In
seinem packenden Expeditionsdrama „Spielplatz der Helden“ (1988),
dem möglicherweise besten und psychologisch ausgefeiltesten seiner
frühen Romane, berichtet Michael Köhlmeier von der
aufsehenerregenden Durchquerung des grönländischen Inlandeises über
1400 Kilometer innerhalb von 88 Tagen durch drei Südtiroler
Extremsportler allein aus eigener Kraft, mit selbstgebauten
Schlitten, ohne Funkkontakt und ohne Lebensmitteldepots im Jahr 1983.
In der existenziellen Auseinandersetzung mit sich selbst und den
übermächtigen Naturgewalten zerstritten sich die drei Teilnehmer
der Expedition so nachhaltig, dass sie nach erfolgreich vollbrachter
Tat nicht nur jeglichen persönlichen Kontakt abbrachen, sondern sich
nicht einmal mehr gegenseitig grüßten, wenn sie einander im
heimischen Bozen zufällig auf der Straße begegneten.
Noch
in seiner 2011 erschienenen, nach archetypischen Motiven und
Themenschwerpunkten gegliederten Märchenauswahl „Märchen
Dekamerone – Eine Weltreise in hundert Geschichten“ erinnert sich
Michael Köhlmeier in der Vorrede zum Kapitel „Drei“ an ein
aufschlussreiches Gespräch mit dem Leiter des waghalsigen
Unternehmens, dem 1944 geborenen Extrembergsteiger und Abenteurer
Robert Peroni:
Er
hat mir ausführlich von diesem fatalen Abenteuer erzählt. Er war
der Meinung, dass man so eine gefährliche Reise nur zu dritt
überleben kann. Und dass man sie nur überleben kann, wenn man
streitet. Und je gefährlicher und strapaziöser das Unternehmen ist,
desto heftiger und radikaler muss der Streit sein, soll die Reise
nicht mit dem Tod aller enden. […] Zwei streiten, der Dritte ist
der Verbündete, der wird gebraucht, um sich über den anderen lustig
zu machen, um sich bestätigen zu lassen, dass man selber Recht hat.
[…] Der Dritte ist der wahre Held der Expedition. Er muss ein
Lügner sein, er muss ein Psychologe sein, er muss ein Gefühl für
Timing haben, er muss voll Niedertracht und zeitgleich voll
Menschenliebe sein, er muss den Menschen verachten und ihn zugleich
in seiner Hinfälligkeit und Schwäche verstehen. […] Der Dritte
repräsentiert die Welt, er hat Erwartungen an die Zukunft, er
erinnert sich an die Vergangenheit; er führt durch den Sturm, durch
die Nacht, durch die Kälte. In ihm seht ihr euch gespiegelt, sowohl
wie ihr seid, als auch, wie ihr gern sein wollt. Dem Dritten ist es
zu verdanken, wenn ihr überlebt.
Zu
Robert Peronis dieses Jahr vollendetem siebzigsten Geburtstag ist nun
im auf erzählende Reiseliteratur spezialisierten Malik-Verlag in
München ein ausgesprochen wichtiges und lesenswertes Buch
erschienen, in dem der lebenserfahrene Forscher und Abenteurer nun
selbst von der nach seiner eigenen Aussage wichtigsten Reise seines
Lebens berichtet. Dabei deutet schon der möglicherweise irreführende
Untertitel Wie die Inuit mich den Sinn des Lebens lehrten an,
dass es sich dabei nicht um einen Abenteuerbericht im herkömmlichen
Sinne handelt, wie es das an sportlichen Extremen so überaus reiche
Leben des Südtiroler Ausnahmeathleten zu versprechen scheint.
Die Hochebene |
Die
letzten Expeditionen hatten einen schalen Nachgeschmack hinterlassen:
übermächtige Sponsoren, eine neue Generation von
Expeditionsteilnehmern, die immer mehr Athleten und immer weniger
Bergsteiger waren, Geldgeber, die konkrete Ergebnisse verlangten, und
eine nach außen hin zwar partnerschaftliche Atmosphäre, die jedoch
sofort verflog, sobald einer der Teilnehmer sich selbst beweisen
wollte. Und ich mittendrin, um Frieden zu stiften. Ich war das alles
so leid. […] Ich hatte immer meine Kollegen kritisiert, die eine
gewisse Sammlermentalität an den Tag legten – jetzt der
Achttausender hier, dann eine unerforschte Wüste dort und danach
vielleicht eine Polardurchquerung –, aber inzwischen war auch ich
in diesem Räderwerk gefangen. Sobald man eine Expedition
abgeschlossen hatte, galt es sofort eine neue zu finden, die noch
spektakulärer, noch extremer war, ganz so, wie es die Sponsoren
liebten, die sich davon einen guten Werbeeffekt versprachen.
