Jerusalem

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Mittwoch, 27. April 2016

„Pici“ von Robert Scheer

Die internationale Literaturlandschaft hat bereits eine große Anzahl treffender und aufwühlender Berichte über den Leidensweg einzelner Personen oder Gruppen innerhalb der monströsen Tötungsmaschinerie des Nationalsozialismus während des Zweiten Weltkriegs hervorgebracht. Diese schmerzvolle Vergegenwärtigung jener uns heute selbst noch in kleinsten Details auf qualvolle Weise in größtem Detailreichtum bekannten, jedoch kaum annähernd mit Worten wiederzugebenden Verbrechen am europäischen Judentum ist vollkommen richtig und absolut notwendig, denn anders als die sittlich und moralisch verrohten Nationalsozialisten, in deren menschenverachtender, emotional und geistig vollkommen unreifer Ideologie die Vorstellung vom Individuum keinen Platz hatte und nur das Wohl der imaginäre Elite ihrer auserwählten „Volksgenossen“ zählte, besteht selbst ein kollektives Schicksal wie das der verfolgten Juden innerhalb der Schoah aus unendlich vielen Einzelschicksalen, die sich trotz des für sie von ihren schamlosen Verfolgern unerbittlich vorgezeichneten Wegs in die fabrikmäßige Ermordung zum Teil erheblich voneinander unterschieden.



Nicht weniger als sechs Millionen jüdische Todesopfer haben wir als Folge des zügellosen zwölfjährigen Wütens der Nationalsozialisten zu beklagen, dessen gefühlter Schaden locker für die sprichwörtlich gewordenen „tausend Jahre“ ausreicht, die Hitlers Deutschland nach eigenem Bekunden bestehen bleiben wollte: Mehr sinnlos hingemordete unschuldige Menschenleben als moderne Staaten wie Dänemark, Jordanien oder Neuseeland heute an Einwohnern zählen. Allein wenn man diese unermessliche, im Grunde staatstragende Zahl in Ziffern wiedergibt: 6.000.000, bekommt man eine erste furchtbare Ahnung ihrer Tragweite. Aber um wirklich zu begreifen, über was für ein ungeheuerliches, monströses Verbrechen wir hier reden, sollte man einmal ernsthaft versuchen, die absolute Opferzahl als Strichliste wiederzugeben, besser noch jedoch als Namensliste. (Eine gute, aber vermutlich aussichtslose potentielle Strafarbeit übrigens auch für hartnäckige Holocaust-Leugner.)

Sechs Millionen nicht fertig ausgelebte Leben haben wir zu beweinen. Sechs Millionen ganz gewöhnliche Menschen mit Träumen, Plänen und mannigfaltigen sozialen Bindungen, denen von ihren grausamen Verfolgern jedes Recht abgesprochen wurde, ein selbstbestimmtes, unabhängiges Leben in Freiheit weiterzuführen. Denn hierin besteht das wesentliche Verbrechen der Nationalsozialisten: im millionenfachen grausamen, blindwütigen Verhindern des natürlichen Rechts ihrer unschuldigen Opfer auf ein freies, selbstbestimmtes Leben, so banal und friedlich es sich unter Umständen auch zu sein träumt. Die Überlebenden mit ihren unausprechlichen, jahrzehntelang fortwirkenden Leiden und den sich daraus ergebenden vielfältigen, lebenslang anhaltenden Traumata sind in dieser ungeheuerlichen Zahl noch nicht einmal erfasst. Um aber diese unermessliche, kaum zu fassende Unzahl an Opfern – Ermordeten wie Überlebenden – dennoch wenigstens annähernd nicht nur verstandesmäßig, sondern auch emotional begreifen zu können, ist es nicht nur nützlich, sondern geradezu absolut unverzichtbar, sich mit den persönlichen Zeugnissen der Betroffenen zu beschäftigen, denn in ihnen finden wir auch uns selbst in unseren eigenen Plänen, Träumen und Wünschen am ehesten widergespiegelt.

