Jerusalem

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Dienstag, 26. Januar 2021

Zum Tode von Arik Brauer (1929-2021)

Eigentlich wollte ich im Rahmen dieses Blogs nie wieder etwas veröffentlichen. Aber der Tod Arik Brauers ändert alles. Ich kann mit Sicherheit sagen, dass mein Leben anders verlaufen wäre, wenn ich nicht als unglücklicher Jugendlicher auf dem elterlichen Dachboden im Nachlass meiner jung verstorbenen Tante Arik Brauers erste frei verkäufliche LP gefunden hätte. Die davon ausgelöste, intensive Beschäftigung mit seinem vielfältigen, ungewöhnlich reichem und tiefgründigen Werk dauert bis heute an und wird mit seinem Tod nicht enden. 

 

Als die Göttin Athene dem jungen, naiven zukünftigen Helden Perseus ihren spiegelnd-glänzenden Schild aus polierter Bronze aushändigte, gab sie ihm auch den weisen Rat mit auf den Weg, dass man der größten Gefahr (und ich füge hinzu: der größten Schönheit) niemals direkt ins Auge blicken sollte, sondern nur indirekt mittels ihrer Reflektion in einem dafür geeigneten Spiegel. Arik Brauer war dieser Spiegel: 

 

"Brauer malt uns das Reich, ohne das wir nicht leben können. [...] So nahe, so verschwommen, so präzise, so flimmernd [...] Es ist ein Blick in die ewige Gültigkeit. So echt kann nur jemand malen, der dort war und den Weg hierher und dorthin kennt." 

 

Das schrieb der Maler Friedensreich Hundertwasser seinem Freund und künstlerischen Weggefährten 1997 ins Stammbuch. Das folgende Interview (in einer ungekürzten, unbearbeiteten Rohfassung) mit Arik Brauer durfte ich anlässlich des Erscheinens seiner Erinnerungen im Jahr 2006 per Telefon führen. Die im Anschluss daran ausgesprochene Einladung zu einer Führung durch sein Museum werde ich nun leider nie mehr annehmen können.

 

 

Arik Brauer 2009/Foto: Manfred Werner

Herr Professor Brauer, in ihren soeben im Amalthea-Verlag erschienenen sehr unterhaltsamen Erinnerungen „Die Farben meines Lebens“ benutzen Sie – von wenigen Ausnahmen abgesehen – fast niemals das Wort „ich“, sondern lassen wesentliche Begebenheiten in Ihrem Leben von wechselnden menschlichen oder auch tierischen „Nebenfiguren“ erzählen. Dadurch erreichen Sie eine jeder Eitelkeit enthobene, humorvolle Distanz zur eigenen Person. Ist die von Ihnen gewählte Erzählperspektive lediglich ein Stilmittel oder auch Ausdruck Ihrer ganz persönlichen Weltsicht?

Es ist durchaus Ausdruck meiner Absicht in Bezug auf diese Erinnerungen, denn ich bin davon ausgegangen, dass ich – wenn überhaupt – interessant sein kann als Zeitzeuge – ich bin immerhin ein 29er Jahrgang der noch einigermaßen intakt ist und Erinnerungen hat, auch noch aus den 30er Jahren, da gibt’s nimmermehr so viele Leute aus den 30er Jahren, die noch existieren... Und ich bin davon ausgegangen, dass wenn so ein Buch von allgemeinem Interesse sein kann, dann nur aus diesem Grund, weil Beobachtungen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten auch – das ist vielleicht auch nicht ganz uninteressant, dass ich sehr extrem unterschiedliche soziale Schichtungen durchlebt habe, und davon wollte ich Zeugnis ablegen. Das Buch ist so strukturiert, dass vor jedem Lebensabschnitt so fünf oder sechsmal einige Sätze stehen in der Ichform, und das Buch ist so strukturiert, dass wenn jemand das Buch liest – wenn’s ihn interessiert – dass er weiß, was ich wann wo gemacht habe.

Sie sind 1929 geboren und im Wiener Arbeitermilieu der Zwischenkriegszeit aufgewachsen. Während der Nazi-Schreckensherrschaft wurden Sie als Jude verfolgt. Was auffällt, ist die Fülle der prägenden Begegnungen und Freundschaften Ihrer Jugendjahre, so lernten Sie etwa Alfred Hrdlicka und Ihren lebenslangen Freund und Mitstreiter Ernst Fuchs bereits während des Krieges kennen, den Sie im Untergrund überlebten. Aber Sie erzählen auch sogenannte „Täter-Biographien“. Welche entscheidenden Impulse erhielten Sie für Ihr Leben und Werk von Ihrem Elternhaus und durch das Erlebnis der Verfolgung?

