Jerusalem

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Samstag, 29. Juni 2013

„Femme fatale“ von Martin Walker

Das Krimi-Genre hat seinen Lesern im Verlauf der letzten Jahre eine erstaunliche Anzahl der exotischsten Schauplätze auf der ganzen Welt erschlossen, manchmal jedoch – wie wir immer wieder aus der Presse erfahren müssen – finden sich die größten Monstrositäten ganz unverhofft hinter der nächstnachbarlichen Haustür, und so scheint es kaum verwunderlich, dass sich viele deutsche Krimifans zuletzt mit großer Begeisterung auf jene Werke gestürzt haben, die ihre Handlung mit deutlich erkennbarem, oftmals satirisch überhöhtem spezifischen Lokalkolorit würzen, um das allseits bekannte und guter Literatur von jeher immanente heilsame Wiedererkennen im Leser noch zu forcieren.

Das wesentliche Problem vieler Lokalkrimis bleibt allerdings die den Nachahmungsmechanismen des Buchmarkts geschuldete ärgerliche Tatsache, dass literarische Kriterien immer häufiger hinter dem deutlich erkennbaren Bemühen der Verlage zurücktreten, dem Leser selbst zu den abwegigsten Unorten der deutschen Provinz einen Kriminalroman anbieten zu wollen.

Einen erfreulicher Sonderfall zwischen diesen beiden Extremen bilden die seit 2008 bei Diogenes in schöner Regelmäßigkeit erscheinenden, wunderbar-ergötzlichen, federleicht zu konsumierenden Périgord-Krimis des renommierten schottischen Journalisten und Schriftstellers Martin Walker (geboren 1947). Sein sympathischer Protagonist Bruno, ein ausgewiesener Feinschmecker, ambitionierter Hobbykoch und umsichtiger Kleinstadtpolizist mit Waffenphobie, ist die heimliche Seele seines beschaulichen fiktiven Heimatortes, der die selbst in der südwestfranzösischen Idylle mitunter aufkeimenden, alltäglichen Konflikte in aller Regel mit bewundernswertem diplomatischen Geschick und menschenfreundlich-besonnenem Weitblick bewältigt.

Und die ewig junge Frage, an der sich im Laufe der Jahrtausende schon Generationen von Philosophen, Esoterikern und Propheten erfolglos abgearbeitet haben, ohne eine befriedigende allgemeingültige Antwort geben zu können, die längeren Bestand haben könnte als eine verschwindend geringe Zeitspanne im Weltgefüge: nämlich ob der Zufall in der Welt existiert, beantwortet Martin Walker zumindest für die Region Périgord stets mit einem klaren Nein. Freilich ist allein die erhabene Position des „Schöpfers“ – wenn auch in diesem Fall die des literarischen – wie keine andere geeignet, Ereignisse von Vorsatz, Schicksal oder Synchronizität nicht nur aufgrund des eigenen exponierten Überblicks zu erkennen, sondern sie sogar bewusst herbeizuführen.

So dürfen wir zumindest als eifrige Walker-Leser wenigstens für die kurzweilige Dauer der Lektüre fest daran glauben, dass alle Dinge miteinander verbunden sind und der Sinn des Lebens vor allem darin besteht, dies zu erkennen und darüber hinaus mit wachen Sinnen einen unerschöpflichen Vorrat an genießerischen Augenblicken unbeschwerten Glücks anzusammeln, der uns möglicherweise über die zweifellos kommenden Momente von Not und Verzweiflung hinweghelfen wird.

Darüber hinaus verbinden die international erfolgreichen Bruno-Romane auf kunstvollste Art und Weise liebevoll porträtiertes, authentisches Lokalkolorit mit der Sehnsucht des Lesers nach Urlaub in einer für ihr Essen und ihre hochwertigen Lebensmittelprodukte weltweit bekannten Feinschmeckerregion. Gleichzeitig zeigt der politische Journalist Martin Walker darin immer wieder sehr elegant auf, wie sich globale soziale Prozesse zwangsläufig auch auf das Zusammenleben in scheinbar intakten ländlichen Gemeinschaften auswirken.



Das bildmächtige, vom Eindruck des gelungenen Covers noch eindrucksvoll gesteigerte Entrée zu Brunos jetzt erschienenem fünften Fall mit dem anspielungsreichen Titel „Femme fatale“ scheint geradezu filmreif: an einem entspannten, träge vor sich hinplätschernden Samstagmorgen treibt, während der örtliche Kirchenchor Bachs Matthäuspassion probt, ein einsames, herrenloses Ruderboot mit einer Aufsehen erregenden Fracht den Fluss herunter:

Die Frau konnte unmöglich noch am Leben sein. Sie war fast vollständig von Wasser überspült, nur die Brüste, das Gesicht und die Fußspitzen ragten daraus hervor. Die Haare fächerten sich wogend hinter ihrem Kopf, und die Hände schienen mit den Wellen zu spielen. Der Vogel hatte sich über ihr linkes Auge hergemacht, das andere schaute ausdruckslos zum Himmel empor. Dass die Frau sehr schön gewesen sein musste, war unverkennbar. Sie hatte eine makellose Haut und ein ebenmäßiges Gesicht. Nase und Kinn waren wohlgeformt, die Wangenknochen ausgeprägt. Bruno glaubte einen leichten Brandgeruch wahrzunehmen und etwas Öliges, das an Paraffin erinnerte. Neben der Leiche schwamm eine leere Wodkaflasche.

Die unbekannte, mit diabolischem Vorsatz künstlich im Boot drapierte Nackte erweist sich als fatale im doppelten Sinne: verhängnisvoll für sich ebenso wie für andere und – im dritten Wortsinn – als absolut tot. Die pathologische Untersuchung der Ermordeten offenbart schon bald schaurige Details ausgesprochen pikanter Todesumstände, die nahezulegen scheinen, dass die schöne Tote bei einer geheimen satanistischen Messe geopfert worden sein könnte.