Wie viele andere Jüdinnen und Juden ihrer Generation muss auch Pici schon als kleines Mädchen von einem Tag auf den anderen leidvoll erfahren, dass sich etwas ganz Grundlegendes in der Beschaffenheit der Welt verändert zu haben scheint. Obwohl sie selbst sich überhaupt nicht verändert hat, allenfalls ein bisschen gewachsen ist vielleicht, oder ein Jahr älter geworden, erfährt sie plötzlich völlig unvorbereitet Diskriminierung in dem Verhalten von Nichtjuden, Amtsträgern und Institutionen, blanken Hass sogar, unsanktionierte Feindseligkeit. Und trotz der sorgenvollen, gedämpften Gespräche der Erwachsenen über die politische Entwicklung in Deutschland begreift sie nicht, was plötzlich anders sein soll: Eine Jüdin war sie schon immer, seit ihrer Geburt, was immer das heißen mag, aber plötzlich darf man ihr ungehindert und ungestraft mit grundlosem, offenem Hass und handgreiflicher Feindseligkeit begegnen. Darf sie ohne jede juristische Konsequenz beschimpfen, sogar schlagen. Und trotz bester Leistungen in der Schule – die deutsche Schule darf sie nicht mehr besuchen – wird ihr immer wieder die verdiente Anerkennung verwehrt. Von staatlicher Stelle sogar, der doch normalerweise eine neutrale, unabhängige Position zu eigen sein sollte. Was für eine niederschmetternde Erfahrung für ein junges Mädchen: dass es keine Objektivität erwarten darf, dass es keine Verlässlichkeit gibt. Man hört sogar von Juden, die aus dem Zug geworfen, geschlagen oder am Bart durch die Straßen geschleift werden. Warum das alles – wer kann es begreifen? Nicht einmal die Erwachsenen können das.



Ankunft ungarischer Juden in Auschwitz/Foto: Bundesarchiv

Die Pathologie der nationalsozialistischen Weltanschauung ist voller massiver psychologischer Widersprüche. Ohne den jeder objektiven Grundlage entbehrenden, durch und durch irrationalen und paranoid übersteigerten Hass auf alles Jüdische – auch das nur angenommene, klischeehafte oder vorurteilsbehaftete – wäre  die destruktive Ideologie der Nazis sogar vollkommen undenkbar. Warum aber hat der Nationalsozialismus all seine gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und militärischen Ressourcen ausschließlich auf das krankhafte und in jeder Hinsicht (auch für ihn selbst) ruinöse Ziel verschwendet, das in seinen zahlreichen verschiedenen Erscheinungsformen überaus vitale und kulturell reiche europäische Judentum auzulöschen und sich die ganze zivilisierte Welt zum Feind zu machen?

Wenn ein erwachsener, reifer Mensch (oder eine Gruppe) sich aus welchen Gründen auch immer von einem anderen Menschen (oder einer anderen Gruppe) gestört oder in seinem natürlichen Streben nach Selbstverwirklichung behindert fühlt, reagiert er innerhalb einer zivilisierten, kulturell und moralisch halbwegs normal entwickelten Gesellschaft gewöhnlich, indem er den jeweiligen Gegner ignoriert und ihm aus dem Weg geht, um sich auf seine eigenen Anliegen zu konzentrieren oder ihn mit sachlichen Argumenten zu bekämpfen. Die Nationalsozialisten jedoch waren von ihrem fanatischen Antisemitismus so besessen, dass sie alle ihre Ressourcen dem einen schändlichen Ziel unterordneten, das sie in ihrem obskuren Weltbild und labilen Selbstverständnis Störende zu vernichten. Sie benötigten ihre krankhaft verzerrte Vorstellung vom Judentum dringend um die eigene Leere und tief verinnerlichte Minderwertigkeit zu kompensieren. Durch die Vernichtung des Objekts ihres Hasses hofften sie, endlich jene Bedeutung und Anerkennung zu erlangen, die jedem Menschen gebührt.

Die seriöse Geschichtswissenschaft liefert uns in eine ganze Anzahl plausibel klingender Erklärungen für das Undenkbare: autoritäre Erziehungsmodelle, der Erste Weltkrieg, Versailles, eine internationale Welle irrationaler Phänomene und der Esoterik, Weimar, Weltwirtschaftskrise, Verschwörungstheorien, Untertanengeist, blinder Gehorsam und der deutsche Hang zur unbedingten Pflichterfüllung – die Liste ließe sich mit Leichtigkeit endlos fortsetzen. Ohne Zweifel: das alles sind seriöse Erklärungsversuche, die in irgendeiner Art und Weise zur Katastrophe beigetragen haben mögen, doch für sich allein betrachtet ist keine einzige davon weder befriedigend noch akzeptabel. Es bleibt uns vor dem Panorama der Zerstörung keine andere Zuflucht als verzweifelt zu konstatieren: die monströsen Ereignisse, von denen wir hier sprechen, sind ohne jede Parallele in der menschlichen Geschichte. Es gibt zum Glück Überlebende dieser von Menschen geschaffenen irdischen Hölle. Aber eines Tages wird es sie aus natürlichen Gründen nicht mehr geben. Deshalb müssen ihre Berichte und Selbstzeugnisse veröffentlicht, gehört und verstanden werden. Diese Arbeit ist eine bedeutende kollektive Arbeit, der sich niemand zu entziehen versuchen sollte, denn ein Erzähler ist zwar nichts ohne Zuhörer, aber der gewöhnliche Nur-Zuhörer ist auch nichts ohne einen qualifizierten, moralisch integren Erzähler.