Ja, die Kindertage oder Kinderjahre sind für jeden Menschen absolut prägend, das wissen wir. Und es ist ganz klar, dass dieses sehr beglückende Elternhaus, das ich hatte, mein Wesen und auch meinen Charakter – weitgehendst auch meinen Charakter – von vornherein festgelegt hat. Dieses starke Interesse an den Kollegen der Akademie, mit denen mich ja teilweise Lebensfreundschaften verbunden haben dann, natürlich das spielt eine große Rolle, weil das natürlich für Österreich besonders interessant ist. Also sagen wir eher für Österreich als für Deutschland oder die Schweiz, weil das sind Figuren, die hier bekannt sind und die auch eine wesentliche Rolle gespielt haben in der Kunstszene Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg, und ich in diesem Milieu einer von ihnen war und hier Zeugnis ablegen kann, wie sich die verschiedenen Leute verhalten und gestaltet haben, und natürlich hat das ganze den Charme der Studentenzeit

 

Ernst Fuchs, Arik Brauer, Friedensreich Hundertwasser ca.1973/Foto: Gert Chesi

Sie haben sich – entgegen dem Trend der Zeit – von Anfang an für die gegenständliche Malerei entschieden. Ernst Fuchs hat sie „einen der wenigen großen Künstler des 20. Jahrhunderts“ genannt. Im Prinzip kann jeder Laie die Qualität Ihrer Malerei erkennen. Belastet es Sie, dass die zeitgenössische Kunstkritik und das Kunst-Establishment Ihr Werk oft nicht angemessen gewürdigt haben?

Ich würde jetzt lügen, wenn ich sage, dass es mich nicht belastet. Es belastet mich sicherlich weniger als manche meiner Kollegen, weil ich ein glückliches Leben trotzdem führe, auch ein erfolgreiches Leben zweifellos geführt habe, und ich kann es verkraften. Ich meine, wenn ich Ausstellungen mache und die Leute stehen bis auf die Straße heraus, und ich sehe, dass es viele Menschen gibt, die sich für meine Kunst interessieren, fällt es mir leichter zu verkraften, wenn die Kunstpäpste – oder wie immer man sie nennen will – dies ablehnen. Aber zu sagen, dass mir das egal wäre, wäre nicht richtig, wäre eine Lüge. Selbstverständlich belastet mich das, und selbstverständlich sehe ich mich nicht in den Museen, in denen ich mich gern sehen würde, also meine Kunst sehen würde.

Der deutsche Baummaler Wilhelm Bobring behauptete einmal, Picasso habe zu ihm in einem privaten Gespräch kurz vor seinem Tod gesagt, er bedaure den künstlerischen Weg, den er eingeschlagen habe. Tatsächlich hat der Erfolg der abstrakten Malerei im 20. Jahrhundert zu einer Entwicklung geführt, die das eigentliche Material und die Aufgabe der bildenden Kunst scheinbar grundlegend verändert hat. Sie selbst haben von 1986 bis 1997 an der Akademie der bildenden Künste in Wien eine Meisterklasse ausgebildet. Wie sehen Sie aufgrund dieser Erfahrung die weitere Entwicklung der bildenden Kunst, und wird es die Malerei weiterhin geben?

Ja, ich bin natürlich – das schreibe ich hier, glaube ich, auch sehr deutlich in diesem Buch – selbstverständlich sehe ich in der Malerei einen Ausdruck des Homo sapiens schlechthin. Ich meine, ich vergleiche das mit dem Erlernen der Sprache, dem Potenzial eine Sprache zu erlernen – man wird ja nicht geboren in der Sprache – und ich bin auch überzeugt davon, dass diese Form durch andere Kunstformen nicht ersetzt werden kann, genauso wie ja das Theater auch nicht durch den Film ersetzt werden konnte, weil natürlich auch das Theaterspielen eine ganz grundlegende in uns eingravierte und in unserem Unterbewusstsein und Bewusstsein verankerte Möglichkeit. Was den Picasso betrifft: mir ist das neu, und ich hör das natürlich mit sehr hellem Interesse, und ich kann mir durchaus vorstellen, dass so ein genialer und weiser Mann, dieser Picasso, gegen Ende erkennen musste, wohin das führt, wohin das letztlich führen muss. Und das hat sich ja – inzwischen sind wir ja gescheiter, im Nachhinein ist es ja leicht, gescheiter zu sein – das sehen wir ja Schritt und Tritt, wozu das geführt hat. Ich meine, darüber jetzt zu urteilen, ob diese Entwicklung gut oder schlecht war, das hängt eben davon ab, wie man die bildende Kunst einschätzt, wie man sie einordnet im menschlichen Geistesleben. Wenn das halt nur so war, eine Zeit lang, und jetzt wird es durch günstigere oder bessere Methoden, mit technischen Hilfsmitteln eben, ersetzt, dann ist es ja nicht schade drum, dann ist es halt vorbei. Aber so sehe ich das natürlich nicht. Ich habe von Anfang an diesen Weg gewählt, wo ich ja von Anfang an gespürt habe und gewusst habe, dass mir da der Wind ins Gesicht bläst. Nicht aus Eigensinn oder Überzeugung, sondern gefühlsmäßig. Ich hätte mir eine abstrakte Malerei – ich hab das am Anfang durchaus als Revolution und diesen frischen Wind empfunden, das war ja auch, sehr antifaschistisch hat sich das ja gebärdet, im Unterschied zur Hitler-Kunst oder zur Stalin-Kunst war das etwas Westlich-Demokratisches. Mit diesem Image ist das ja auch sehr stark in die deutschen Lande hereingekommen. Und das habe ich auch durchaus auch so empfunden, aber mir hätte das nie Freude gemacht – ich habe in der Malerei für mich immer etwas gesehen, was einen erzählerischen Charakter hat.