Der mutmaßliche Tatort ist schnell identifiziert: ein in gräflichem Privatbesitz befindliches prähistorisches Höhlensystem, von dessen bisher erfolgreich geheimgehaltener Funktion als Veranstaltungsort für exklusive Sexparties sich clevere Strategen nun einen Aufschwung des lokalen Tourismus versprechen. Und während Bruno bei seinen weiteren Ermittlungen auf eine merkwürdige geschäftliche Verflechtung der französischer Waffenindustrie mit arabischem Terrorismus und internationalen Hedgefonds stößt, muß er sich wie gewohnt nicht nur der amourösen Avancen einer schönen Unbekannten erwehren, sondern wird auch wieder einmal mit seinen immer noch starken Gefühlen für seine zu einer nationalen Spezialeinheit in Paris versetzten Ex-Partnerin konfrontiert, deren Dienststelle aufgrund delikater internationaler Verwicklung – wie sich herausstellt – ebenfalls bereits in dem Fall zu ermitteln begonnen hat.

Auch in seinem fünften Périgord-Roman gelingt es Martin Walker mit leichter Hand und viel augenzwinkerndem Humor, drei unterschiedliche Fälle aufs Unterhaltsamste zu einem überaus spannenden Krimi zusammenzuführen, der Dank seines liebevoll beobachteten, lebensnahen Lokalkolorits und der mit Hilfe von Julia Watson, der Frau des Autors, einer renommierten Restaurantkritikerin und Food-Bloggerin, nachkochbar zusammengestellten und von Bruno im Verlaufe der Handlung persönlich zubereiteten Menüfolgen beinahe in der Lage ist, einen kompletten Urlaub in Südfrankreich im Geiste des Lesers zu ersetzen.

„Femme fatale“, aus dem Englischen von Michael Windgassen, erschienen bei Diogenes, 427 Seiten, € 22,90


Donnerstag, 27. Juni 2013

„Wenn Gott schläft“ von Shahin Najafi


Die alte Streitfrage unter Historikern und Philosophen, ob sich Geschichte wiederhole: unter totalitären Bedingungen, wie sie im Iran nicht erst seit der islamischen Revolution gegen das Schah-Regime im Jahr 1979 herrschen, werden besonders in der von Inkompetenz und Korruption ausgelösten eskalierenden wirtschaftlichen Depression der letzten Jahre und unter dem angesichts der reichen Bodenschätze des Landes und einer außergewöhnlich gut ausgebildeten breiten Mittelschicht vollkommen unnötigen Elend der Bevölkerung nicht nur allgemeine Grundzüge der Funktionsweisen von Diktaturen sichtbar. Die sich in blinder Selbstüberschätzung grausam-blöde gegen die eigenen Ressourcen richtende staatlich santionierte Gewalt bringt auch immer wieder Helden hervor, die sich der unausweichlich scheinenden Resignation und Fügung in die Verhältnisse auch unter Todesgefahr mit aller Kraft verweigern.



Es ist also keine Überraschung, dass Wolf Biermann – als Ikone des unschuldig verfolgten, unerschrockenen Sängers – am 15. Juni 2012 zu den fünfzig prominenten Erstunterzeichnern eines Solidaritätsaufrufs deutscher Kulturschaffender mit dem seit 2005 in Deutschland lebenden iranischen Sänger und Lyriker Shahin Najafi zählte, der zuvor, nur wenige Tage nach der Veröffentlichung seines satirischen Songs „Naghi“ im Internet, einer im Vergleich mit anderen seiner Lieder eher harmlos-humoristischen Anrufung des für seinen Humor bekannten zehnten Imams der Schiiten aus dem Neunten Jahrhundert, von der iranischen Geistlichkeit mit einem Todesurteil sowie einem Kopfgeld von 100.000 Dollar belegt worden war.

Naghi, ich beschwör dich beim Ausmaß der Sanktionen
Dem steigenden Dollarkurs und dem Gefühl der Demütigung
Bei dem Imam aus Pappe
Bei dem Kind, das schon im Mutterleib nach dem heiligen Ali schreit
Beim Religionsunterricht während der Nasen-OP
Beim Imam, bei allen Gebetsketten und Gebetsteppichen made in China
Beim Finger von Sheys Rezaei
Beim religiösen Fußball und der Religion im Aus

Oh Naghi, nun da Mahdi schläft, rufen wir dich
Oh Naghi, mögest du wiederauferstehen
Oh Naghi, wir stehen bereit für dich, in Leichentüchern

Naghi, ich beschwör dich bei der Liebe und Viagra
Bei den weit gespreizten Beinen der Ergebenen
Bei Fladenbrot, Hühnchen, Fleisch und Fisch
Bei den Brüsten aus Silikon und geflickten Jungfernhäutchen
Naghi, bei Golshiftehs Titten
Bei der verlorenen Ehre, die wir eigentlich nie hatten...

Es hat immer etwas Wunderbares, fundamental Erhellendes, wenn man ganz unverhofft und mit den verfeinerten Mitteln der Kunst, die dankbare Gelegenheit bekommt, ein Land samt seiner Kultur und seiner Bewohner auf gänzlich andere Art und Weise kennenlernen zu dürfen als man es aus dem üblichen, von den Medien vermittelten Zerrbild bereits zu kennen vermeint. Seit der Islamischen Revolution vor mehr als dreißig Jahren ist der Iran im Bewusstsein des Westens vor allem als gern beschworenes Negativbeispiel für wirtschaftliche und soziale Rückständigkeit sowie insbesondere für religiösen Fanatismus missbraucht worden, als finster-mittelalterliche Umkehrung der sogenannten Errungenschaften der westlichen Zivilisation. Das scheinbar schlimmste jedoch: die Islamische Republik will die Atombombe!

Dieses gefährliche kulturelle Ängste gebündelt schürende Feindbild setzt allerdings vollkommen illegitimerweise Anschauungen der Führungsriege des totalitären Regimes mit den im pluralistischen Sinne unzähligen unterschiedlichsten möglichen Auffassungen seiner Bürger gleich, wodurch die Existenz einer eigenständigen denkenden und bewusste individuelle Entscheidungen treffenden Persönlichkeit kategorisch verneint wird. Diese Vorstellung aber ist vollkommen absurd.

