informanten zu stützen, dass es sich wesentlich um reale Ereignisse handelt. Die Erfindung der Schrift und ihre Instrumentalisierung zu politischen und religiösen sowie später zu allgemeinen kulturellen Zwecken war zweifellos ein einschneidendes Ereignis, das unsere Auffassung von der Weitergabe von Wissen fundamental verändert hat. Bis heute ist es vorherrschende Meinung innerhalb der vermeintlich überlegenen westlichen Kultur geblieben, dass Wissen im Grunde nur schriftlich übermittelt werden kann, da mündliche Weitergabe zu unzuverlässig sei.

"Trojanisches Pferd", nach einer Vorlage von Henri-Paul Motte (1846-1922)

Hier lohnt es jedoch, einen Blick auf die sehr viel längere Kontinuität der östlichen Kulturen und ihre bewährte Tradition des klassischen Lehrer-Schüler-Verhältnisses zu werfen, das auch heute noch wie vor tausenden von Jahren nahezu unverändert existiert und das etwa in der klassischen Musik Persiens, Zentralasiens oder Indiens ganze Tonleitern, Melodiefolgen und Kompositionen absolut werkgetreu über Jahrhunderte weitergegeben hat. Innerhalb dieses geschlossenen Systems existiert auch Improvisation, in die der Vortragende seine eigenen Auffassungen und Interpretationen einbringen kann, aber das eigentliche Gerüst der jeweiligen Kunstform steht absolut fest, und es gibt auch keinerlei Disput über diese Form: auch mündliche Überlieferung ist – solange diese Tradition gepflegt wird – eine sichere Form der Wissensübermittlung. Es spricht sehr viel dafür – und das ist anders als in Deutschland heute international weitgehend unbestritten –, dass es sich mit der Überlieferung der Ilias ähnlich verhalten haben dürfte, bis um das Jahr 800 v. Chr. ein begabter Autor und Improvisator diese in schriftlicher Form fixiert hat. Man kann die Odyssee mit ihren zahlreichen märchenhaften Handlungszügen im Kontrast zur Ilias deshalb leicht als Dokument einer Zeitenwende betrachten, insofern sie viel deutlicher das Kunstprodukt eines Schriftstellers im heutigen Sinne ist, der ein Werk vollkommen eigenmächtig aus sich selbst heraus erschaffen und vollkommen frei ausgestaltet hat.

Burgmauer von Troja, Hisarlık, Türkei

Aus dieser Perspektive ist es gerade mit unserem umfangreichen Wissen über literarische Fiktion absolut naheliegend, die Ilias als historische Quelle ernst zu nehmen und gleichzeitig den Realitätsgehalt von Platons „literarischem“ Atlantisbericht, der 400 Jahre später entstanden ist – zu einem Zeitpunkt also, von dem wir schon eine herablassende Einstellung des Schriftkundigen gegenüber der mündlichen Überlieferung annehmen dürfen – zu bezweifeln: gerade weil jener in seinen beiden Dialogen Timaios und Kritias immer wieder betont, dass die von ihm im Rahmen seiner dialektischen Abhandlungen skizzierten Ereignisse absolut der Wahrheit entsprechen. Tatsächlich aber dienen sie vor allem seiner Beweisführung. Es gibt außerdem eine Argumentation in seinem Werk, die nicht besonders schlüssig scheint: zum einen behauptet er, dass die griechische Kultur sehr viel älter (und höher entwickelt sei) als die ägyptische, andererseits will er von Atlantis aber ausgerechnet aus schriftlichen Zeugnissen der ägyptischen Kultur erfahren haben, deren Schriftzeichen er gar nicht mächtig gewesen ist. Man darf den Wahrheitsgehalt der Atlantis-Erzählung also getrost als ebenso gering einschätzen wie den der von ihr inspirierten Bildungsutopien der mitteleuropäischen Renaissance sowie ihrer zahlreichen Parodien. Vermutlich deshalb hat Plato den mystischen Kontinent auch jenseits der Straße von Gibraltar angesiedelt, an einem gleichfalls mystischen Ort also, den zu erreichen zu seiner Zeit wohl niemand ernsthaft hoffen durfte. 