Wär ja auch schade um Ihr Talent gewesen...

Das ist schade um viele Talente – ich habe viele große Talente zerbrechen sehen in meiner Zeit. Aber weil Sie mich auf die Akademie angesprochen haben: natürlich, es ist ganz klar, dass Schüler, die zu mir wollten oder von denen ich also auch geglaubt habe, dass ich ihnen weiterhelfen kann, das waren von vornherein natürlich immer, oder fast immer, junge Künstler, die eine figurative Malerei betrieben. Jemand, der abstrakt von Anfang an arbeiten wollte, der ging ja nicht zu mir. Und obwohl, ich hab schon ein zwei Leute bei mir gehabt, die nicht gegenständlich gearbeitet haben. Aber ich habe natürlich gesehen sehr in dieser Zeit, etwas was ich schon früher zu wissen glaubte, aber das ich wirklich sehr deutlich, in der Zeit, wo ich an der Akademie tätig war, gesehen habe: wie ein Mensch, der eben dieses klassische Zeichen- und Maltalent mitbringt von Kindheit auf, wie der eigentlich hilflos und nicht weiß, was er hier macht. Wie der völlig eigentlich verzweifelt vor dieser Akademie dann steht, oder nicht nur vor der Akademie, sondern überhaupt vor dem gesamten Kunstgeschehen.

Das Naturerlebnis – ob beim Bergsteigen, Wandern oder Tauchen – ist eine Hauptquelle Ihrer künstlerischen Inspiration. In den 1950er Jahren haben Sie nach ausgedehnten Reisen durch Europa und Nordafrika mehrere Jahre in Israel gelebt. Inwiefern haben die Begegnungen mit der dortigen Natur und den Menschen Ihrer Malerei eine entscheidende Wendung gegeben, wie es etwa in einem Ihrer ersten „israelischen“ Bilder „Tanzende Braut“ deutlich wird?

Ja, ich bin nach Israel gekommen, ich bin ja eher ein Spätentwickler. Ich habe mich als Mensch und als Künstler nicht so rasch entwickelt wie zum Beispiel etwa der Ernst Fuchs. Und ich war damals, als ich nach Israel kam, 23, 24 Jahre alt, das erste Mal, und das war genau die Zeit, in der ich eigentlich zu mir selbst wurde. Natürlich hat das Land und die Landschaft mich – ich habe wie jeder Jude Israel natürlich eine große Emotion und ein großes romantisch gefärbtes Gefühl entgegengebracht. Selbstverständlich hat diese Landschaft mich sehr beeindruckt, wie sie jeden Europäer beeindrucken muss, jeden offenen Menschen aus Europa beeindrucken muss, weil es eine Landschaft, die Wüste, ist, die es in Mitteleuropa eigentlich nicht gibt, die natürlich einen ganz besonderen, eigenen Reiz ausstrahlt, das wurde oft gesagt und oft beschrieben. Das hat mich auch sehr beeinflusst und hat bestimmt auch eine Rolle für meine Malerei gespielt. Auf jeden Fall war das damals von meiner menschlichen Entwicklung, vom Reifungsprozess her, fiel das in die Zeit, wo ich nach Israel kam. Natürlich hat das Kennenlernen meiner zukünftigen Frau, war natürlich ein für mich persönlich sehr starkes Erlebnis und Ereignis, und ich könnt jetzt nicht sagen, wieweit es mich in der Malerei direkt... Es ist halt so: alles was den Menschen erschüttert oder beeinflusst oder bewegt, wirkt sich natürlich irgendwann und irgendwie auf seine künstlerische Tätigkeit aus.

Arik Brauer 2014/Foto: Franz Johann Morgenbesser
 

Wie würden Sie Ihre Beziehung zum Judentum charakterisieren?