Wenn du die Augen öffnest und dich umschaust
Siehst du nur Leichen, die alle auf dich einschlagen
Auch von deinen Eltern hast du eines Tages genug
Weil sie wollen, dass du ein Schaf wirst wie sie
Aber durch meine Adern strömt das Blut einer wilden Generation
Die an das, was du uns anbietest, nicht mehr glaubt [...]
Hadji, an dir hängt eine Menge Bart wie Wolle herum
Mit der Gebetskette in der Hand kriegst du jede für die Zeit-Ehe rum

Einen guten unverstellt-lebenshungrigen Einblick in den wilden unangepassten Iran bekommt man hingegen durch den halbdokumentarischen Spielfilm „Perserkatzen kennt doch keiner“ von Bahman Ghobadi über zwei illegale Rockmusiker in Teheran, der bei den Filmfestspiellen von Cannes im Jahr 2009 völlig zu Recht mit einen Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde. Aber auch in dem überraschenden Roman „Der geheime Basar“ des israelischen Schriftstellers Ron Leshem, dem vielleicht ersten mittels Facebook-Freundschaften entstandenen Buch der Literaturgeschichte, erhalten wir tiefe Einblicke in die zahlreichen Wunder des unbekannten Iran – mit seinen geheimen Partys, illegalen Konzerten, Sex und Drogen.

Der Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch hat dem seit vielen Jahren in der Rheinmetropole lebenden Sänger und Lyriker Shahin Najafi und seinem musikalisch-politischen Kampf unter dem Titel „Wenn Gott schläft“ nun ein Taschenbuch gewidmet, das zahlreiche Songtexte, Gedichte sowie biographische Prosatexte des verfolgten Musikers erstmals in deutscher Sprache versammelt, übersetzt von dem Soziologen M.H.Allafi und sachkundig-erhellend kommentiert von Omid Nouripour, dem langjährigen Sprecher für Sicherheitspolitik der Grünen-Fraktion im deutschen Bundetag.

Der Werdegang Shahin Najafis überrascht dabei am meisten: denn obwohl der Islam in seiner Familie traditionell keine besondere Rolle spielte, entwickelte der begabte Jugendliche, wie er in einem längeren Text am Anfang des Buches sehr eindrücklich beschreibt, ein so intensives Interesse an religiösen Dingen, dass er bereits als Siebzehnjähriger nicht nur als begnadeter Koran-Rezitator, sondern auch als große zukünftige Hoffnung der lokalen Geistlichkeit seiner Heimatstadt Bandar Anzali am Kaspischen Meer galt. Dass er dennoch kein Mullah geworden ist, verdankt er dem beißenden Uringeruch im Gewand eines extra aus Teheran angereisten hohen Geistlichen, der ihn, begeistert von seiner „himmlischen“ und „göttlichen“ Rezitation, zur Belohnung zu sich nach vorne gerufen hatte, dass er „neben ihm sitze“.

Nachdem er bei Renovierungsarbeiten in der Moschee durch Zufall auf eine Zeitungsnotiz mit dem Grabspruch des Dichters Sohrap Sepehri (1928-1980) gestoßen war: „Wenn ihr nach mir sucht, sollt ihr das sanft und behutsam tun, nicht dass das Porzellan meiner Einsamkeit Risse bekommt“, begann er sich intensiv mit persischer Lyrik zu beschäftigen, was eine graduelle und schließlich endgültige Abkehr von Gott und der Religion zur Folge hatte. Seine weitere persönliche und künstlerische Entwicklung beschreibt Najafi unter den gegebenen politischen Umständen als geradezu zwangsläufig für einen geistig hellwachen, lebenshungrigen Menschen im Iran, der mit offenen Augen und kritischem Verstand sein Land betrachtet.

In seinen Texten und Gedichten ist einerseits die unverstellt-rotzige, rebellische Sprache des Rap sehr präsent, andererseits finden sich auch deutliche Anklänge an die uralte persische Lyriktradition, die die intensive Auseinandersetzung des Autors mit dieser altehrwürdigen Schule verraten. Aber auch seine intensiven Kenntnisse der religiösen Traditionen des Islam verleihen den Texten eine besondere Wahrhaftigkeit und Authentizität, denn die Perspektive des Sinnsuchers ist geblieben. Wo aber soll man noch Sinn finden, wenn die kollektive Realität von Armut, Mord und Unterdrückung bestimmt wird, das totalitäre Regime selbst vor Mord und Vergewaltigung nicht zurückschreckt und insbesondere die gut ausgebildeten Frauen systematisch unterdrückt und ihnen ein selbstbestimmtes Leben vorenthält?

Als die Reformer plötzlich Reformisten waren
Als die Revolutionäre klein beigaben oder weniger geworden sind
Als die Bärte zu Bärtchen wurden und die Wurzeln unter die Axt kamen
Als die Revolutionswächter politische Geschäfte machten
Als Musiker wie Fereidoon an einer Überdosis starben
Als zwanzig Millionen Stimmen vom Winde verweht wurden
Als die Gewänder schokoladenbraune, weiße und gelbe Farbe hatten
Als wir frei waren und die Freiheit die Form von Schmerzen hatte
Als die Filmemacher Schlagstöcke trugen
Es war kein Kino, es war ein Zirkus, voller Geschenke und Blumen

Als du und die Trauer und die Ironie, die traurige Ironie da waren
Als du und eine Herde von durchgefallenen Gelehrten da waren
Als du und die Reue und vorsichtige Gedichte da waren
Als du und der Gedanke auf diese Welt zu pissen da waren

„Wenn Gott schläft“ – das jedoch bleibt unausgesprochen – müssen wir selbst für gerechte Verhältnisse sorgen. Die verfeinerte politische Anspielung, wie sie die klassischen persischen Dichter früherer Jahrhunderte notwendigerweise meisterhaft beherrschen mussten, wenn sie nicht die Gunst ihrer fürstlichen Mäzene, ihr Einkommen und ihr Publikum verlieren wollten, lehnt Najafi mit aller Entschiedenheit ab – und er hat gute Gründe dafür: im Zeitalter des Internets können Künstler und ihr Publikum auch über geographische Entfernungen von tausenden von Kilometern mühelos zueinander finden.