Ob hilfreich oder nicht: es ist ein unkonventioneller, aber faszinierender Gedanke, die mit militärischen Gewalt vernichtete Stadt Troja mit der durch Naturkatastrophen untergegangenen Stadt Atlantis gleichzusetzen. Da die klassische Archäologie dazu tendiert, ihr jeweiliges Forschungsobjekt entweder isoliert zu betrachten oder zu überhöhen, war es in höchstem Maße überfällig, Troja auch mit seiner Umgebung in Beziehung zu setzen, anstatt lediglich mit den gegen die Stadt anrennenden Griechen, die die Erinnerung daran auf eine Art bewahrt haben, die uns bis heute elektrisiert. Niemand würde in einem aktuellen politischen Konflikt ernsthaft in Betracht ziehen, einen Staat unabhängig von möglichen Verbündeten oder Konkurrenten in seiner unmittelbaren geographischen Umgebung zu betrachten, besonders dann nicht, wenn es sich um einen Staat im Binnenland handelt. Der Versuch Zanggers, Troja als identisch mit der in hethitischen Texten mehrfach erwähnten Stadt Wilusa und als wichtige Führungsmacht der Seevölker-Koalition anzusehen, ist zweifellos ein Schritt in die richtige Richtung. Diese Sichtweise besäße sogar die Universalität, Kernaussagen einer anderen umstrittene Troja-Hypothese der letzten Jahre in sich zu integrieren, in der der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Raoul Schrott (geboren 1964) behauptet, in der hethitischen Ruinenstätte Karatepe in der Südwesttürkei Homers wahren Wirkungsort und gleichzeitig ein ergänzendes Vorbild für seine Troja-Beschreibung erkannt zu haben: dann wäre Homer nicht nur derjenige, der eine bis dahin lediglich mündlich überlieferte Geschichte aufschreibt, sondern sie auch an seiner Wirkungsstätte, die logischerweise nicht mit einem existenten Troja übereinstimmt, mit weiteren Details ausschmückt, die auf die Topographie dieses Ortes zutreffen.

Tonscherbe aus Troja, Hisarlık, Türke

Warum aber streben wir überhaupt danach, eine so weit zurückliegende Vergangenheit bis ins kleinste Detail verstehen zu wollen? Warum verteidigen wir unsere eigenen Theorien bis aufs Blut und wollen sie als einzig gültige Wahrheit allgemein anerkannt und fest im Gedächtnis unserer Kultur verankert sehen? Die Vergangenheit ist die einzige Zeitspanne, über die wir fälschlicherweise bestimmen zu können glauben, weil sie bereits unwiderruflich abgeschlossen ist. Durch Theorien und Hypothesen glauben wir sie sogar, noch endgültiger gestalten zu können, obwohl wir gerade bei einer so weit zurückliegenden Vergangenheit wie jener der mythischen Stadt Troja eigentlich anerkennen müssten, dass die Fähigkeiten des menschlichen Geistes zu beschränkt sind, sie endgültig zu durchdringen und wahrheitsgemäß wiederzugeben. Selbst unsere eigene Vergangenheit, unsere ganz persönlichen Leidenschaften und Bindungen vermögen wir nicht angemessen wiederzugeben, weder mündlich noch schriftlich – vielleicht sogar am wenigsten in schriftlicher Form. Mit diesem Dilemma müssen wir leben. Es ist der Grund, warum wir in der Erde nach Scherben graben: weil wir glauben, dort den funkelnden Schatz einer allgemeingültige Wahrheit zu finden, die wir im Alltag nicht zu suchen wagen.


Montag, 7. Dezember 2015

Einfalt statt Vielfalt

Zum nachlassenden Leserinteresse an hebräischer Literatur in deutscher Übersetzung 

 

Nachdem israelische Literatur im deutschen Sprachraum über einen bemerkenswerten Zeitraum von fast einem Vierteljahrhundert aufgrund zahlreicher Übersetzungen aus dem Hebräischen mit Autoren wie Amos Oz, David Grossman oder Zeruya Shalev nicht nur in den Medien ausgesprochen präsent war, sondern vom Publikum auch viel gekauft (und vermutlich gelesen) wurde, haben die deutschsprachigen Verlage nun schon seit Jahren ein stetig nachlassendes Interesse an zeitgenössischer Literatur aus Israel zu beklagen. Die mittlerweile weit hinter den Erwartungen der Verlage zurückbleibende Nachfrage der Leserschaft scheint sich dabei allerdings nicht mit dem anhaltenden wohlwollenden Interesse der deutschen Literaturkritik zu decken: auch heute noch finden wir ebenso in den Printmedien wie in Funk und Fernsehen immer noch zahlreiche leidenschaftliche und zum Teil sehr fundierte Beiträge über israelische Literatur. Wie kommt es also, dass die Verlage die kostenlose Publicity der Medien augenscheinlich nicht mehr unmittelbar in zählbaren Buchumsatz verwandeln können?