Na ja, im hohen Maß hat mich ja natürlich schon das Nazi-Regime zum Juden gemacht. Also, ich meine ich habe als Kind ja auch einmal die Woche die Religionsstunde besucht, ich bin gegen Ende ja auch schon, weil ich einen sehr guten Sopran gehabt habe, hat man mich natürlich schon versucht zum Singen zu bringen. Und das hat mich natürlich auch interessiert und eigentlich auch fasziniert, aber ich war nie religiös. Ich war nie religiös in einem Sinn, dass ich einen, ich hab nie einen Sinn, also auch nicht gefühlsmäßig, wie es bei Kindern üblich ist, eine Beziehung dazu angeknüpft, dass da irgendwelche Rituale eingehalten werden. Mich hat das Ritual bis heute als solches, als Folklore, als Weg, als Tätigkeit und natürlich auch als Kulturquelle, das ist das Chasanut und die daraus folgenden Kletschmerl und dass es den ganzen Zweig der Musik nicht gäbe ohne den religiösen Hintergrund. Und die Sprache gäbe es nicht, und das ist mir schon alles klar, was für eine Bedeutung das für das Judentum hatte. Aber natürlich, wenn ich mich heute – wir halten einen schönen Freitagabend mit den Kindern, auf einer lockeren Weise, wo auch gesegnet wird und so, aber eigentlich aus folkloristischen Gründen und weil das heute natürlich durch sein Alter eine ungeheure Patina hat, nicht vergleichbar mit irgendwelchen neu erfundenen Zeremonien einer Sekte. Das kann man überhaupt nicht vergleichen, das hat einen ganz anderen Körper, eine ganz andere Substanz, das ist schon klar. Aber ich bin auch nicht gottgläubig in dem Sinn, dass man sich unter Gott irgendwas vorstellen kann, einen Mann oder eine Frau, oder irgendwas. Also das trau ich mir nicht zu – ich trau’s auch niemand anders zu natürlich. Ich gehe davon aus, dass jede Ursprungsvorstellung nur falsch sein kann, weil wir nicht die Instrumente und den Verstand haben, irgendwas davon begreifen zu können.

Ich möchte noch einmal auf die Malerei zurückkommen. Friedensreich Hundertwasser sagte einmal über Sie: „Brauer malt uns das Reich, ohne das wir nicht leben können – wenn wir es nicht vor Augen haben, gehen wir in die Irre.“  Warum malt der Mensch, und warum betrachtet der Mensch Bilder?

Na ja, der Mensch entdeckt so im Alter von ein, zwei Jahren, dass wenn er herumkritzelt auf einem weißen Blatt, Bleistift und ein weißes Papier ist eine unwiderstehliche Versuchung für jedes Kind. In einem bestimmten Alter kommt er drauf, dass er nicht nur, indem er hin- und herkritzelt, nur Spuren seiner Bewegung entdeckt, sondern dass er imstande ist, etwas zu zeichnen, was ein Kürzel von einer Darstellung ist. Eben das berühmte „Punkti, Punkti, Strichi, Strichi – ist das nicht ein Mondgesichti?“ Und das ist natürlich eben wirklich ein Ereignis, das ich nur vergleichen kann mit dem Ereignis, dass Laute plötzlich einen abstrakten Sinn kriegen, nämlich eine Sprache kriegen. Und darin sehe ich die bildende Kunst, es ist etwas, das für den Menschen absolut notwendig ist. Es ist so – es überdeckt vieles, es hat einen so breiten Fächer: das ist ja die Versuchung, dass man hergeht und sagt, die Ausweitung des Kunstbergriffes, es hat einen enorm breiten Fächer: die Kunst kann propagandistisch sein, sie kann erzählerisch und belehrend sein, sie kann verstören – auch das kann sie, aber wenn sie nur verstört, ist sie auch wieder nichts... Sie kann natürlich auch schmeicheln und streicheln und den Menschen einlullen und glücklich machen – das muss sie auch können. Die Kunst deckt sehr viel ab. Wieso kann der Mensch Freude haben beim Betrachten von Bildern? Offensichtlich hat er sie, sonst gäbe es nicht diese Museen und diese Massen von Menschen, die von einem Eck der Welt ins andere fahren, um diese Museen zu sehen. Wieso ist das so? Nun ja, er sieht auf einer zweidimensionalen Fläche – ich spreche jetzt von der figurativen Malerei der Vergangenheit natürlich, das ist ja vor allem das, was die Menschen so fasziniert und anzieht – er illusioniert dreidimensionale Dinge, und es wird eine Phantasiewelt aufgebaut, zu der er mehr oder weniger Zugang haben kann. Er sieht auch – es ist ein Übertragen des Malers auf den Beschauer auf eine geheimnisvolle Weise: er kennt den Maler nicht persönlich in den meisten Fällen, und trotzdem hat er mit ihm eine Zwiesprache. 

Die sogenannte „Holocaust-Aktion“ von Santiago Sierra in Pulheim war eine der umstrittensten Kunstaktionen in Deutschland der letzten Jahre. Trotz berechtigter prinzipieller Zweifel fühlt sich der Künstler aufgrund der scharfen Verurteilung von vielen Seiten unverstanden. Auf der anderen Seite löste auch die Holocaust-Gedenkstätte in Berlin im Vorfeld heftige Kontroversen aus. Wie kann Gedenken Ihrer Meinung nach künstlerisch am angemessensten ausgefüllt werden?

