In
einer der eindringlichsten und unvergesslichsten Szenen in Neil Gaimans raffiniertem psychologischen Schauerroman steht der kindliche
Protagonist wehrlos und von dunklen Mächten bedroht auf einem
sturmgepeitschen nächtlichen Feld im ländlichen Südengland der
1960er Jahre und erwartet den letzten Schlag einer wollüstigen
Dämonin namens Ursula Monkton, die sich nach einer Reihe für die
Seele eines Siebenjährigen unbegreiflicher und traumatischer
Ereignisse dauerhaft im Haus der Eltern als scheinbar harmloses
Kindermädchen eingeschlichen hat und deren bösartige,
zerstörerische Energie er offenbar als einziger zu durchschauen
vermag.
Am
Ende scheint ihm nur noch ein kleines Kätzchen, das sich in seinen
Schoß geflüchtet hat, eine unzulängliche letzte Zuflucht vor den
furchterregenden Gewalten zu bieten, die ihn bedrohen – aber es ist
nicht klar, wer hier der Gebende und wer der Empfangende ist. Doch
als der undenkbare Weg zurück nach Hause unter die unerbittlich
Kontrolle der sadistischen Ursula – oder vielleicht Schlimmeres –
schließlich vollkommen unausweichlich erscheint, geschieht etwas
Wunderbares:
Die
Katze, die ihren Kopf an meine Brust schmiegte, stieß einen
schrillen Laut aus. Ein Miauen war das nicht. Ich wandte mich um und
schaute hinter mich, weg von Ursula Monkton.
Das
Mädchen, das über das Feld auf uns zugelaufen kam, trug einen
leuchtend roten Regenmantel mit einer Kapuze und ein Paar Schwarze
Gummistiefel, die ihr zu groß zu sein schienen. Furchtlos kam sie
aus der Finsternis und schaute zu Ursula Monkton auf.
„Verschwinde
von meinem Land“, sagte Lettie Hempstock.
Es
soll nicht das einzige Mal bleiben, in dem die ebenso
undurchschaubare wie beherzte, kaum zwölf Jahre alte und mit
geheimnisvollen, übermenschlich scheinenden Fähigkeiten
ausgestattete Lettie Hempstock den Erzähler aus höchster Gefahr
rettet. Dieser ist nach nach dem unglücklichen Unfalltod seines
ersten eigenen Haustiers und dem Selbstmord eines Untermieters,
dessen grausam entstellte Leiche er selbst aufgefunden hatte, mit
seinen unbekannten, neuartigen Gefühlen und den ihn bestürmenden
Fragen und Gedanken vollkommen allein, da seine in beträchtliche
finanzielle Sorgen verstrickten Eltern beide den ganzen Tag arbeiten
müssen. Eines frühen Morgens erstickt er beinahe an einem kleinen
Geldstück, das im Schlaf auf wundersame Art und Weise in seine Kehle
gelangt ist. In dieser Situation bedeutet es ein großes Glück für
ihn, dass er sich zuweilen in die altmodische Behaglichkeit des
männerlosen drei-Generationen-Haushalts der Familie Hempstock
flüchten kann, hinter deren mittelalterlicher Farm sich ein
malerischer kleiner Weiher befindet, den Lettie unerfindlicherweise
ihren Ozean nennt.
Sparrwood Farm, Billingshurst, West Sussex |
Ich
trug noch immer die altmodischen Kleider, die ich heute Morgen
angezogen hatte, und ich stieg aus dem Teich auf das Gras am Ufer,
und dabei stellte ich fest, dass meine Kleider und meine Haut völlig
trocken waren. Der Ozean befand sich wieder in dem Teich, und als
wäre ich an einem Sommertag aus einem Traum erwacht, blieb mir nur
das Wissen, dass ich vor nicht allzu langer Zeit alles gewusst hatte.
Ich
sah Lettie im Mondschein an. „Ist es für dich immer so?“
„Was
soll für mich wie sein?“
„Weißt
du immer alles, die ganze Zeit?“
Neil
Gaiman (geboren 1960), der als einer der erfolgreichsten
Comic-Autoren unserer Zeit mit schon so ziemlich jedem bedeutenden
Preis ausgezeichnet worden ist, den dieses vielseitige, wenn auch
weitgehend unterschätzte Genre zu bieten hat, gestaltet sein
grandioses poetisches Schauermärchen als faszinierenden
literarischen Balanceakt auf der spielerisch-durchlässigen,
kreativen Grenze zwischen der realen Lebenswelt eines traumatisierten
Kindes in den 1960er Jahren und einer gedanklich nur ausgesprochen
schwer greifbaren Sphäre aus kindlicher Fantasie, Wunderglauben und
hellsichtig-unbefangener Offenheit für die fremde, berechtigterweise
ebenso furchtbesetzte wie heilende Welt des Unbewussten. Für diese
findet der Autor in einer geradezu berückenden Schatztruhe von
gelungenen Metaphern eine absolut kongeniale Übersetzung, die für
jeden Leser nicht nur unmittelbar zugänglich ist, sondern auch seine
eigene Lebenswirklichkeit widerzuspiegeln scheint.
„Also
hast du früher einmal alles gewusst?“
Sie
rümpfte die Nase. „Jeder hat das. Hab ich dir doch erklärt. Es
ist nichts Besonderes, wenn man weiß, wie die Welt beschaffen ist.