Hierzu ist zunächst zu bemerken, dass die Rezeption von Literatur in Deutschland allgemein demokratischer geworden ist. Während sich die klassischen Medien unter dem Kostendruck dramatisch schrumpfender Umsätze und der ungeliebten Maßgabe ihrer Finanzabteilungen zunehmend auf allgemein anerkannte, schematisch vordefinierte Zielgruppen zurückziehen und mit dem allgemeinen Anspruch auch ihre Attraktivität immer weiter sinkt, nimmt die Nutzung unabhängiger, zum Teil hochgradig spezialisierter Blogs und weiterer kostenloser Angebote im Internet weiter zu. Die klassische Literaturkritik mit ihren omnipräsenten Protagonisten, die sich als allgemein verbindliches ästhetisches Weltgericht begriffen, gibt es heute nicht mehr. Verzweifelte Versuche des Fernsehens, ein anachronistisches Sendeformat wie „Das literarische Quartett“ wiederzubeleben, das schon zu Lebzeiten seiner bekanntesten Protagonisten vor allem von deren subjektivem Unterhaltungswert lebte, (ihrem kaum gebremsten Willen auch, ein literarisches Werk oder einen Autor zu ihren eigenen Gunsten bewusst zu vernichten oder zu überhöhen,) müssen deshalb zwangsläufig scheitern, solange die Fernsehsender zu Recht davor zurückschrecken, die Literatur wieder zum dankbaren Objekt arroganter Selbstdarstellung zu degradieren.


Amos Oz mit seiner Übersetzerin Mirjam Pressler/Foto: Wikimedia


Die Zuschauer indessen scheinen nach wie vor jene plakativen polarisierenden Ansätze zu honorieren, die der Literatur naturgemäß niemals gerecht zu werden vermögen: anders lässt es sich kaum erklären, warum eine Sendung, in der der wohlgenährte Rezensent Bücher über eine Rutsche spektakulär in den Müll befördert, heute immerhin noch das erfolgreichste Format unter zahlreichen nach dem üblichen System der Einschaltquote kaum messbaren Beiträgen ist. Ein subjektives Urteil von Marcel Reich-Ranicki wurde noch vor zwanzig Jahren von vielen Zuschauern als allgemein verbindlich hingenommen und löste in nicht wenigen von ihnen einen direkten Kaufimpuls aus. Heute versuchen sich die meisten Literaturkritiker einem Buch auf sehr viel objektivere und sensiblere Art und Weise zu nähern, indem sie das jeweilige Werk in viel stärkerem Maße als individuelle künstlerische Ausdrucksform seines Schöpfers beurteilen und auch die Intentionen des Autors und den Entstehungsprozess des Buches in seinem Gesamtzusammenhang sowie seine mögliche Relevanz für den gesellschaftlichen Diskurs zu berücksichtigen versuchen. Das mag auf den ersten Blick weniger unterhaltsam scheinen, ist aber für den Literaturliebhaber ohne Zweifel eine kapitale Errungenschaft, selbst wenn man sich vor Augen führt, dass Literaturrezeption immer auch einem starken subjektiven Impuls zugrunde liegen muss.

