Jerusalem

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Dienstag, 9. Dezember 2014

„Der Ozean am Ende der Straße“ von Neil Gaiman

In einer der eindringlichsten und unvergesslichsten Szenen in Neil Gaimans raffiniertem psychologischen Schauerroman steht der kindliche Protagonist wehrlos und von dunklen Mächten bedroht auf einem sturmgepeitschen nächtlichen Feld im ländlichen Südengland der 1960er Jahre und erwartet den letzten Schlag einer wollüstigen Dämonin namens Ursula Monkton, die sich nach einer Reihe für die Seele eines Siebenjährigen unbegreiflicher und traumatischer Ereignisse dauerhaft im Haus der Eltern als scheinbar harmloses Kindermädchen eingeschlichen hat und deren bösartige, zerstörerische Energie er offenbar als einziger zu durchschauen vermag.


Am Ende scheint ihm nur noch ein kleines Kätzchen, das sich in seinen Schoß geflüchtet hat, eine unzulängliche letzte Zuflucht vor den furchterregenden Gewalten zu bieten, die ihn bedrohen – aber es ist nicht klar, wer hier der Gebende und wer der Empfangende ist. Doch als der undenkbare Weg zurück nach Hause unter die unerbittlich Kontrolle der sadistischen Ursula – oder vielleicht Schlimmeres – schließlich vollkommen unausweichlich erscheint, geschieht etwas Wunderbares:

Die Katze, die ihren Kopf an meine Brust schmiegte, stieß einen schrillen Laut aus. Ein Miauen war das nicht. Ich wandte mich um und schaute hinter mich, weg von Ursula Monkton.
Das Mädchen, das über das Feld auf uns zugelaufen kam, trug einen leuchtend roten Regenmantel mit einer Kapuze und ein Paar Schwarze Gummistiefel, die ihr zu groß zu sein schienen. Furchtlos kam sie aus der Finsternis und schaute zu Ursula Monkton auf.
Verschwinde von meinem Land“, sagte Lettie Hempstock.

Es soll nicht das einzige Mal bleiben, in dem die ebenso undurchschaubare wie beherzte, kaum zwölf Jahre alte und mit geheimnisvollen, übermenschlich scheinenden Fähigkeiten ausgestattete Lettie Hempstock den Erzähler aus höchster Gefahr rettet. Dieser ist nach nach dem unglücklichen Unfalltod seines ersten eigenen Haustiers und dem Selbstmord eines Untermieters, dessen grausam entstellte Leiche er selbst aufgefunden hatte, mit seinen unbekannten, neuartigen Gefühlen und den ihn bestürmenden Fragen und Gedanken vollkommen allein, da seine in beträchtliche finanzielle Sorgen verstrickten Eltern beide den ganzen Tag arbeiten müssen. Eines frühen Morgens erstickt er beinahe an einem kleinen Geldstück, das im Schlaf auf wundersame Art und Weise in seine Kehle gelangt ist. In dieser Situation bedeutet es ein großes Glück für ihn, dass er sich zuweilen in die altmodische Behaglichkeit des männerlosen drei-Generationen-Haushalts der Familie Hempstock flüchten kann, hinter deren mittelalterlicher Farm sich ein malerischer kleiner Weiher befindet, den Lettie unerfindlicherweise ihren Ozean nennt.

Sparrwood Farm, Billingshurst, West Sussex

Ich trug noch immer die altmodischen Kleider, die ich heute Morgen angezogen hatte, und ich stieg aus dem Teich auf das Gras am Ufer, und dabei stellte ich fest, dass meine Kleider und meine Haut völlig trocken waren. Der Ozean befand sich wieder in dem Teich, und als wäre ich an einem Sommertag aus einem Traum erwacht, blieb mir nur das Wissen, dass ich vor nicht allzu langer Zeit alles gewusst hatte.
Ich sah Lettie im Mondschein an. „Ist es für dich immer so?“
Was soll für mich wie sein?“
Weißt du immer alles, die ganze Zeit?“

Neil Gaiman (geboren 1960), der als einer der erfolgreichsten Comic-Autoren unserer Zeit mit schon so ziemlich jedem bedeutenden Preis ausgezeichnet worden ist, den dieses vielseitige, wenn auch weitgehend unterschätzte Genre zu bieten hat, gestaltet sein grandioses poetisches Schauermärchen als faszinierenden literarischen Balanceakt auf der spielerisch-durchlässigen, kreativen Grenze zwischen der realen Lebenswelt eines traumatisierten Kindes in den 1960er Jahren und einer gedanklich nur ausgesprochen schwer greifbaren Sphäre aus kindlicher Fantasie, Wunderglauben und hellsichtig-unbefangener Offenheit für die fremde, berechtigterweise ebenso furchtbesetzte wie heilende Welt des Unbewussten. Für diese findet der Autor in einer geradezu berückenden Schatztruhe von gelungenen Metaphern eine absolut kongeniale Übersetzung, die für jeden Leser nicht nur unmittelbar zugänglich ist, sondern auch seine eigene Lebenswirklichkeit widerzuspiegeln scheint.