Was an Shahin Najafis mitreißend-engagierter, unmittelbar wesentlicher Lyrik jedoch am meisten zu beeindrucken vermag, ist die wunderbare Tatsache, dass in ihr die Sphäre der Politik, der umfangreiche Bereich des Privaten und Persönlichen sowie die romantische und brüderliche Liebe ähnlich wie in der Dichtung Nazim Hikmets eine kaum voneinander abzugrenzende Einheit bilden. „Wenn Gott schläft“ ist ein wichtiges, kaum hoch genug zu lobendes Buch, das unsere Wahrnehmung des Iran und seiner Menschen nachhaltig zu verändern vermag.

„Wenn Gott schläft“, aus dem Persischen von M.H. Allafi, mit einem Geleitwort von Günter Wallraff sowie einem Vorwort und zahlreichen Erläuterungen von Omid Nouripour, erschienen als KiWi Paperback, 160 Seiten, € 8,99

Dienstag, 18. Juni 2013

„Und doch ein ganzes Leben“ von Helga Weiss

Auch beinahe siebzig Jahre nach Kriegsende erscheint auf dem internationalen Buchmarkt immer noch Jahr für Jahr eine beträchtliche Anzahl von neuen, bisher unbekannten literarischen Berichten von unmittelbaren Zeugen des organisierten Massenmords an den europäischen Juden durch Nazi-Deutschland: zum Teil sind es Kinder und Enkel der direkten Opfer, die das Schweigen über deren Leiden brechen, in manchen Fällen werden versteckte Aufzeichnungen bei privaten Renovierungsarbeiten oder in noch nicht ausgewerteten Archiven gefunden, aber auch unmittelbar Betroffene entschließen sich mitunter noch am Ende ihres Lebens dazu, gleichsam aus erster Hand über den ihnen aufgezwungenen Weg Zeugnis abzulegen.

Wer allerdings angesichts der enormen Fülle an detaillierten wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Schoah allen Ernstes die Frage aufwirft, wozu wir noch weitere Zeitzeugenberichte brauchen, sollte sich noch einmal dringend die unbequeme, unleugbare Tatsache vor Augen führen, dass im Weltenbrand des Zweiten Weltkriegs die Gesamtzahl der zivilen Todesopfer (39.000.000) die der militärischen nicht nur um fast zwei Drittel übersteigt, sondern vor allem dass allein die Anzahl der ermordeten Juden nach Zusammenführung sämtlicher heute zu Verfügung stehender Quellen 6.000.000 vermutlich sogar noch übertreffen dürfte.

Um diese verstandesmäßig kaum zu fassende Zahl dennoch wenigstens annähernd begreifen zu können, ist es nicht nur nützlich, sondern geradezu unverzichtbar, sich mit den persönlichen Zeugnissen der Betroffenen zu beschäftigen: es geht hier um nicht weniger als 6.000.000 sinnlos ausgelöschte Leben, viele davon fraglos unspektakulär, unauffällig, unambitioniert – ganz gewöhnliche Lebensentwürfe von ganz gewöhnlichen „Menschen-wie-du-und-ich“, deren einziges Ziel es war, in Liebe und Einklang mit sich und der Welt zu leben.

Das Unfassbare am fabrikmäßig organisierten Judenmord ist ja gerade die jedem humanistischen Grundgedanken vehement zuwiderlaufende Konsequenz, mit der die absurd-geisteskranke pseudophilosophische Herleitung der angeblichen jüdischen Minderwertigkeit aus dem Ungeist des mitteleuropäischen Nationalismus des Neunzehnten Jahrhunderts zunächst über die theoretische Infragestellung jüdischen Lebens bis zur unmittelbaren totalen physischen Vernichtung tatsächlich von den Nationalsozialisten und ihren zahlreichen Handlangern durchgezogen wurde.

Besonders aus der bitteren Erkenntnis der jeglicher Definition von Menschlichkeit entzogenen Perspektive der Nationalsozialisten als selbsternannte Richter über Tod und Leben, Falsch und Richtig, Gut und Böse, muss man umso deutlicher bekräftigen, dass jedes dieser mutwillig zerstörten 6.000.000 Leben es vor allem ohne jede Einschränkung verdient gehabt hätte weitergelebt zu werden, in aller möglichen Unvollkommenheit und Banalität, und demzufolge auch heute noch gehört zu werden. So dürfen wir jeden Zeitzeugenbericht getrost als physisch-sichtbaren Beitrag zur schönen, in Judentum und Christentum gleichermaßen verbreiteten Vorstellung vom Buch des Lebens betrachten, in das die Namen und Taten der Gerechten „bis in alle Ewigkeit“ eingeschrieben seien.



Der Name der tschechischen bildende Künstlerin Helga Weissová-Hosková, geb. 1929 in Prag, ist interessierten Lesern bereits durch eine nachhaltig beeindruckende Buchveröffentlichung aus dem Jahr 1998 bekannt, in der unter dem programmatischen Titel „Zeichne, was du siehst“, der Aufforderung ihres mit großer Wahrscheinlichkeit in Auschwitz ermordeten Vaters an die künstlerisch begabte und intellektuell aufgeweckte Tochter anlässlich der gemeinsamen Internierung im Konzentrationslager Theresienstadt im Dezember 1941, nahezu sämtliche ihrer dort entstandenen Kinderzeichnungen versammelt sind, auf denen die damalige Schülerin mit beeindruckend-wachem Blick für die Details des Lageralltags das alltägliche Grauen im von den Nazis bewusst beschönigend „Ghetto“ genannten Durchgangslager auf dem Weg in die Todeslager Auschwitz, Treblinka, Sobibor und Majdanek wiedergibt. Ihr kindlich-naiver Zeichenstrich erschreckt und beeindruckt den Betrachter dabei umso mehr, da für ihn darin unmittelbar erfahrbar wird, dass dies alles, was doch kein Kind jemals auch nur mit eigenen Augen bezeugen sollte, Abertausenden von Kindern in der Schoah tatsächlich widerfahren ist.