Doch zurück zur israelischen Literatur in deutscher Übersetzung. Israelische Literatur muss, sofern sie die innerhalb der israelischen Gesellschaft ablaufenden Prozesse einigermaßen angemessen widerzuspiegeln vermag, den deutschen Leser aus zwei wichtigen Gründen auf ganz unmittelbare und deutlich nachvollziehbare Art und Weise bewegen. Zum einen wirkt sich bekanntermaßen die Katastrophe der Schoah als tragische Klimax einer langen gemeinsamen Geschichte sowohl in psychologischer als auch in soziologischer Hinsicht deutlich messbar auf alle seither lebenden Generationen in Israel wie in Deutschland aus. Als kleines, besonders prägnantes Beispiel sei nur das Schweigen der Täter-/Opfer-Generation genannt, das hier wie dort gleichermaßen wirksam war und ist. Zum anderen wird in Israel bereits seit Jahrzehnten ein Konflikt ausgetragen, der sich direkt aus dem fundamentalen Überlegenheitsgefühl des europäischen Kolonialismus gegenüber einer vermeintlich unterentwickelten Umwelt speist, dessen nahezu ungelöst ins 21. Jahrhunderte übernommene Auswirkungen wir aber hierzulande in ihrer ganzen Tragweite möglicherweise erst jetzt zu verstehen (und hoffentlich anzunehmen) beginnen scheinen, da der aus ihnen entstandene Terrorismus seine Herkunftsregion verlässt und wir auch hier mit Selbstmordattentaten konfrontiert sind.


Büchertisch mit Werken von Lizzie Doron/Foto: Stefan Röhl

Dass israelische Literatur überhaupt über einen so langen Zeitraum auf dem deutschen Buchmarkt so weit verbreitet war, hatte aber noch einen weiteren gewichtigen Grund, den man mit einiger Berechtigung als wichtigste Vorbedingung für diesen langanhaltenden Erfolg diagnostizieren muss: Israel unterhält zur Förderung seiner Literatur in Gestalt des sogenannten Institute for the Translation of Hebrew Literature ein vergleichsweise hoch entwickeltes staatliches Förderungssystem. Um die Übersetzung israelischer Schriftsteller in andere Sprachen wirksam zu unterstützen wird diese in aller Regel zunächst vom israelischen Staat subventioniert. Erst nach erfolgter Finanzierung der Übersetzung (und nicht wie sonst üblich davor) wird die Lizenz an einen möglichen Interessenten im Ausland verkauft, so dass der größte übliche Kostenfaktor für einen Verlag und das bedeutendste verlegerische Wagnis zunächst einmal ausgesetzt werden. Was nun auf den ersten Blick wie ein absoluter Glücksfall für die israelische Literatur erscheint, müssen wir auf lange Sicht jedoch als möglicherweise entscheidendes Hemmnis für eine wirklich anhaltende realistische Rezeption israelischer Literatur im Ausland betrachten, denn die politisch motivierte Vergabepraxis der Fördermittel hat sich über die Zeit als durchaus tendenziös im Sinne einer inhaltlichen Vorzensur erwiesen.

Wer in den letzten fünfundzwanzig Jahren also israelische Literatur gelesen hat, muss sich der Tatsache bewusst sein, dass er dies unwissentlich (und vermutlich ohne es zu wollen) auch auf Kosten einer politisch unabhängigen Literatur getan hat, die in Israel sehr wohl gelesen und weithin diskutiert wird, aber sich nach offiziellem politischen Willen offenbar nicht auf das Israelbild von Außen auswirken soll. Nun ist die israelische Literatur ohne Zweifel reich genug, um den skizzierten Mangel über einen gewissen Zeitraum zu überbrücken, zumal allgemeine literarische Themenkreise, die wesentliche Kernaussagen des Zionismus nicht weiter in Frage stellen, sowie eine hoch entwickelte Literaturlandschaft, die sich mit den Nachwirkungen der Schoah befasst, bereits ein dankbares Spektrum abdecken, das dem interessierten Leser in Deutschland, Österreich oder der Schweiz viel über die israelische Lebenswirklichkeit sowie Unterschiede zu und Gemeinsamkeiten mit seiner eigenen aufzuzeigen vermag. Jeder erfahrener Leser israelischer Literatur wird sich jedoch auf lange Sicht mindestens einmal die Frage gestellt haben, warum er jene andere Lebenswirklichkeit im Jüdischen Staat, wie sie uns tagtäglich in den Fernsehnachrichten begegnet, in den Werken, die ihm in deutscher Übersetzung angeboten werden, so gut wie nicht widergespiegelt findet.



