Jerusalem

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Montag, 5. November 2012

„Wenn die Nacht am stillsten ist“ von Arezu Weitholz


Wenn die Nacht am stillsten ist, zwischen drei und vier Uhr morgens, öffnet sich der Mensch lebhaft träumend der schillernd-faszinierenden Welt des eigenen unerforschten Unbewußten. Selbst wenn er in diesen besonderen Stunden die Nacht in Clubs oder Bars zum Tage macht, allein vom Tanz, von Drogen oder purer Lebenslust beseelt, scheint der Zustand zwischen Wachen und Träumen zu einem berückenden Zwischenreich weitestmöglich geöffneter Sinne zu verschwimmen. Die schlaflos-traurige Protagonistin und Icherzählerin in Arezu Weitholz' intensivem Debütroman über die Liebe, seit dem letzten Frühstück unverhofft Single, folgt einem für sie selbst kaum erklärlichen inneren Unruhezustand spätnachts in die Wohnung ihres Exfreundes Ludwig, wo sie diesen nach einer Überdosis Tabletten mit dem Tode ringend vorfindet. Mit lapidar-rätselhaften Worten hatte er die bereits acht Monate währende, vor den Kollegen der Redaktion eines bedeutenden Gesellschaftsmagazins jedoch beharrlich geheim gehaltene Beziehung zu Anna am Morgen beendet: „Du hast alles begriffen, nicht? Jetzt ist alles gut. Du hast es verstanden.“ 

An seinem Bett sitzend, ihm die kühle Hand haltend, erforscht sie selbst mit wachen Sinnen und liebevoll-kritischer, allumfassender Schonungslosigkeit die gemeinsame Geschichte einer denkwürdigen Liebe zwischen zwei erwachsenen Menschen, die trotz aller nur allzu augenscheinlicher Unterschiede wie für einander gemacht scheinen. Der erste Teil des Romans, in dem Anna dem bewusstlosen Ludwig von den zahlreichen Brüchen in ihrem Leben erzählt, dem Selbstmord des Vaters, den Depressionen ihrer Mutter im Altersheim, von denen der ebenso feinsinnige und kunstbesessene wie arrogante und erfolgsverwöhnte hippe Jungliterat nie etwas wissen wollte, auch von wilden Partys in Südafrika und von Drogen, Schmerz und Tod, erinnert in seiner entschiedenen Schärfe an Birgit Vanderbekes literarische Demontage des abwesenden Vaters in ihrer preisgekrönten Erzählung „Das Muschelessen“. 


Im zweiten Teil schildert Arezu Weitholz, die bislang vor allem für ihre journalistischen Arbeiten und ihre Liedtexte für Herbert Grönemeyer, Udo Lindenberg oder Zweiraumwohnung sowie ihre kuriosen Fischgedichte bekannt ist, den zurückliegenden Tag ihrer hinreißenden Protagonistin seit Ludwigs unerwarteten Worten beim Frühstück. Wir erleben die wundersame Wandlung eines einsamen Menschen, dessen Leben bisher fast ausschließlich im schönen Schein der Literatur, der gesellschaftlichen Analyse, der Mode und der Musik stattfand, der nie Zweifel an seinem Talent und seinen Fähigkeiten aufkommen ließ und dem bisher alles gelungen ist. Der seine Liebesunfähigkeit hinter einer Maske der Unfehlbarkeit versteckt, die im Zusammenprall mit der schmerzvoll-lebenserfahrenen Anna erstmals Risse bekommt: „»Es gibt kein Mädchen für mich.« [...] War er vielleicht gar nicht so cool, so souverän? Sie fragte: »Du hast noch nie eine getroffen?« – »Nein.« Er verzog das Gesicht. »Sie sagen die falschen Sachen. Sie sehen falsch aus. Das macht mich nervös. Ich kann damit nicht gut umgehen.«“ Und im eigenen Befremden Annas darüber, dass sie sich mit Ludwig unermesslich wohl fühlt, obwohl er sie mit seiner Art immer wieder verletzt, erleben wir verblüfft das große Mysterium der Liebe: „Du hast zu mir gesagt: »Ich will, dass du heile aus der Sache herauskommst«, als wäre ich eine vorübergehende Erscheinung, als wäre es von Beginn an vorbei gewesen. Nichts ist vorbei. Nie ist etwas vorbei! Ich habe heute den halben Tag mit Leuten zugebracht, die du nie kennenlernen wirst [...] und immer wieder habe ich dabei an dich gedacht. Ich hatte dich bei mir.“ Der Schluss des Romans bleibt offen, aber „am Ende geht es um den Moment.“ Dieser ist die einzige Hoffnung.

Wenn die Nacht am stillsten ist“, erschienen bei Antje Kunstmann, 224 Seiten, € 17,95

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