Von
seiner kräftezehrenden Grönlandexpedition war auch Robert Peroni
1983 innerlich verändert zurückgekehrt. Die Erlebnisse im
lebensfeindlichen Eis der von den einheimischen Inuit als
vermeintliches Dämonengebiet gemiedenen Hochebene ließen Peroni nie
los und bewirkten, dass er in den darauffolgenden Jahren regelmäßig
für mehrere Monate nach Grönland zurückkehrte und sich
schließlich, Anfang der 1990er Jahre, dauerhaft und endgültig dort
niederließ, um das sogenannte Rote Haus, ein Hotel und
kulturelles Begegnungszentrum, zu gründen: die kaum erforschte, für
westliche Maßstäbe so schwer zu begreifende und trotz ihrer
perfekten Anpassung an die extremen Lebensbedingungen des
Polarkreises heute massiv vom Aussterben bedrohte Kultur der Inuit
hatte ihn innerlich so gepackt, dass er letztlich die wesentliche
Aufgabe seiner zweiten Lebenshälfte in der kulturellen Vermittlung
zwischen der ebenso archaischen wie bewährten Lebensweise der Inuit
und der vermeintlicherweise höher entwickelten westlichen
Zivilisation erkannte und auch annahm.
Polarlicht |
Die
unter den lebensfeindlichen Bedingungen ihres Lebensraums nahezu
ausschließlich auf Robbenjagd gründende Kultur der Inuit, deren
wesentliches Merkmal ein dem alltäglichen Kampf um Nahrung
gewidmetes hoch entwickeltes Sozialleben ist, in dem jedem einzelnen
Mitglied der Sippe eine wichtige Aufgabe im Rahmen seiner
individuellen Talente und Fähigkeiten zukommt, hat in der ihr
durchaus wohlmeinend gegenüberstehenden westlichen Zivilisation
erstmals einen Widersacher gefunden, auf den sie keine angemessene
Antwort findet. Während die Wikinger, die sich immerhin über
dreihundert Jahre in Grönland aufhielten, dort aber schließlich
regelrecht ausstarben, weil sie nicht fähig waren, sich auf die
vorgefundenen Bedingungen einzustellen, haben die Inuit, wie andere
an extreme Bedingungen angepasste Völker wie zum Beispiel die Tuareg
in der Sahara, immer einen Vorteil aus ihrer idealen Anpassung
gezogen, der Fähigkeit, sich selbst in Beziehung zu den Umständen
zu setzen.
Wenn
jemand jedoch in dieser großen weißen Eislandschaft lebt, wo der
Schnee meterhoch liegt, kommt er nicht umhin, sich damit ganz
unmittelbar auseinanderzusetzen. Er wird ganz automatisch denken:
„Was soll ich jetzt tun?“ Und so redet er mit dem Schnee und ist
überzeugt, dass der ihm antworten wird. Oder mit dem Wind, weil er
hofft, dass er auf ihn hört und sich legt. Der Schamanismus ist
genau das: die Philosophie der Natur. Eine sehr einfache zwar, aber
doch eine Philosophie. Dahinter steht weder ein Denksystem noch eine
kirchliche Hierarchie: Niemand hat je eine Bibel des Schamanismus
geschrieben. Die Geschichten wurden stets mündlich überliefert.
Auch weil es nicht viel zu erklären gibt: man begreift instinktiv,
worum es geht.
In
dieser besonderen Fähigkeit äußert sich aber nicht nur eine
allumfassende, gleichsam natürliche Art von Spiritualität, die
Peroni seit seiner Kindheit vertraut ist und die er auch in seinen
eigenen Expeditionen stets im naiven Dialog mit der Natur am Leben
gehalten hat, wie er in seinem Buch anhand zahlreicher einprägsamer
Beispiele immer wieder veranschaulicht. Die Weltsicht der Inuit ist
so universell und dabei stets auf Toleranz gegenüber anderen
Meinungen bedacht, dass sie gleichzeitig auch eine erhebliche, kaum
zu leugnende politische Dimension aufweist und somit auch für uns
eine wichtige persönliche und gesellschaftliche Vorbildfunktion
erfüllen kann.