Doch Helga Weissová-Hosková führte seit dem Beginn der deutschen Okkupation in Prag und später in Theresienstadt auch ein höchst aussagekräftiges persönliches Tagebuch, welches sie vor ihrer Deportation nach Auschwitz ihrem aufgrund seiner exponierten Tätigkeit im Geschäftszimmer der sogenannten „Ghettoverwaltung“ relativ weitreichende Protektion genießenden Onkel übergab, der es gemeinsam mit ihren Zeichnungen und Skizzen in einem geheimen Versteck im Lager einmauerte und nach dem Krieg unversehrt wieder bergen konnte.

Ihre weitere Leidenszeit in Auschwitz-Birkenau, im Messerschmidt-Flugzeugwerk Freiberg/Sachsen sowie im zehntägigen unwahrscheinlichen Verlauf einer kafkaesk-absurden Odyssee mit dem Zug, kurz hinter der sich stetig vorwärtsschiebenden Frontlinie, und schließlich die letzten Kriegstage im berüchtigten Lager Mauthausen, wo nur wenige Tage vor Eintreffen ihres Transports die Vergasungen auf Druck des Roten Kreuzes endgültig eingestellt worden waren, schrieb sie als Vierzehnjährige nur wenige Wochen nach der Befreiung ebenfalls im Tagebuchstil auf.

Diese Aufzeichnungen sind nun erstmals gemeinsam mit einem Teil ihrer Zeichnungen in einem Buch zusammengeführt worden: „Und doch ein ganzes Leben – Ein Mädchen, das Auschwitz überlebt hat“. Darin ergibt sich umso mehr das Bild eines talentierten, geistig hellwachen, mutigen jungen Mädchens das sich seines so umfassend niemals ausgesprochenen väterlichen „Auftrags“ vollkommen bewusst zu sein scheint und das während aller Kränkungen, Demütigungen und im Verlaufe seines verzweifelten, ihr von den Nazis grausam aufgezwungenen Kampfs ums Überleben dennoch niemals den Kern ihrer Persönlichkeit preiszugeben bereit ist, immer an die Möglichkeit der Rettung glaubt und auf rührende Art und Weise selbst den Gedanken ans unwahrscheinliche Überleben des geliebten Vaters nicht aufgeben mag:

Wenn wir wenigstens im Zug [nach Auschwitz] die Pastete gegessen hätten; wir hatten sie für Papa aufgehoben, damit wir ihm gleich etwas geben können. Mein Gott, wie haben wir Dummköpfe uns das überhaupt vorgestellt? „Ihr fahrt zu euren [bereits deportierten] Männern in das neue Ghetto.“ Und wir haben ihnen das geglaubt. Manche Frauen haben sich sogar freiwillig gemeldet.

Im aufschlussreichen Interview im Anhang des Buches bekennt die Dreiundneunzigjährige:

Ich habe das nur für mich selbst geschrieben und hatte damit, glaube ich, eigentlich keine weiteren Absichten. Na ja, ob ich nun welche hatte oder nicht, weiß ich nicht genau. Ich habe ja auch gezeichnet. Auch diese Zeichnungen habe ich für mich gemacht, aber es kann sein, dass ich ein klein wenig daran dachte, dass ich alles für spätere Zeiten festhalten will, denn aus heutiger Sicht betrachtet, steckte schon eine gewisse Regelmäßigkeit dahinter. Vor allem aber schrieb ich für mich. Es kann allerdings sein, dass ich damals schon ein kleines bisschen diesen Gedanken verfolgte.

Ein wesentlicher Unterschied von Helgas Tagebuch zu den zahlreichen uns heute bekannten anderen kindlichen Schilderungen als aussagekräftige Zeugnisse des NS-Terrors besteht vor allem in der wunderbaren Tatsache des glücklichen Überlebens der jungen Autorin: denn das Grauen vieler anderer Kindertagebücher, die in der Regel schon deshalb mit dem Zeitpunkt der Deportation abbrechen, weil die SS in den Konzentrationslagern anders als im Ghetto keinerlei persönlichen Besitz mehr duldete, ergibt sich schließlich vor allem aus unserem detaillierten Wissen über das vielfältige Grauen, das den innerlich unnötig früh Gereiften noch bevorstehen sollte und das so zahlreiche hoffnungsvolle, vielversprechende Lebenswege, mit denen wir uns so vorbehaltlos identifizieren, mit kalter Berechnung einfach endgültig kappte.

In Helga Weissovás Tagebuch steigert sich das Grauen stetig, bis es allgegenwärtig ist und die Autorin nicht sicher sein kann, ob sie den jeweils beschriebenen Tag überleben wird: von ersten Einschränkungen aufgrund der von den Nationalsozialisten auch in der Tschechoslowakei umgehend implementierten menschenunwürdigen deutschen „Rassegesetzen“, über die ersten, lediglich Bekannte oder Verwandte betreffenden Deportationen nach Theresienstadt, den dortigen physischen und vor allem massiven psychischen Terror, bis hin zu ersten Gerüchten im Lager über den Einsatz von Gas und die Transporte nach Auschwitz, die Selektion, Zwangsarbeit, Hunger und die absolute physische Vernichtung.

Ja, das ist das letzte System. Wochen, womöglich Monate ohne Essen und Trinken haben sie hinter sich, diese – Menschen? Ja, das waren einstmals Menschen. Gesund, stark, mit eigenem Willen und eigenen Gedanken, mit Gefühlen, Neigungen und Liebe. Mit Liebe zum Leben, zum Guten und zur Schönheit, mit dem Glauben an eine bessere Zukunft. Übrig geblieben sind Schemen, Körper, Gerippe ohne Seelen.