Naja, ich unterscheide natürlich zwischen Aktionen, die einen theaterartigen Charakter haben und in dieser Form auch ihre Qualität haben können und bildender Kunst. Also diese totale Vermischung, davon halte ich natürlich nichts. Diese Aktion – für einen Juden natürlich ist das schwer zu verdauen, das ist ja ganz klar. Ich habe meinen Vater in solch ein Gaskammer verloren, und es wäre mir lieber, so etwas wird gemacht wenn ich nimmer mehr lebe. Ob das jetzt produktiv oder kontraproduktiv im Sinne der Erinnerung ist – das ist eine schwierige Frage, die ich mir eigentlich nicht zu beantworten traue. Von meiner Perspektive aus, soweit ich in Österreich mein Ohr am Herzen, am Puls der Österreicher habe – und das habe ich – ist ein Überangebot von diesen Themen bereits vorhanden, meiner Meinung nach. Die Leute haben genug davon, und man weiß es – das ist bekannt, es sind Einzelfiguren, die da krampfhaft versuchen, den Holocaust zu verzerren oder abzustreiten – die Menschheit weiß, es ist passiert und muss damit leben. Und natürlich dürfen sie es nicht vergessen, aber künstlerisch das darzustellen, ist wirklich ein Problem. Ich habe mich natürlich oft gefragt, was wäre – was ja nie hätte der Fall sein können – aber was wäre gewesen, wenn an mich die Gemeinde Wien herangetreten wäre und gesagt hätte, mach ein Holocaust-Denkmal. Ich hätte auch nicht gewusst, wie ich es machen sollen. Aber auf keinen Fall hätte ich das gemacht, was in Wien jetzt passiert ist: so eine verschlüsselte modernistische Kiste, angeblich sollen es Bücher sein, und im zweiten wird einem dann erklärt, warum die Juden das Volk der Bücher sind, und im dritten wird einem erklärt, was das mit dem Holocaust zu tun hat. Das ist zu intellektuell, zu kompliziert, als dass es den Passanten erreichen kann. Das ist sehr schwer – ich habe das in Berlin nicht gesehen, ich werde auf jeden Fall im Herbst nach Berlin kommen und es sehen, aber ich kann darauf keine Antwort geben. Natürlich auf keinen Fall halte ich diese verschlüsselten modernen Möglichkeiten, dass man dann irgendeine Idee hat – man spricht ja von einer Konzept-Kunst – dass man dann eine Idee hat, die dann besser oder schlechter ist und die soll das jetzt tragen und zwar Jahrhunderte lang, weil das bleibt ja stehen, das halte ich für problematisch. Ich meine, man soll sich einmal vorstellen, was in hundert Jahren, wenn drei oder vier Generationen gelebt haben, was die mit solchen Grabstein-Massen anfangen, ich meine: ob sie das bewegt, ich kann das nicht beurteilen, ich habe meine Zweifel.

 

Arik Brauer 2009/Foto: Manfred Werner

Ihr politisches Engagement ging von jeher über die Aussage Ihrer Werke (wie das Mappenwerk „Menschenrechte“) hinaus. Sie haben sich bewusst immer wieder in die sogenannte „Tagespolitik“ eingemischt, vor allem in Bezug auf einen nachhaltigen Umgang mit der Erde und ihren natürlichen Ressourcen. Aber auch Krieg ist ein vorherrschendes Thema Ihrer Malerei, so haben Sie geradezu atemberaubend schöne Bilder von atomaren Explosionen gemalt. Wie erklären Sie sich die Faszination, die vom Bösen auszugehen vermag?

Nun ja, wenn wir schon über Judentum auch sprechen, in der Bibel steht ja schon, dass der Teufel der schönste aller, dass Satan der schönste aller Engel war. Das ist ja ein enorm kluger, einer der vielen enorm klugen und richtungsgebenden Aussprüche in der Bibel, weil im Schönen liegt natürlich eine unerhörte Gefahr, weil es verführt. Und ich meine, so eine Atomexplosion – man sieht das manchmal in Filmen oder auch auf Fotos – so ein Atomkegel, so eine Explosion, das ist von atemberaubender Schönheit, das ist ja überhaupt keine Frage. Und gerade darin liegt ja das absolute Entsetzen. Also diese Form von Schrecken, wie man sie in Kindermärchen findet, ein finsterer Keller mit Mauerasseln und Ratten, wird davon ja bei weitem übertroffen, diese Stufe von strahlend blauem Himmel mit wunderbarem Atompilz ist ja in Wirklichkeit viel, viel gefährlicher. So sehe ich das. Und natürlich, das kommt ja auch in meinen Bemühungen mit meinen Chansons, die ich geschrieben habe, immer wieder, diese Form der Darstellung zum Ausdruck, dass ich die Sachen schon verpacke, verpacken will, weil ich weiß, dass der Mensch – wenn man ihm, wie man auf Österreichisch sagt, mit’m Stöwag’n ins G’sicht fahrt, wenn man ihm so voll hineinhaut den Schreck – dass er, so wie man eine kalte Dusche kriegt, zieht sich der Körper zusammen. Der Mensch zieht sich oft, nicht immer, aber sehr oft, zieht er sich zusammen und stößt es ab und verdrängt es. Wenn es aber kommt auf eine Weise, die er irgendwie verdauen kann, und die er akzeptieren kann, die natürlich auch offenlässt eine Toleranz letztlich auch für die Täter, also ein Verständnis, sagen wir so, ein „Wieso kam’s dazu“, dann ist er eher bereit, es zu akzeptieren, und das halte ich dann für wirkungsvoller. Und das ist ja sicher auch einer der Gründe, warum ich mich so intensiv beschäftigt habe mit Täterprofilen in diesem Buch. Es sind ja Leute, die ich recherchiert habe, das habe ich ja nicht erfunden, ich habe ja recherchiert. Ich habe den Menschen, den ich damals z’sammg’haut hab in der Lobau, ja noch gesehen und mit ihm gesprochen, ich weiß ja, was der erlebt hat. Warum? Weil ich natürlich wie viele Juden danach lechze zu begreifen, warum haben die uns das angetan.