Eshkol Nevo, Arne Schneider, Arye Sharuz Shalicar/Foto: Stefan Röhl

Wir sehen uns also seit Jahrzehnten mit der außergewöhnlichen, nicht wenig absurden Situation konfrontiert, dass der deutschsprachige Leser gerne mittels unabhängiger Literatur etwas über die Befindlichkeiten Israels erfahren möchte, aber über einen vergleichsweise langen Zeitraum vom Institute for the Translation of Hebrew Literature lediglich ein oberflächliches zionistisches Standardprogramm angeboten bekommen hat, das sein berechtigtes Interesse an politisch unabhängigen literarischen Sichtweisen auf mittelfristige Sicht nicht zu befriedigen vermochte. Dieses beklagenswerte Dilemma vermag die bestehende Praxis staatlich subventionierter Übersetzungen nicht aufzulösen. Wir müssen im Gegenteil davon ausgehen, dass im bewusst aufrecht erhaltenen Schatten staatlicher israelischer Literaturförderung eine Fülle guter, aufschlussreicher, zum Teil subversiver Literatur schlummert, die unter den gegebenen Umständen für den deutschsprachigen Leser bis auf wenige Ausnahmen vermutlich niemals gehoben werden wird.

Die deutschsprachigen Verlage haben diese literaturferne Praxis in Kauf genommen und den Leser auf diese Weise derart unterfordert, dass sein Interesse an israelischer Literatur zwangsläufig erlahmen musste, weil er unter diesem unvollständig-parteiischen Eindruck fälschlicherweise glauben muss, sie habe ihm nichts zu bieten. Leider machen die Medien und das hiesige Kulturestablishment unwissentlich gemeinsame Sache mit dem israelischen Literaturförderungssystem: so werden Werke von mediokren israelischen Autoren mit tadellosem zionistischen Leumund in Unkenntnis ihrer nicht übersetzten Kollegen regelmäßig als bedeutende Schriftsteller gepriesen und wieder andere, die aufgrund ihrer Aussagen auch für den nicht allzu kritischen Betrachter leicht dem linkskonservativen zionistischen Spektrum zuzuordnen sind, gelten vollkommen zu Unrecht als Aushängeschilder der israelischen Friedensbewegung. Das nachlassende Interesse deutschsprachiger Leser an israelischer Literatur ist angesichts der oben dargelegten Gründe also alles andere als verwunderlich, sondern muss als geradezu zwangsläufiger Prozess enttäuschter Erwartungen betrachtet werden. Dass diese Entwicklung zu Unrecht auch aktuelle Werke betrifft, die man schon allein aus objektiven literarischen Gründen als Bereicherung für den deutschen Buchmarkt beurteilen muss, ist ein unangenehmer Nebeneffekt, den die betroffenen Verlage zumindest vorübergehend hinnehmen müssen. 


Israelisches Literaturmagazin "Biglal"

Das scheinbar nachlassende Interesse der allgemeinen Leserschaft an israelischer Literatur sollte Verlage in Deutschland, Österreich und der Schweiz jedoch nicht dazu bewegen, weniger Übersetzungen aus dem Hebräischen zu veröffentlichen, sondern allenfalls besser zu prüfen zu versuchen, was das jeweilige herauszugebende Werk dem potentiellen Leser zu sagen vermag, ohne dabei auf das erstbeste Angebot des Institute for the Translation of Hebrew Literature hereinfallen zu müssen – schließlich wird im Umkehrschluss ein israelischer Leser ebenfalls wenig daran interessiert sein, die Lieblingsautoren von Angela Merkel oder Sigmar Gabriel in hebräischer Übersetzung zu lesen. Letztlich kann es für deutschsprachige Verlage in der Frage israelischer Literatur jenseits naheliegender wirtschaftlicher Erwägungen ohnehin nur eine einzige Maßgabe geben, die überdies auch für die Literaturen aller anderen Sprachen zur Anwendung kommt: die Erschließung guter Literatur ist immer ein Wagnis, für dessen Gelingen es keinerlei Garantie geben kann. Gerade das macht die Herausgeberschaft auf einem offenen Markt so spannend – letztlich auch für den Leser.