Und du musst das wirklich alles aufgeben, wenn du spielen möchtest.“
„Spielen?
Was denn?“
„Das“,
sagte sie und deutete mit einer weit ausholenden Handbewegung auf das
Haus und den Himmel und den unglaublichen Vollmond und die Stränge
und Schwärme strahlend heller Sterne.
Neil
Gaiman beschreibt in seinem faszinierenden Buch aber auch
ausgesprochen anschaulich einen langwierigen Prozess der
Bewusstwerdung als kontinuierliche Wechselwirkung, die geradezu
unausweichlich erscheint, wenn man als menschliches Individuum den
Mut aufbringt, sich mit seiner eigenen Innenwelt, den eigenen Träumen
und Zielen sowie der Welt des Unbewussten aktiv auseinanderzusetzen.
Von der vorübergehenden Einheit einer absoluten inneren
Verbundenheit mit dem Universum und dem gefühlsmäßigen Wissen um
die Geheimnisse des Lebens und der menschlichen Existenz, wie es im
Traum möglich ist, muss der Mensch im Zustand der Wachheit seines
rationalen Verstandes aufgrund seiner natürlichen Veranlagung zur
Verdrängung unmittelbar wieder auf eine Stufe der Unbewusstheit und
Trennung zurückfallen, um anschließend wieder einen Zustand der
Einheit anzustreben.
Neil Gaiman/Foto: Kimberly Butler |
Gemeinsam
mit Lettie erlebt der Erzähler zahlreiche undenkbare Abenteuer, die
meistenteils der fremdartig-stringenten Logik des Unbewussten zu
gehorchen scheinen, wie wir sie vor allem aus intensiven
(Alp-)Träumen kennen, und somit auf ebenso geistreiche wie
unterhaltsame Art und Weise innere Erlebnisse in einer komplexen
äußeren Handlung abzubilden vermögen. Dabei gelingt es Neil Gaiman
scheinbar mühelos, zwei weitere unvereinbare scheinende Welten in
einer hoch poetischen, beinahe zu Tränen rührenden Umarmung
miteinander in Einklang zu bringen: denn so wie der kindliche
Erzähler auf schmerzvolle Art und Weise sich der komplexen Welt der
Erwachsenen annähert, findet sein späteres, scheinbar
desillusioniertes Erwachsenen-Ich durch die allzu lange verdrängte
Erinnerung an die einschneidenden Erlebnisse mit Lettie zurück zu
einer tröstlichen Ahnung von kindlicher Leichtigkeit.
Ich
sehne mich nicht nach meiner Kindheit, aber ich sehne mich nach der
Freude, die ich früher an kleinen Dingen fand, selbst wenn weit
wichtigere Dinge im Argen lagen. Ich hatte keine Macht über die
Welt, in der ich lebte, ich konnte nicht vor Dingen oder Menschen
oder Augenblicken fliehen, die mir wehtaten; aber ich freute mich
über die Dinge, die mich glücklich machten. Die Vanillesoße war
süß und cremig, die dunklen, prallen Korinthen verliehen der
weichen Fadheit des Puddings eine gewisse Würze; und auch wenn ich
an jenem Abend vielleicht sterben würde, selbst wenn ich nie wieder
nach Hause gehen würde, war das ein leckeres Abendessen, und ich
hatte Vertrauen in Lettie Hempstock.
Mit
seinem neuen eindrucksvollen Schauerroman über die ungewöhnliche
Freundschaft zweier ungleicher Kinder in England ist Neil Gaiman ohne
Zweifel ein neuer Klassiker der intelligenten Erbauungsliteratur
gelungen, der sowohl jene Leser begeistern dürfte, die von einem
guten Buch nicht mehr als eine fesselnde, einfallsreich erzählte
Geschichte erwarten, vor allem aber wird er besonders jene Leser
begeistern, die sich in einer scheinbar herzlosen und überrationalen
Welt spirituellen Rat und Beistand erhoffen. Anders als die meisten
anderen Autoren, die sich diesem von der Literaturkritik manchmal
nicht ganz zu Unrecht vernachlässigten Genre widmen, gelingt dies
Neil Gaiman in unmittelbarer Sichtweite der Grenze zum Kitsch, ohne
diese jemals zu überschreiten. „Der Ozean am Ende der Straße“
ist eine ideale, lohnende Endjahreslektüre, der man kaum genug Leser
wünschen kann.
„Der Ozean am Ende der Straße“, aus dem Englischen von Hannes Riffel,
erschienen bei Eichborn, 238 Seiten, € 18,-
Schade, hätte ich deine wunderbare Rezension zu dem Buch nur eher gelesen.
AntwortenLöschenMich hatte die Lektüre etwas ratlos zurückgelassen, vor allem mit dem Schluss konnte ich mich nicht anfreunden.
Deine Eindrücke bieten noch mal einen ganz anderen Ansatz um das Gelesene umzusetzen. Vielen Dank, wirklich.
P.S. Schönes Blog. Ich schau jetzt öfter mal vorei.
Viele Grüße
Papyrus
Vielen Dank für Deinen netten Kommentar! Manchmal sind die Bücher die besten, die einen erstmal ratlos zurücklassen und irgendetwas in einem berühren, was man noch nicht benennen kann - wenn ich da eine kleine Orientierung bieten konnte, freut mich das sehr! Ich muss mich also bei Dir bedanken!!
LöschenHerzlichste Grüße,
Florian