In Ihren Erinnerungen beschreiben Sie Ihre kurzwährende Begeisterung für den Kommunismus nach der Befreiung durch die russische Armee 1945 und Ihre Abkehr davon und von jeder anderen Ideologie. Warum fällt der Mensch immer wieder auf die Kopfgeburten selbsternannter Weltverbesserer herein?

Die grundlegende Bereitschaft vor allem bei jungen Menschen ist natürlich, dass ein junger Mensch, wenn er in das Alter kommt, wo er sieht, dass nicht alles so ist, wie es sein sollte oder sein müsste, natürlich auch sofort von der Sehnsucht gepackt wird, etwas zu finden, das diese Sache verbessern kann. Diese Bereitschaft ist bei sehr vielen jungen Menschen, vielleicht sogar bei allen prinzipiell vorhanden. Und jetzt kommt es darauf an natürlich, welchen Background er hat. Was den Kommunismus betrifft – dadurch dass ich aus so einem austro-marxistischen Familienmilieu herausgekommen bin, habe ich ja von der Grundlage schon einmal eine große Bereitschaft dazu gehabt, und es ging nur noch darum festzustellen, warum das den Sozialisten nicht gelungen ist. Wenn man jung ist, neigt man natürlich zu raschen und exzessiven und intensiven Lösungen, das muss ja alles passieren jetzt, während ich auf der Welt bin, das ist ja ganz normal. Und da tappt man hinein. Und ich bin sicher, dass sehr, sehr viel, wahrscheinlich die Mehrheit der Jungen, die in die Nazi-Ideologie hineingekommen sind, nicht anders gegangen ist. Der Antisemitismus hat schon eine enorme Rolle gespielt, aber das war natürlich nicht im absoluten Zentrum der Idee. Das Zentrum der Idee war schon „Am deutschen Wesen wird die Welt genesen“. Wir werden alles in Ordnung bringen, wir werden alles machen, und alles ist leiwaund.

Zum Schluss möchte ich Ihnen noch eine ganz andere Frage stellen: Es heißt, Sie verzehren jeden Morgen mit großem Appetit ein traditionelles jemenitisches Frühstück nach dem Rezept der Vorfahren Ihrer Frau Naomi. Verraten Sie uns dieses Rezept?

(Lacht) Ja, Olivenöl auf Cottage-Käse und darauf Oregano, und es ist sehr bekömmlich für mich. Ich habe Olivenbäume in Israel, die alle zwei Jahre geerntet werden, früher von mir, und jetzt von irgendwem, und das Öl genügt dann für die ganze Großfamilie für zwei Jahre, und weil ich natürlich auch eine Amortisationsneurose habe, fress ich seitdem natürlich ununterbrochen Olivenöl, keine Butter mehr...

Samstag, 18. November 2017

Mit Hans Raimund zu Virgilio Giotti und den Quellen der Begeisterung


Zu den erfreulichsten Ereignissen während meiner zehnjährigen Rezensionstätigkeit für die Jüdische Zeitung, die Jüdische Rundschau sowie zuletzt im Rahmen meines Blogs gehörten jene seltenen, überraschenden Gelegenheiten, wenn mir bis dahin völlig fremde Menschen unverhofft Kontakt mit mir aufnahmen, um sich ganz uneigennützig dafür zu bedanken, dass ich das von ihnen verfasste, übersetzte, verlegte oder betreute Werk ihrer Meinung nach besonders treffend charakterisiert, beschrieben bzw. entsprechend gewürdigt hatte. 

Da ich bis auf wenige Ausnahmen, in denen mir von Redaktionsseite her aus den unterschiedlichsten Gründen bestimmte Bücher vorgegeben wurden, immer nur jene Werke besprochen habe, die ich für besonders lesenswert hielt, kam zu der grundsätzlichen Ur-Freude, die ich ohnehin beim Lesen, Analysieren und Besprechen empfunden habe, eine mir bis dahin unbekannte, noch umfassendere Freude, die man etwas unbeholfen, aber durchaus zutreffend „Freude auf der ganzen Linie“ nennen könnte – oder wie es die große Fotokünstlerin Annie Leibovitz einmal ausdrückte: „I like to like people“. Hier aber eher: die Freude zweier Menschen über ein bestimmtes Werk, über dessen Kern sie einander begegnen können.