Freitag, 4. Dezember 2015

„Böse Absichten“ von Keigo Higashino

Es gibt derzeit international kaum einen originelleren Krimiautoren als den Japaner Keigo Higashino, dem es mit jedem einzelnen seiner Romane immer wieder aufs Neue gelingt, den eng gesetzten Grenzen des klassischen Kriminalromans scheinbar mühelos ganz neue Seiten und überraschende Perspektiven hinzuzufügen, weil er sich anders als viele seiner erfolgreichen Kollegen offensichtlich nicht damit zufrieden gibt, lediglich die immer wieder gleiche Geschichte unter leicht veränderten Vorzeichen, mit neuem Personal oder anderen Mitteln neu zu erzählen, sondern den bemerkenswerten Ehrgeiz besitzt, den Rahmen des erzählerisch Möglichen für sich ständig spielerisch zu erweitern. Zu Rühmen sind besonders sein beeindruckendes psychologisches Gespür für die „ganz normalen“ Abgründe der fragilen menschlichen Seele, die er in seinen außergewöhnlichen Plots stets mit außergewöhnlicher Empathie virtuos auslotet. Die beiden bisher erschienenen weithin gelobten Bände um den genialistischen Physik-Professor Yukawa, der mit seinem außergewöhnlichen Sinn für Logik im Auftrag seines ratlosen Freundes Kusanagi von der Tokioter Kriminalpolizei in Sherlock-Holmes-Manier die kompliziertesten Fälle löst, gehören zum absolut besten, was das Genre aktuell zu bieten hat. Besonders reizvoll dabei ist der ebenso kluge wie schöne Kunstgriff des Autors, den Leser dabei ganz gezielt auch emotional für den jeweiligen Mörder und seine im Grunde edlen Motive einzunehmen und ihn auf diese Weise bis zum überraschenden Schluss von ganzem Herzen mitleiden und hoffen zu lassen, dass der „unschuldig“ schuldig Gewordene vom sanften Geistesriesen Yukawa nicht enttarnt wird. Und letzterem geht es mitunter genau so.






Mit dem in etwas bescheidenerer Ausstattung lediglich als Softback erschienenen Band „Böse Absichten“ startet der Klett-Cotta-Verlag nun eine zweite auch international erfolgreiche Krimireihe des japanischen Bestsellerautors um den wortkargen Polizeikommissar und ehemaligen Gymnasiallehrer Kyochiro Kaga, die kaum weniger vielversprechend beginnt als die viel gelobten Yukawa-Bände, und die folgerichtig schon im nächsten Frühjahr mit dem bereits angekündigten Titel „Ich habe ihn getötet“ fortgesetzt werden soll. Dabei fällt es ausgesprochen schwer, viel schwerer als bei allen anderen bisher auf Deutsch erschienenen Romanen von Keiga Higashino, den Inhalt seines Buches einigermaßen vollständig zusammenzufassen, ohne dem Leser dabei schon vorab die Spannung an der geistreich-kurzweiligen Lektüre zu nehmen. Im Auftaktkapitel des Buches beschreibt der mäßig erfolgreiche Kinderbuchautor Osamu Nonoguchi im Stile einer persönlichen Chronik, wie er selbst gemeinsam mit der jungen Ehefrau seines ehemaligen Schulkameraden und langjährigen Freundes Kunihiko Nidaka am Vorabend des lange geplanten Aufbruchs des gefeierten Literaten und Bestsellerautors zu einem mehrmonatigen Auslandsaufenthalt nach Kanada dessen Leichnam in der bis auf das Arbeitszimmer bereits leergeräumten gemeinsamen Wohnung des Ehepaars aufgefunden hat. Der Erfolgsschriftsteller ist offensichtlich mit einem stumpfen Gegenstand von einem möglicherweise durch das offene Fenster eingedrungenen Unbekannten erschlagen worden.


Es geschah am 16. April, es war ein Dienstag.
Um halb vier Uhr nachmittags verließ ich das Haus und machte mich auf den Weg zu Kunihiko Hidaka, der nur eine Haltestelle mit der Bahn entfernt wohnte. Von dort muss man zwar noch kurz mit dem Bus fahren, dennoch braucht man, wenn man den Fußweg hinzuzählt, alles in allem nur etwa zwanzig Minuten.
Für gewöhnlich besuchte ich Hidaka auch häufig ohne besonderen Grund, aber an diesem Tag hatte ich einen. Es war die letzte Gelegenheit, ihn zu sehen, bevor dies für längere Zeit nicht mehr möglich sein würde.

