In
diesem erstmals 1948 erschienenen und noch während des Zweiten
Weltkriegs im amerikanischen Exil begonnenen, heute jedoch leider
weithin vergessenen enigmatischen Roman, den nicht wenige aus gutem
Grund für seinen besten halten, wagt der außerhalb von Österreich
(wo sein Roman „Der Schüler Gerber“ zum offiziellen Kanon der
Schullektüre zählt) nicht mal mehr als Kishon-Übersetzer im
Gedächtnis gebliebenen brillanten Wiener Schriftstellers Friedrich
Torberg den aberwitzigen und auf bravouröse Art gelungenen Versuch,
ein „unlösbares Problem als solches darzustellen“, wie er es
selbst als schlagfertige Entgegnung auf das seinerzeit
weitverbreitete Unverständnis formulierte, das seinem unbequemen
Buch bei seiner Erstveröffentlichung größtenteils entgegenschlug.
Ein
Buch über die vielfältigen Gewissensqualen eines jüdischen
Gestapospitzels im nationalsozialistischen Wien musste in einer Zeit,
in der die meisten Menschen in Österreich wie auch in Deutschland
mit umtriebigem Eifer vor allem mit der gleichermaßen unlösbar
scheinenden Aufgabe beschäftigt waren, ihr unter beträchtlicher
Mithilfe der Alliierten gerade erst überwundenes selbstverursachtes
tausendjähriges Trauma gleichsam aktiv zu vergessen, vermutlich
zwangsläufig allerseits auf Desinteresse und Verständnislosigkeit
stoßen.
Immer
und seit je ist es mir doch nur darum gegangen, von den andern, die
keine Juden waren, so behandelt zu werden, als ob auch ich keiner
wäre, so behandelt zu werden wie ein normaler Mensch. Nämlich: wie
nach ihren Begriffen normaler Mensch. Das war der kleine Denkfehler,
der mir dabei unterlief: daß ich mich immer nach ihren Begriffen
gerichtet habe. Es ist mir nie der Gedanke gekommen, daß mit diesen
ihren Begriffen etwas nicht stimmen könnte. Ich habe mein Judentum
immer als Defekt akzeptiert, und die es mich fühlen ließen, immer
als Ankläger. Ich habe nie zu vermuten gewagt, daß da vielleicht
die Ankläger selbst an einem Defekt litten.
Torbergs
unglückseliger Protagonist Otto Maier, ein im Zuge der
nationalsozialistischen Judengesetze zunehmend beschäftigungsloser
jüdischer Jazzpianist aus dem nachtaktiven Milieu der Wiener Boheme,
wird anlässlich der Ereignisse des 9. und 10. November 1938, der
sogenannten Reichspogromnacht, gemeinsam mit seinem Vater verhaftet
und stundenlang mit hunderten anderer Juden unter unzumutbaren
Zuständen von den Behörden festgehalten. Im Verlauf der amtlichen
Erfassung der verhafteten Juden werden die beiden schließlich
voneinander getrennt; während Ottos Vater, ein hochdekorierter
ehemaliger Militärarzt, nach Dachau deportiert wird, darf er selbst
nach dem zufälligen Eingreifen seines mittlerweile in der Gestapo zu
hohem Einfluss gekommenen ehemaligen Klassenkameraden Franz Macholdt
unbehelligt nach Hause gehen.
Ich
hatte bis zu diesem Augenblick an meinen Vater gar nicht gedacht,
genau so wenig, wie ich es zunächst am 12. März getan hatte. Jetzt
dachte ich an ihn, und genau so selbstverständlich wie damals: ich
dachte an ihn als den „einzigen Menschen“. Und eine leise
Zärtlichkeit mischte sich in meine Gedanken, eine traurige,
bedauernde Zärtlichkeit [...].