Eisberg |
Hier
nimmt das übergeordnete Thema von Köhlmeiers Roman nicht nur auf
wunderbare Weise den inneren Kern von Peronis fünfundzwanzig Jahre
später entstandenem Buch vorweg, sondern manifestiert auch einen im
Verlauf dieser Zeit stetig angewachsenen erheblichen Mangel innerhalb
der westlichen Kultur, der heute von vielen Menschen erkannt und
beklagt wird. Die Protagonisten in Köhlmeiers Roman versuchen
unablässig sich in Beziehung zur feindlichen Natur und zu ihren
Leidensgenossen zu setzen, worin wir ohne Zweifel eine der
wichtigsten Aufgaben der Menschheit erkennen müssen. Diese Fähigkeit
haben die Inuit wie kaum ein anderes Volk auf höchstem Niveau
perfektioniert, während in unserer Gesellschaft eine willentliche
Kultur der Abgrenzung herrscht: so gilt es als höchste
Errungenschaft und Gipfel individueller wie kollektiver Urteilskraft,
sich von einer eindeutig pathologischen Bewegung wie Pegida
abzugrenzen, die nichts anderes tut als eine kollektive psychische
Störung in der Öffentlichkeit zu kultivieren. Hier erweist sich die
Weltsicht der Inuit als vollendete Kultur eines lebendigen,
vorurteilsfreien Pluralismus.
Man
muss nicht gleich Worte wie „Toleranz“ oder „Respekt“ in den
Mund nehmen, die es in ihrer Sprache nicht einmal gibt. Diese
Aufgeschlossenheit gegenüber dem Nächsten ist ein ganz natürliches
Verhalten der Inuit und vielleicht, wie immer, durch ihre Geschichte
bedingt: Wie kann man sich streiten, wenn man auf wenigen
Quadratmetern zusammenleben muss und draußen vierzig Grad unter null
herrschen? Da gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder man wird
gewalttätig, doch in diesem Fall wäre das ganze Volk vermutlich
innerhalb weniger Generationen ausgestorben, oder man muss ein
äußerst sanftes Wesen entwickeln. Alle waren zu sehr damit
beschäftigt zu überleben, um böse zu sein oder den Nachbarn zu
hassen.
Die
willentliche Abgrenzung entspricht aber auch dem wesentlichen Antrieb
des konventionellen Abenteurers, dessen waghalsige Expeditionen dem
Wesen nach eher radikal ausgelebte Egotrips als Kommunikation mit der
Natur sind. Von dieser beschränkten Sichtweise hat sich Robert
Peroni mit seinem beherzten Eintreten für die Belange der Inuit
endgültig gelöst, auch wenn er für die Zukunft dieses bedrohten
Volkes nur wenig Hoffnung sieht. Sein ebenso packendes wie nachhaltig
inspirierendes Buch entspricht so gar nicht den landläufigen
Erwartungen an einen Abenteuerbericht und weist doch gleichzeitig
weit darüber hinaus, auf ein vielfach größeres Abenteuer, das uns
schließlich ermöglicht, die Welt mit anderen Augen, vielleicht
sogar aus einem umfassenderen Blickwinkel als bisher zu betrachten.
In Bezug auf die Inuit äußert sich das Versagen unserer westlichen
Zivilisation aber auch in unserem kulturell bedingten Unvermögen zu
erkennen, wo wir in unseren scheinbar lobenswerten sozialen und
ökologischen Bemühungen den Belangen der Inuit nicht gerecht
werden, scheint doch unsere Blindheit ein Symptom unserer Kultur.
Robert Peroni/Foto: Moreno Bartoletti |
In
seinem suggestiven Roman "Teryky" erzählt der
tschuktschische Dichter Juri Rytchëu
von einem einsamen Polarjäger, der nach einer lebensgefährlichen
Irrfahrt auf einer Eisscholle schließlich als Dämon zu seiner Sippe
zurückkehrt. Diese Sichtweise entspricht in wesentlichen Punkten der
mündlichen Überlieferung der Inuit, die besagt, dass wer sich aus
freier Entscheidung in unvorhersehbare tödliche Gefahr in
lebensfeindlicher Umgebung begibt – in Dämonenland sozusagen –
nur überleben kann, indem er das Menschliche abstreift und selbst
zum Dämon wird. Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, dass Robert
Peroni auf der Hochebene Grönlands – anders als es die mündliche
Überlieferung der Inuit besagt und anders als viele seiner besessen
scheinenden ehemaligen Kollegen – seine persönlichen Dämonen
endgültig losgeworden ist. Innerhalb der unermesslich weiten
Landschaften des menschlichen Geistes kann man sich kaum eine größere
persönliche Leistung vorstellen.
„Kälte, Wind und Freiheit“, aus dem Italienischen von Barbara Neeb und
Katharina Schmidt, erschienen bei Malik, 238 Seiten, € 22,99