Nonoguchis vollständige, überzeugend klingende Beschreibung der tragischen Ereignisse legt ganz nebenbei nahe, dass sein erfolgsverwöhnter Freund möglicherweise ein der Öffentlichkeit unbekanntes dunkles, gewalttätiges Geheimnis aus Schultagen besessen habe. Es habe seinerzeit nicht nur den beklagenswerten Fall eines gleichaltrigen Jungen in ihrer gemeinsamen Klasse gegeben, der von einer Schülerclique über Monate hinweg  aufs grausamste gequält und misshandelt wurde, sondern auch einen nie ganz aufgeklärten Vorfall von Beihilfe zur Vergewaltigung einer Mitschülerin. Von diesen beiden Ereignisse handele aus erstaunlich gut unterrichteter Perspektive auch einer von Nidakas frühen Bestsellern. Außerdem habe ihm der Schriftsteller zu seinem nicht geringen Erschrecken am Tag vor seinem Tode mit unverhohlenem Amüsement gestanden, den aufdringlichen kleinen Hund seiner resoluten Nachbarin vergiftet zu haben. Weitere charakterliche Mängel seines Freundes werden von Nonoguchi in durchaus augenfälliger Regelmäßigkeit immer wieder wie beiläufig erwähnt, so dass sich im Leser unwillkürlich ein Bild des Ermordeten als das eines skrupellosen erfolgssüchtigen Egomanen verfestigt, um den es möglicherweise – so der unausgesprochene Subtext – nicht weiter schade sei. Umso überraschter müssen wir am Ende des ersten Buchteils einen radikalen Bruch in der Erzählung des Kinderbuchautors hinnehmen, als dieser von seiner auch für ihn selbst überraschenden Verhaftung als Haupttatverdächtiger berichtet, womit seine Aufzeichnungen abbrechen.


Haus in Tokio/Foto: Japaga


Im zweiten Buchteil berichtet Kommissar Kaga persönlich vom aktuellen Stand seiner polizeilichen Ermittlungen, und nach Prüfung der von ihm ausführlich dargelegten objektiven Fakten müssen wir nun irritiert konstatieren, dass die Festnahme Nonoguchis absolut unvermeidlich war. In dem ein paar Jahre zurückliegenden, offensichtlich fingierten tödlichen Unfall von Nidakas Ex-Frau, die im Geheimen mit dem Verdächtigen liiert war, und einer möglicherweise mehr als zehn Jahre andauernden Ausnutzung von dessen schriftstellerischer Kreativität durch den Ermordeten (so existieren zahlreiche Originalmanuskripte von Nidakas Werken in Nonoguchis Handschrift) liegen gleich zwei überzeugende mögliche Tatmotive vor. Da Kommissar Kaga und Nonoguchi vor vielen Jahren für kurze Zeit an derselben Schule unterrichtet haben, bevor sie sich für andere Berufe entschieden, macht sich der akribische arbeitende Polizist die Ermittlungen jedoch alles andere als leicht, zumal er seinerzeit stets eine gewisse Sympathie für den zurückhaltenden und bescheidenen Kollegen empfunden hatte. Schon bald tauchen jedoch ohne großen Ermittlungsaufwand wie durch Zufall mehrere scheinbar unwiderlegbare Beweise auf, die Nonoguchis Schuld eindeutig zu manifestieren scheinen, zu eindeutig, wie Kommissar Kaga meint. Dass sein Ex-Kollege die Tat begangen hat, steht für ihn außer Frage, mit den von ihm angebotenen Motiven will er sich jedoch nicht zufrieden geben, denn alles, was vertrauenswürdige Zeugen über den ermordeten Kusanagi aussagen, dessen guter künstlerischer Ruf durch die von der Presse genüsslich verbreiteten Plagiatsvorwürfe inzwischen vollkommen zerstört ist, lässt viele der bisherigen Ermittlungsergebnisse zweifelhaft erscheinen.

Warten Sie einen Moment“, sagte ich. „Müssen wir das unbedingt in dieser Form machen?“
Wie meinen Sie das?“
Es wird eine längere Geschichte. Ich würde gern Einiges davon zuvor in meinem Kopf ordnen. Es wäre mir unangenehm, wenn ich beim Erzählen nicht den richtigen Ton treffe.“
Sie bekommen das Protokoll noch einmal zu lesen.“
Ich weiß, aber es liegt mir sehr viel daran. Wenn ich schon gestehe, dann möchte ich es mit meinen eigenen Worten tun.“
Kommissar Kaga schwieg einen Moment.
Das heißt, Sie wollen Ihr Geständnis selbst schreiben?“, fragte er dann.
Wenn Sie erlauben.“
Einverstanden. Wie lange werden Sie brauchen?“
Einen Tag, vermute ich.“
Kommissar Kaga war einen Blick auf seine Uhr. „Gut, dann komme ich morgen Abend wieder“, sagte er und stand auf.