Macholdt
lässt Otto allerdings bereits wenige Tage später unter beklemmend
inszenierten Umständen in sein Büro rufen, um ihm nach einer
zynischen Vergegenwärtigung seiner vollkommenen Abhängigkeit einen
Pakt faustischen Ausmaßes anzubieten: im Tausch gegen regelmäßige
Spitzeldienste im Rotlichtmenü und gezielte Denunziationen stellt er
ihm, allerdings nur auf ausgesprochen vage Art und Weise, eine
perspektivische Entlassung seines gesundheitlich angeschlagenem Vater
aus dem Konzentrationslager in Aussicht. Da Otto allen Grund hat,
ernsthaft um dessen Leben zu fürchten, willigt er nach kurzer
Bedenkzeit in den schmutzigen Handel ein, da er glaubt, Macholdt mit
einigen unklaren Hinweisen dauerhaft beschwichtigen zu können und so
vordergründig alle Fäden zur Erreichung seines eigenen einzigen
Ziels in der Hand zu behalten.
Damals,
ganz am Anfang, phantasierte ich mich nämlich noch in die Rolle
eines geheimen Rächers der Verfolgten hinein und erging mich
überhaupt in allerlei kindischen Vorstellungen. Eine davon verstieg
sich so weit, daß ich, wenn mir in den nächsten Tagen ein großer
Coup gelänge, meinen Vater vielleicht noch rechtzeitig
herausbekommen könnte, um mit ihm zusammen dem Orchester nach Ungarn
nachzureisen.
Als
sich sein ehemaliger Mitschüler schon bald nicht mehr mit Ottos
nebulösen Tipps abspeisen lässt, beginnt dieser „notgedrungen“,
wie er seine Spitzeleien vor sich selbst rechtzufertigen versucht,
und unter beträchtlichen Gewissensqualen zunächst weitläufig
Bekannte, später sogar langjährige Freunde und Musikerkollegen bei
den nationalsozialistischen Behörden zu denunzieren. Auf diese Weise
verliert er langsam und unausweichlich jeglichen Halt in seiner
Clique wie auch in sich selbst. Als er durch Zufall erfährt, dass
sein kränklicher Vater bereits kurze Zeit nach seiner Deportation
verstorben ist, fasst er einen nahezu undurchführbar scheinenden
Racheplan als schwindelerregenden moralischen Drahtseilakt zwischen
Mut und Leichtsinn, der ihn noch weiter an die äußerste Grenze der
Selbstverleugnung bringt – und weit darüber hinaus.
Friedrich Torberg. Foto © Ch. Brandstätter Verlag |
Mit
seinem atemlos zu lesenden, nachhaltig verstörenden Roman, dessen
Titel eine deutlich erkennbare, in höchstem Maße assoziationsreiche
Anspielung auf das biblische Sohnesopfer beinhaltet, findet Friedrich
Torberg angesichts der deprimierenden Schlusspointe nur geringen
Trost für den verstört zurückbleibenden Leser, den dieser
scheinbar allzu leicht, wie sich schließlich herausstellt, überlesen
hat und deshalb am Ende systematisch zurückblättern muss, in der
unbewussten fieberhaften Hoffnung, die entstandene Leere wieder mit
Sinn füllen zu können. Den verzehrenden Grundkonflikt seines
unglücklichen Protagonisten als bittere Agentenfarce inszeniert der
Autor ähnlich ausweglos wie seine geistigen Verwandten Graham Greene
und John Le Carré, mit denen er der entschiedenen Meinung ist, dass
jeder, der sich auf dieses unmoralische Geschäft einlässt, am Ende
nur verlieren kann. „Hier bin ich, mein Vater“ ist mit seiner
angesichts seines frühen Entstehungszeitpunkts außergewöhnlich
hellsichtigen, scharfsinnigen und radikalen politischen Analyse
möglicherweise eine noch bedeutendere Wiederentdeckung aus dem
nahezu vergessenen Werk Friedrich Torbergs als dessen allerdings
zugänglichere Novelle „Mein ist die Rache“.
„Hier bin ich, mein Vater“, mit einem Nachwort von David Axmann,
erschienen bei Milena, 301, Seiten, € 24,90