Ravensbrück, Krematorium/Foto: Norbert Radtke

Wer heute, nach allem, was wir über die Verbrechen der Nationalsozialisten wissen, allen Ernstes behauptet, es sei genug, man solle endlich einmal mit der Vergangenheit abschließen, wie regelmäßige repräsentative Erhebungen renommierter Forschungsprojekte unabhängiger Träger es einer wachsenden Anzahl deutscher Bürger jeden Alters bescheinigen, beweist mit seiner dummen Aussage nur, wie sehr und wie abgrundtief ihn das Wissen um das Geschehene in Wirklichkeit selbst betrifft: so sehr nämlich, dass es bis heute unverarbeitet wie ein rostiger Nagel in seine eigene unbewusste Gegenwart hineinragt, so sehr, dass er es nicht mehr hören zu können glaubt. Doch nur wer die Fehlentwicklungen der Vergangenheit aufmerksam studiert und Zusammenhänge zu begreifen lernt, kann angesichts der Herausforderungen der Gegenwart handlungsfähig bleiben. Offene Augen und wache Sinne sind wir Lebendigen von heute den Ermordeten schuldig, denn das haben sie sich auch für sich selbst und ihre Familien und Freunde vermutlich am meisten gewünscht.

Picis detaillierter, tief erschütternder und dabei gleichzeitig leicht zugänglicher Bericht aus der gut informierten, mitfühlenden Feder ihres eigenen Enkels ist eine der prägnantesten und einfühlsamsten Beschreibungen ihrer Art. Robert Scheer ist es gelungen, den historischen und biografischen Gehalt von Picis Erfahrungen in eine den Leser unmittelbar ansprechende Form eines offenen Zwiegesprächs zu bringen, in dessen Verlauf es Großmutter und Enkel auf eindrucksvolle Art gelingt, das Geschehene nicht nur angemessen zu vergegenwärtigen und zu reflektieren, sondern es auf gewisse Weise sogar „wiederzubeleben“, indem sie es in einen aktuellen Kontext stellen: denn nicht nur der Enkel (als studierter Philosoph und politisch denkender Mensch) beobachtet das aktuelle Zeitgeschehen sehr genau – auch Pici zieht immer wieder ebenso überraschende wie treffende Vergleiche zwischen gestern und heute, die nicht nur ihre bittere Erfahrung der Verfolgung durch Nazi-Deutschland erkennen lassen, sondern auch ihre geistig hellwache, dem Leben zugewandte unverwechselbare Persönlichkeit, die bis zum Schluss fähig war zu differenzieren und sich eine dezidierte Meinung zu allen Erscheinungsformen eines aktiv gelebten Lebens zu bilden. Ihre persönlichen, manchmal auch im Zwiegespräch mit ihrem Enkel gemeinsam gewonnenen Erkenntnisse sind nicht nur sehr präzise Beschreibungen des realen schrecklichen Geschehens auf Picis individuellem Leidensweg, sondern gleichzeitig auch intelligent herausgearbeitete aussagekräftige Thesen und unerbittliche Anklagepunkte gegenüber den nationalsozialistischen Verfolgern und ihren Verbrechen. Seine mühelose und erstaunlich subtile Vielschichtigkeit macht den Text zu einem absoluten literarischen und dokumentarischen Glücksfall, da er den Leser zu keinem Zeitpunkt überfordert, aber ihn dennoch umfassend informiert und ihn gleichsam zwischen den Zeilen wie von selbst, allein durch den dezenten literarischen Anstoß von unbewussten Assoziationsketten zu den korrekten, folgerichtigen Schlussfolgerungen leitet. 


Robert Scheer/Foto: privat

Hier wird deutlich, dass sich all jene, die die Verfolgung durch die Nationalsozialisten erleiden mussten, ursprünglich direkt aus unserer Mitte kamen, wie der österreichische Schriftsteller Erich Hackl vollkommen richtig immer wieder betont: sie unterschieden sich in ihrem grundsätzlichen Menschsein durch nichts von ihren Nachbarn, Arbeitskollegen oder Mitbürgern, sondern wurden von einer totalitaristisch regierenden Clique selbsternannter Herrenmenschen vollkommen willkürlich auf grausamste und schamloseste Art und Weise bis zum Äußersten ausgegrenzt, weil es den hemmungslosen Machthabern schlichtweg nützte. Mechanismen der Ausgrenzung, negativen Standortbestimmung und Überhöhung der eigenen Gruppe können wir auch heute noch beobachten, in totalitaristischen Staaten, aber auch ohne dabei über unseren eigenen Tellerrand schauen zu müssen: wir erleben diese Erscheinungsformen fast täglich in der Wirtschaft, in der Politik, mitunter sogar in unserem Privatleben. Wichtig ist es, angesichts dieser vermutlich unabänderlichen menschlichen Eigenart nicht zu resignieren und nicht eine Haltung des machtlosen Wegsehens anzunehmen. Mitgefühl, Liebe und Menschlichkeit sind heute wie gestern alternativlos.

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