Im weiteren Verlauf des Buches schickt uns der kluge Autor durch ein Wechselbad des Zweifels – auch an uns selbst und unsere Erwartungen an einen Kriminalroman, denn es gelingt Keigo Higashino scheinbar ganz mühelos, mit jedem neuen Kapitel eine weitere überraschende Wendung herbeizuführen und den Leser so ganz nebenbei zu einer umso aufmerksameren, hochkonzentrierten Lektüre zu erziehen, wie er sie lange nicht erlebt haben dürfte. Können wir unserer Wahrnehmung trauen? Wie leicht lassen wir uns nicht nur als Leser, sondern vielleicht auch in unserem privaten Alltag von so unterschiedlichen (und scheinbar gegensätzlichen Motiven) wie Empathie oder rationalen Argumenten täuschen? Durch ein weiteres schriftliches Geständnis über den angeblichen Tathergang wirft der unheilbar an Krebs erkrankte Nonoguchi aus der Untersuchungshaft heraus nur noch mehr Fragen auf, so dass sich der besonnene Kommissar gezwungen sieht, auch gegen den Willen seines Vorgesetzten noch tiefer in die Vergangenheit der beiden Schriftsteller einzudringen. Kann am Ende auch ein scheinbar belangloser, aus unbeteiligter Perspektive vollkommen irrational scheinender Grund das überzeugendste Tatmotiv sein? Keigo Higashino zeigt sich in seinem ersten Kommissar-Kaga-Roman auch formal noch experimentierfreudiger als wir es aus seinen bisher auf deutsch erschienenen Büchern gewohnt sind. Ganz nebenbei erfahren wir dadurch noch unmittelbarer, was polizeiliche Ermittlungsarbeit bedeutet, denn bevor uns der ermittelnde Kommissar am Ende seine überraschende Schlussfolgerung präsentiert, dürfen wir eine ganze Reihe wichtiger Zeugenaussagen ganz ungefiltert gleichsam wie aus der Ermittlungsakte heraus studieren.

Keigo Higashino

Anders als in den zu Recht gelobten und auch im deutschen Sprachraum kommerziell erfolgreichen Professor-Yukawa-Bänden, in denen unsere ganze Sympathie letztlich den „unschuldigen“ Mördern gehört (sowie den Personen, die sie durch ihre Tat schützen), dürfte in diesem ersten auf Deutsch erschienenen Kaga-Roman wohl niemand ernsthaft Mitleid mit dem kaltblütig und geradezu antisozial agierenden Täter empfinden. In einem formal bestechenden, unkonventionell erzählten und stets unterhaltsamen Psychokrimi um künstlerische Eitelkeit, unversöhnlichen Neid und blinde Zerstörungswut setzt Keigo Higashino seine sensibel-fundierte literarische Erkundungsreise in die Psychopathologie von Mördern auf bestechende Art und Weise fort. Die im Buch geschilderten Charaktere und sozialen Milieus sind vom Autor gerade auch in ihrer Unterschiedlichkeit mit bemerkenswertem psychologischen Einfühlungsvermögen und sicherem Blick für das individuelle Detail überzeugend ausgestaltet. Durch sein virtuoses literarisches Spiel mit unseren Vorurteilen, emotionalen Reflexen und Erwartungen an das Genre löst Higashino eine latente Verunsicherung im Leser aus, die weit über die Lektüre des Romans hinausreicht und insgesamt ein realistisches Bild unserer umfassenden Machtlosigkeit zeichnet, die wir angesichts von spontaner und systematischer Gewalt in unserem Alltag empfinden müssen. Auf den nächsten, für Ende April 2016 angekündigten Band der Reihe, in dem Kommissar Kaga mit nicht weniger als drei geständigen Tatverdächtigen konfrontiert wird, darf man sich jetzt schon freuen!

„Böse Absichten“, aus dem Japanischen von Ursula Gräfe, erschienen bei Klett-Cotta, 255 Seiten, € 14,95