Zu den nachhaltigsten und erfreulichsten Kontakten dieser Art zählt ohne Zweifel der regelmäßige Austausch mit Professor Hans Raimund aus Wien/Hochstraß. Im Jahr 2013 begegnete mir in der Vorschau des Klagenfurter Drava-Verlags ein unscheinbares Buch eines mir bis dahin vollkommen unbekannten Autors namens Virgilio Giotti (1885-1957): „Pice note, mie note/Kleine Töne,meine Töne“ so der zweisprachige Titel in Triestiner Italienisch und deutscher Übersetzung. Ton und Themenkreis des in der Vorschau abgedruckten Gedichtbeispiels trafen mich gewissermaßen „direkt ins Herz“ und die Lektüre des umgehend angeforderten Presseexemplars bestätigten meinen Eindruck auf kaum für möglich gehaltene, umfassende und wunderbare Art und Weise. 




Kurze Zeit nach meiner begeisterten Rezension, in der ich festgestellt hatte, dass es hier einen zu Unrecht übersehenen und vergessenen Autor von unvergänglicher Universalität wiederzuentdecken gilt, meldete sich der kongeniale Übersetzer, Professor Hans Raimund, bei mir, um mir für die wohlwollende Besprechung zu danken und mir die komplizierte und von zahlreichen Frustrationen gekennzeichnete Editionsgeschichte des mir lieb gewonnenen kleinen Bandes zu erzählen, die ohne seinen jahrzehntelangen persönlichen Einsatz (auch seinen finanziellen), vor allem aber ohne seine genuine, nachhaltige Begeisterung für Virgilio Giotti und dessen unverkennbare eigenständige Poetologie niemals möglich gewesen wäre.  

Diese spannend-komplizierte, mir ja in Grundzügen bereits bekannte Editionsgeschichte erzählte Professor Hans Raimund im vergangenen Spätsommer erneut in einem Gedenkvortrag anlässlich des 60. Todestags Virgilio Giottis im Circolo della Stampa von Triest. Ich bin dem Übersetzer, Autor und Menschen Hans Raimund, der ja selbst auch ein virtuoser Lyriker ist, ausgesprochen dankbar, dass ich seinen Vortrag in italienischer und deutscher Sprache an dieser Stelle wiedergeben darf, weil er meiner Meinung nach sehr exemplarisch deutlich macht, mit welchen Freuden und Frustrationen es der Literaturschaffende innerhalb seines kreativen Prozesses zu tun hat, insbesondere aber auch im Verlauf des steinigen Wegs zur Veröffentlichung. In dieser Hinsicht lassen sich die Verdienste Professor Hans Raimunds für das Werk Virgilio Giottis kaum hoch genug bewerten! 

Hans Raimund: Traducendo e pubblicando Virgilio Giotti


Im Jahr 2013 erschien im Verlag Drava das Buch KLEINE TÖNE, MEINE TÖNE//PICE NOTE, MIE NOTE von Virgilio Giotti: ausgewählte Gedichte (zweisprachig) und das Tagebuch „Unnötige Notizen“. Die Übersetzung „aus dem Triestiner Italienisch ins Deutsche“ war von mir, wie auch das Vorwort.
   
Die Geschichte dieser Veröffentlichung ist sehr lang: zum einen ist sie die schöne Geschichte einer sich jahrzehntelang durch nichts beirren lassenden Zuneigung des Übersetzers zu den Gedichten und der Person des Triestiner Autors Giotti, zum andern aber auch die nicht so schöne Geschichte eines Projekts der Veröffentlichung von Lyrik in Übersetzung im Literaturbetrieb von heute.

Virgilio Giotti

 

Die schöne Geschichte


1984 übersiedelte ich mit meiner Familie nach Duino, wo Franziska, meine Frau, eine Stelle als Lehrerin für Deutsch und Französisch am United World College of the Adriatic angenommen hatte. Das ermöglichte mir die Verwirklichung eines lang gehegten Traums: den der Existenz eines „freien“ Autors und Übersetzers – noch dazu in Triest, in Italien! Ich hatte bis dahin ein paar dünne Prosa- und Gedichtbände veröffentlicht, hatte einiges aus dem Englischen und Französischen übersetzt und, mit einiger Kühnheit, sogar aus dem Italienischen, u.a.Texte von Sandro Penna und Primo Levi, ganz ohne Kenntnisse der italienischen Sprache, aber im - trügerischen - Vertrauen auf meine Schul-Kenntnisse des Lateinischen und Französischen – vor allem aber im Vertrauen auf die exzellenten Italienischkenntnisse meiner Frau…

In Duino hatte ich erstmals Gelegenheit, mich ganz dem Schreiben zu widmen: d.h. dem Verfassen eigener Texte und dem Übersetzen der Texte anderer Autoren. Damals begann ich auch – ich war schon 40 Jahre alt! –Italienisch zu lernen. Mein Lehrer war Augusto Debove, der am UWC Italienisch unterrichtete. Er lernte im Austausch bei mir Deutsch, und er war es dann auch, der später die meisten Übersetzungen meiner Texte ins Italienische anfertigte.