Man mag darüber streiten, ob es legitim sei, einem organisch entstandenen Tagebuch über die Zeit im vergleichsweise „privilegierten“ Durchgangslager Theresienstadt eine im selben Stil geschriebene tagebuchartige Rekapitulation der späteren Ereignisse in den Todeslagern hintanzustellen. Daran jedoch, dass eine Weiterführung der begonnenen Geschichte in irgendeiner Form zwingend notwenig war, dürfte allerdings niemand auch nur den geringsten Zweifel hegen. Die von der Autorin bereits kurz nach der Befreiung gefundene Form führt ohnehin gerade im Zusammenspiel mit ihren präzise beobachteten Zeichnungen dazu, dass das vorliegende Buch aufgrund seiner schmerzhaften Authentizität und ausgesprochenen Detailfülle wie kaum ein anderes Dokument geradezu ideal dazu geeignet ist, um die darin beschriebenen Ereignisse intellektuell wie emotional gleichermaßen nachvollziehen zu können und diese somit in ihrer ganzen Tragweite zu begreifen.

Die Waggons sind da, der zweite Transport [nach Auschwitz] geht in die Schleuse. Mama macht schnell das Abendbrot, Papa soll sich noch einmal zum letzten Mal ordentlich satt essen. [...] Hier haben wir drei gesessen, jeden Abend, das letzte Dreivierteljahr. Das war für uns die beste Zeit in Theresienstadt, hier hatten wir unsere glücklichsten Stunden. Wenn gerade jetzt der Krieg zu Ende wäre... Das wäre zu schön. [...] Den Kopf an Papas Brust gepresst, höre ich deutlich seinen Herzschlag, wie von ferne, traurig, wie die Stimmung des heutigen Abends. Ach Papa, wären deine Arme doch so stark, dass mich niemals etwas aus ihrer Umarmung reißen könnte.

Wer die Bedeutung und den Wert des Lebens vollends begreifen will, sollte dieses Buch lesen.

„Und doch ein ganzes Leben“, aus dem Tschechischen von Elke Čermáková, erschienen bei Lübbe, 223 Seiten, € 18,-

Mittwoch, 12. Juni 2013

„Der Traumkicker“ von Hernán Rivera Letelier


Von führenden Sportartikelherstellern sowie den Hauptvermarktern großer internationaler Länderturniere wird der Fußball heute nicht zu Unrecht vor allem als völkerverbindendes Integrationsmittel mit höchstmöglichem Spaßfaktor dargestellt. Und in der Tat ist das dominierende Hauptmerkmal nahezu aller für den Zuschauer halbwegs attraktiver Mannschaftssportarten mit leicht verständlichem Regelwerk ohne jeden Zweifel die höchst angenehme Tatsache, dass jener – egal wie trist seine jeweiligen Lebensumständen auch sein mögen – für die jeweilige Dauer des Spiels vom Geschehen auf dem Platz gleichsam dazu gezwungen wird, seinen vergangenen und zukünftigen Problemen zu entfliehen und größtmöglichen Anteil am Jetzt des sportlichen Wettkampfes zu nehmen.

Dass der Fußball tatsächlich für viele Menschen mehr ist als eine beliebige Sportart, müssen wir allerdings auch im negativen Sinne immer wieder erfahren, wenn etwa Menschen nur deshalb zu körperlichem Schaden kommen, weil sie dem vermeintlich „falschen“ Verein anhängen oder durch Zufall zwischen rivalisierende Gruppen radikaler Fans geraten, die Fußball mit Krieg verwechseln und in professionellen Söldnertrupps besser aufgehoben wären als in der menschlichen Zivilisation.

Wenn man ihn jedoch nicht als völlig inadäquaten Ersatz für ein mit wachen Sinnen eigenverantwortlich gelebtes Leben betrachten muss, kann Fußball dennoch – zumindest vorübergehend – durchaus auch im kollektiven Sinne unverhoffte Hoffnungseruptionen bewirken und einzelne sowie ganze Gruppen zu außergewöhnlichen Leistungen motivieren, wie es der hierzulande noch nahezu unbekannte chilenische Schriftsteller Hernán Rivera Letelier in seinem wunderbaren, ebenso poetischen wie humorvollen Roman „Der Traumkicker“ über ein schicksalhaftes Fußballspiel in der chilenischen Atacama-Wüste auf unnachahmliche Art beschreibt, indem er mit viel Empathie alltägliche menschliche Sorgen und Nöte porträtiert, aber auch unsere Träume, Hoffnungen sowie unsere ureigene Fähigkeit zu unvoreingenommener Liebe und Freundschaft.



Hernán Rivera Letelier ist in einer jener elenden, zum Teil namenlosen und oft aus nicht mehr als fünf Straßen bestehenden Siedlungen aufgewachsen, die seit Anfang des Neunzehnten Jahrhunderts um die zahlreichen Salpeterminen in der Atacama-Wüste im Norden Chiles herum entstanden sind und die er in seinem literarischen Schaffen nie aufgehört hat zärtlich zu umkreisen. Dass der Sohn eines Minenarbeiters einmal ein erfolgreicher Schriftsteller werden würde, war dabei kaum vorauszusehen, obwohl er – wie er in seinen Erinnerungen rekapituliert – stets der einzige Nutzer der lokalen Leihbücherei gewesen sei.

Zum Schreiben brachte ihn schließlich der Lyrikwettbewerb eines lokalen Radiosenders, bei dem er mit einem vierseitigen Liebesgedicht als erstem Preis ein Abendessen in einem feinen Restaurant gewann. So wesentlich wie die gute Erfahrung, dass ein Gedicht durchaus satt machen kann, sind auch die Motive in Rivera Leteliers Roman „Der Traumkicker“ aus dem Jahr 2006, der wie ein klassischer Western beginnt:

Es war ein Montag im Oktober, als sie zu Fuß mitten auf der ausgestorbenen Straße auftauchten. Zur Stunde der Siesta in der Wüste. Nicht ein verdammter Hauch in der Luft, und unter der brüllendheißen Sonne schmolzen die Lebensgeister von allem, was auf dem Antlitz der Erde atmete.