Also hast du früher einmal alles gewusst?“
Sie rümpfte die Nase. „Jeder hat das. Hab ich dir doch erklärt. Es ist nichts Besonderes, wenn man weiß, wie die Welt beschaffen ist. Und du musst das wirklich alles aufgeben, wenn du spielen möchtest.“
Spielen? Was denn?“
Das“, sagte sie und deutete mit einer weit ausholenden Handbewegung auf das Haus und den Himmel und den unglaublichen Vollmond und die Stränge und Schwärme strahlend heller Sterne.

Neil Gaiman beschreibt in seinem faszinierenden Buch aber auch ausgesprochen anschaulich einen langwierigen Prozess der Bewusstwerdung als kontinuierliche Wechselwirkung, die geradezu unausweichlich erscheint, wenn man als menschliches Individuum den Mut aufbringt, sich mit seiner eigenen Innenwelt, den eigenen Träumen und Zielen sowie der Welt des Unbewussten aktiv auseinanderzusetzen. Von der vorübergehenden Einheit einer absoluten inneren Verbundenheit mit dem Universum und dem gefühlsmäßigen Wissen um die Geheimnisse des Lebens und der menschlichen Existenz, wie es im Traum möglich ist, muss der Mensch im Zustand der Wachheit seines rationalen Verstandes aufgrund seiner natürlichen Veranlagung zur Verdrängung unmittelbar wieder auf eine Stufe der Unbewusstheit und Trennung zurückfallen, um anschließend wieder einen Zustand der Einheit anzustreben.

Neil Gaiman/Foto: Kimberly Butler

Gemeinsam mit Lettie erlebt der Erzähler zahlreiche undenkbare Abenteuer, die meistenteils der fremdartig-stringenten Logik des Unbewussten zu gehorchen scheinen, wie wir sie vor allem aus intensiven (Alp-)Träumen kennen, und somit auf ebenso geistreiche wie unterhaltsame Art und Weise innere Erlebnisse in einer komplexen äußeren Handlung abzubilden vermögen. Dabei gelingt es Neil Gaiman scheinbar mühelos, zwei weitere unvereinbare scheinende Welten in einer hoch poetischen, beinahe zu Tränen rührenden Umarmung miteinander in Einklang zu bringen: denn so wie der kindliche Erzähler auf schmerzvolle Art und Weise sich der komplexen Welt der Erwachsenen annähert, findet sein späteres, scheinbar desillusioniertes Erwachsenen-Ich durch die allzu lange verdrängte Erinnerung an die einschneidenden Erlebnisse mit Lettie zurück zu einer tröstlichen Ahnung von kindlicher Leichtigkeit.

Ich sehne mich nicht nach meiner Kindheit, aber ich sehne mich nach der Freude, die ich früher an kleinen Dingen fand, selbst wenn weit wichtigere Dinge im Argen lagen. Ich hatte keine Macht über die Welt, in der ich lebte, ich konnte nicht vor Dingen oder Menschen oder Augenblicken fliehen, die mir wehtaten; aber ich freute mich über die Dinge, die mich glücklich machten. Die Vanillesoße war süß und cremig, die dunklen, prallen Korinthen verliehen der weichen Fadheit des Puddings eine gewisse Würze; und auch wenn ich an jenem Abend vielleicht sterben würde, selbst wenn ich nie wieder nach Hause gehen würde, war das ein leckeres Abendessen, und ich hatte Vertrauen in Lettie Hempstock.

Mit seinem neuen eindrucksvollen Schauerroman über die ungewöhnliche Freundschaft zweier ungleicher Kinder in England ist Neil Gaiman ohne Zweifel ein neuer Klassiker der intelligenten Erbauungsliteratur gelungen, der sowohl jene Leser begeistern dürfte, die von einem guten Buch nicht mehr als eine fesselnde, einfallsreich erzählte Geschichte erwarten, vor allem aber wird er besonders jene Leser begeistern, die sich in einer scheinbar herzlosen und überrationalen Welt spirituellen Rat und Beistand erhoffen. Anders als die meisten anderen Autoren, die sich diesem von der Literaturkritik manchmal nicht ganz zu Unrecht vernachlässigten Genre widmen, gelingt dies Neil Gaiman in unmittelbarer Sichtweite der Grenze zum Kitsch, ohne diese jemals zu überschreiten. „Der Ozean am Ende der Straße“ ist eine ideale, lohnende Endjahreslektüre, der man kaum genug Leser wünschen kann.

„Der Ozean am Ende der Straße“, aus dem Englischen von Hannes Riffel, erschienen bei Eichborn, 238 Seiten, € 18,-

2 Kommentare:

  1. Schade, hätte ich deine wunderbare Rezension zu dem Buch nur eher gelesen.
    Mich hatte die Lektüre etwas ratlos zurückgelassen, vor allem mit dem Schluss konnte ich mich nicht anfreunden.
    Deine Eindrücke bieten noch mal einen ganz anderen Ansatz um das Gelesene umzusetzen. Vielen Dank, wirklich.

    P.S. Schönes Blog. Ich schau jetzt öfter mal vorei.

    Viele Grüße
    Papyrus

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    1. Vielen Dank für Deinen netten Kommentar! Manchmal sind die Bücher die besten, die einen erstmal ratlos zurücklassen und irgendetwas in einem berühren, was man noch nicht benennen kann - wenn ich da eine kleine Orientierung bieten konnte, freut mich das sehr! Ich muss mich also bei Dir bedanken!!

      Herzlichste Grüße,

      Florian

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