Allerdings trägt der unbekannte, verwegen aussehende Fremde, der aus gänzlich unwahrscheinlicher Himmelsrichtung kommend in der flimmernden Mittagshitze lässig die staubige Hauptstraße der Salpetersiedlung Coya Sur überquert, keinerlei todbringende Waffen bei sich, sondern stattdessen einen echten Profi-Fußball unter dem Arm: weiß und mit Waben!

Der Mann hatte ein Tropenhemd an, eine zu weite Hose und Schuhe aus Segeltuch, und den Ball hielt er genau wie ein Torhüter bei den Paraden zur Turniereröffnung. Obwohl er um die vierzig sein musste und, man wusste nicht auf welchem seiner O-Beine, leicht zu hinken schien, bewegte er sich mit dem Gehabe und der Coolness eines Profikickers. Außerdem trug er ein schmales Stirnband, was man hier draußen sonst nie sah.

Der fremde Traumkicker, dessen Aura im weiteren Verlauf der Handlung geradezu „messianische“ Ausmaße annimmt, kommt indes gerade zur rechten Zeit, denn bevor die in Lethargie versunkene desolate Bergarbeitersiedlung aufgrund erschöpfter Ressourcen vollends aufgegeben werden soll, steht noch ein allerletztes Fußballspiel gegen den Nachbarort an, den verhassten Erzrivalen, der dem Team von Coya Sur über Jahre hinweg eine schmachvolle Niederlage nach der anderen zugefügt hat. Die Wetten stehen denkbar schlecht, aber: „Der Ball ist rund, und das Spiel dauert neunzig Minuten“...

[...] lassen Sie es mich herausschreien, dass man es in der ganzen weiten Wüste hört, lassen Sie es mich aus tiefster Seele herausschreien, aus tiefstem Herzen, aus den Tiefen meines Gemächts, lassen Sie es mich schreien, bis mir die Stimme versagt, bis mir die Pisse rinnt, liebe Hörerinnen und Hörer an den Radios; ja, bis mir die Pisse in die Hose rinnt, bis meine Pisse nach Ahornsirup riecht, wie bei der Ahornsirupkrankheit, der Ahornsirupkrankheit: Die Ahornsirupkrankheit ist eine Stoffwechselstörung, hervorgerufen durch einen Mangel an den für den Abbau der verzweigtkettigen Aminosäuren Leucin, Isoleucin und Valin zuständigen Enzyme und führt bei unzureichender Behandlung aufgrund der Anreicherung besagter drei Aminosäuren zu Enzephalopathie und progressiver Neurodegeneration und...!


Hier wird besonders deutlich, wie sehr der Autor den Fußball immer auch als wichtigen Bezugspunkt im sozialen Gefüge verortet: und hier ist sie absolut greifbar, die unverwüstliche Faszination des Fußballs, spürbar auch, warum er gerade im Ruhrgebiet bis heute ein viel tieferes, ehrlich empfundenes Identifikationspotential besitzt als in anderen Teilen Deutschlands. Hernán Rivera Letelier ist eine wunderbar leichtfüßige, humorvolle und unvergessliche Liebeserklärung an den Fußball, die untergegangene Welt seiner Jugend sowie die fantastische Macht der Träume gelungen.

„Der Traumkicker“, aus dem Spanischen von Svenja Becker, erschienen als Insel-Taschenbuch, 207 Seiten, € 7,99

Samstag, 8. Juni 2013

„Die amerikanische Fahrt“ von Patrick Roth

Es gibt keinen anderen Autor im deutschen Sprachraum, der uns als Leser so wie Patrick Roth literarisch „an die Hand“ nimmt – nein, intensiver noch: uns regelrecht packt und mitreisst – um uns die seltene, unbeschreiblich-gegenwärtige, wunderbare Gelegenheit zu geben, die Lektüre so mitzuerleben, als wären wir selbst dabei: mitten im unmittelbaren Erleben.

Was in diesem virtuos konstruierten Prozess für den Leser übrigbleibt, in der faktischen Aufhebung der literarischen Fiktion, scheint ihm nicht weniger als unmittelbare eigene Erfahrung, selbst das Wort Erkenntnis scheint nicht zu hoch gegriffen, und steht in gewisser Weise in direkter Tradition der von Platon in seinen Dialogen entworfenen Sokratischen Methode, mit deren Hilfe Sokrates seine Schüler – hier allerdings in Form von Fragen – zur jeweils zu erreichenden Einsicht führt:

Nicht glauben sollt ihr, sondern erfahren.“

Patrick Roth wurde 1953 in Freiburg geboren und wuchs in Karlsruhe auf, wo er eine klassische humanistische Schulbildung genoss. 1975 wurde ihm vom DAAD ein Stipendium für die University of Southern California in Los Angeles gewährt, welches es dem filmbegeisterten Studenten ermöglichte, seine privat begonnenen Studien nun in der Welthauptstadt des Films endlich in professioneller Form weiterbetreiben zu können und sich dort eine Existenz als Schriftsteller, Regisseur, Drehbuchautor und Filmkritiker aufzubauen.

Seine literarische Karriere als deutschsprachiger Schriftsteller begann er mit Hörspielen und Theaterstücken, die er seit Anfang der 1980er Jahre in der sprachlichen Isolation Amerikas schrieb und anschließend selbst in Deutschland inszenierte. Seinen literarischen Durchbruch konnte Roth im Jahr 1991 mit seiner Christusnovelle „Riverside“ verbuchen, dem ersten Band einer gleichnamigen Trilogie, in der er auf begeisternde Art und Weise so scheinbar unterschiedliche Themenkomplexe wie Motive der Bibel, die Tiefenpsychologie Carl Gustav Jungs sowie die Welt des Unbewussten miteinander vereint, innerhalb einer im besten Sinne die Erwartungen des konventionellen Lesers geradezu „überwältigenden“ Handlung und mit Hilfe von kongenial auf die Mittel der Literatur übertragenen originär-filmkünstlerischen Erzähltechniken.

Rückblickend muss die spektakuläre Riverside-Trilogie, die Sigrid Löffler zu der Aussage bewog, Patrick Roth habe hierzulande nicht seinesgleichen, jedoch als virtuose frühvollendete Fingerübung und künstlerische Wegbereitung für sein im vergangenen Jahr erschienenes, völlig zu Recht für den Deutschen Buchpreis 2012 nominiertes Opus magnum „Sunrise – Das Buch Joseph“ gewürdigt werden, in dem er das lebenslange Ringen eines Menschen, des Jesusvaters Joseph, um persönliche Integrität und um die aktive Gestaltung seines Schicksals beschreibt, an dessen Ende der Autor zu einem großartigen, in der Literatur nahezu beispiellosen Bild der allumfassenden Einheit des Menschen mit dem Leben findet, das den Leser intellektuell und emotional gleichermaßen stark anzusprechen vermag und unsere Wahrnehmung des metaphorisch Göttlichen nachhaltig zu verändern vermag.



Patrick Roths neues Buch „Die amerikanische Fahrt – Stories eines Filmbesessenen“, dessen Verdienst neben der dankbaren thematischen Zusammenführung einiger älterer höchst aufschlussreicher, bisher aber lediglich verstreut erschienener Texte vor allem in der vollständigen Wiedergabe seiner zweiten Heidelberger Poetikvorlesung aus dem vergangenen Jahr besteht, erweist sich als äußerst wertvolle, deutlich in der Gegenwart verankerte Parallellektüre zu „Sunrise“, in der Roth nicht nur seine lebenslange Begeisterung für den Film ausführlich und beispielhaft erläutert, sondern sie auch als bedeutsame Wegetappe in den Gesamtzusammenhang einer ganz konkreten persönlichen künstlerischen Entwicklung stellt.

Dabei führt uns der Autor auf ebenso unterhaltsam-fesselnde wie sachkundig-selbsterfahrene Art und Weise vom ahnungsvollen Außen uns scheinbar nur „unwillkürlich“ begeisternder Filmbilder als Spiegel noch unbewusster innerer Bilder, über das Sehen der eigenen Innenwelt und der Bewusstwerdung dieser Bilder, schließlich bis hin zu einer möglichen Vereinigung durch aktive Integration der Welt des Unbewussten mit Hilfe der Instrumente unseres Intellekts in unseren Alltag und die dadurch zu schaffende Einheit:

Wenn ich sie fassen kann, diese Inhalte, ordne ich sie – um sie nach außen zu bringen, auch anderen zuzutragen –, indem ich mich auch der Sprache des Films bediene, das vom Medium der äußeren Bilder Erlernte also nutze, um dem dramatisch sinnträchtigen Gehalt der inneren Bilder Audruck zu geben. Wenn das geschieht und es mir gelingt, den zunächst unbewußten Inhalt, der mich bedrückt oder mich begeistert, mich jedenfalls gefühlsmäßig nicht indifferent läßt, in Bild oder Stimme zu fassen, dann hat das einen vermählenden Effekt. Ein Unbewußtes ist ans Licht gekommen, ist jetzt objektiv sichtbar. Ein Stück Bewußtsein ist hinzugewonnen. Hier im Bild, im äußeren Bild oder der sich äußernden Stimme gefaßt, ist etwas, das unsichtbar-innen war: jetzt offenbar.

Aber diese rein rational-zusammenfassende Analyse von Roths Texten ist um ein vielfaches zu kurz gegriffen, vermag ihren gedanklichen, erzählerischen, poetischen und inhaltlichen Reichtum nicht annähernd zu fassen: denn hier scheint der analytische Verstand bereits zur Verdrängung wesentlicher Bilder und Inhalte beizutragen, die in der Tat letztlich nur in der eigenen Lektüre selbst gesehen und erfahren werden können:

Etwa wie man in Sankt Petersburg zu frühstücken vermag ohne leibhaftig dorthin zu reisen; merkürdige, scheinbar zufällig-beiläufige Begegnungen mit Menschen, die sich überraschend und manchmal erst nach Jahren plötzlich als höchst sinnfällig erweisen; wunderbar nachskizzierte Momente der Filmgeschichte, die einen dazu bewegen, sich sofort mit den entsprechenden DVDs einzudecken, um die wunderbaren Beobachtungen des Autors nachzuvollziehen.

Aber Roths in diesem Band versammelte Texte eignen sich nicht nur als eine höchst verfeinerte Schule des von jedermann angestrebten poetischen Sehens, sie sind vor allem auch ein glänzendes Plädoyer dafür, immer danach zu streben das eigene Leben mit klaren Sinnen wahrzunehmen, das äußere ebenso wie das innere. Dabei enthalten sie in ihrem stets vorhandenen, dem Autor ausdrücklich wichtigen erzählerischen Kern immer auch einen deutlich erkennbaren Thrill, der sich aber vollkommen von der künstlich-erzeugten Spannung eines herkömmlichen Spannungsromans unterscheidet, welcher ja lediglich mit erzählerischen Mitteln eine als gleichzeitig empfundene Weltflucht inszeniert, während uns Roth in seinen Stories nur umso tiefer in die Welt hineinführt.

So erweist sich der bescheidene Autor selbst in diesem unscheinbaren und umso schwerer fassbaren, aber dennoch stets unmittelbar zugänglichen Band über prägende Stationen seiner künstlerischen und persönlichen Entwicklung als wirklich großer, bedeutender Schriftsteller, vielleicht als einer der wichtigsten und zukunftsweisendsten, die wir derzeit haben.

„Die amerikanische Fahrt“, erschienen bei Wallstein, 298 Seiten, € 19,90