Im UWC in Duino traf ich auch mit dem Holländer Jan Louter zusammen, der am College Holländisch unterrichtete und als Lektor an der Universität in Triest arbeitete. Er hatte Texte Giottis ins Holländische übersetzt. Er machte mich mit dem Werk Virgilio Giottis bekannt und empfahl mir, unbedingt Gedichte dieses damals mir völlig unbekannten Dichters ins Deutsche zu übersetzen. Als er nach Holland zurückkehrte, schenkte er mir das von ihm gesammelte Material zu Giotti, vor allem Zeitungsausschnitte, und ein von ihm selbst liebevoll collagiertes Büchlein aus Fotokopien von Gedichten Giottis, das die erste Grundlage meiner Beschäftigung mit Giotti war und das ich, es in Ehren haltend, bis heute besitze…


Duino/Foto: Tiesse/Wikimedia


In Anbetracht meiner damaligen Italienischkennnisse, vor allem aber auch in Anbetracht des eigenwilligen Idioms, dessen sich Giotti für seine Poesie bedient, war ich anfangs darauf angewiesen, dass ein „native speaker“ für mich die in Giottis sehr persönlichem „triestino“ geschriebenen Texte in ein Normal-Italienisch übersetzt. Viviana Pace, aus Triest gebürtig und auch eine Italienischlehrerin am UWC, transkribierte für mich ausgewählte Texte Giottis.

Meine ersten Lektüre-Kontakte mit den Gedichten Giottis waren von nichts als von vagen Ahnungen bestimmt: so wie ein Blinder ein Gegenüber, das er nicht sehen kann – ein Gesicht, einen Gegenstand etc -  mit den Fingern abtastet, um ein inneres Bild, eine Vorstellung davon zu gewinnen, so tastete ich die Texte Giottis ab, mühsam buchstabierend, laut lesend, immer wieder ratlos und meistens verzweifelt. Zugute kam mir bei dieser somnambulen Beschäftigung mit den Texten eine mehrere Jahrzehnte, zu Zeiten manisch ausgeübte Leseaktivität und - routine, die es mir ermöglichte, die Qualität eines Texts schon bei einem ersten Kontakt zu erahnen, zu erraten, zu spüren, instinktiv, aber doch präzise einzuschätzen – eine Fähigkeit, die ich auch in einer jahrzehntelangen Tätigkeit als Rezensent für österreichische Zeitungen und Zeitschriften üben hatte können.

Mir gefielen die Gedichte Giottis von Anfang an, auch ohne dass ich die Texte lexikalisch oder gar viel von ihrer Aussage verstand. Sie waren mir aber trotz ihrer Unzugänglichkeit, ihrer Unverständlichkeit überraschend nah, vertraut, sympathisch: ich empfand spontan Sympathie für das ICH, das ich hinter den Texten vermutete, und ich baute derart nach und nach eine Beziehung zu diesem erahnten ICH auf, die sich zu einer Art von Liebesbeziehung auswuchs: ja, ich war dem Autor und seinen Gedichten in Liebe zugetan.


Hans Raimund

 
Das entbehrte jedoch nicht einer gewissen Fatalität. Denn eigensinnig von Natur aus, befasste ich mich mehrere Jahrzehnte lesend und übersetzend mit den Texten, nicht ununterbrochen, doch immer wieder - aber stets wie unter Zwang. Bemerkenswert ist, dass mir allein die Texte genügten. Ich vermied instinktiv eine mögliche Klärung der zahllosen sprachlichen und inhaltlichen Verständnisprobleme durch Befragung der Sekundärliteratur oder durch biografisches Material, das es zu und über Giotti auch schon in den 80er-Jahren gab.

Mich derart intensiv mit den Texten befassend, gelang mir, glaube ich, das rare Erlebnis des Einsseins, ja der Identität des Lesenden mit dem gelesenen Text. Ich benötigte, ja ich WOLLTE keine biografischen Informationen, keine detaillierten Textinterpretationen, keine Geschichte der Literatur von Triest etc., also keines der gängigen Hilfsmittel, die einem angeblich das Erfassen eines Textes ermöglichen oder erleichtern.

Ich beschränkte mich bewusst auf das bloße Lesen der Texte – in der in der EDIZIONI LINT TRIESTE 1986 erschienenen Ausgabe der OPERE/Colore – Altre Poesie –Prose -; unabdingbar für das Verstehen war aber schon die kontinuierliche Verwendung von Gianni Piguentinis NUOVO DIZIONARIO DEL DIALETTO TRIESTINO, mit dessen Hilfe ich die mir nicht in ein Normal-Italienisch transkribiert vorliegenden Gedichte Wort für Wort ins Deutsche übersetzte.

(Ich bekenne hier: trotz der langjährigen Beschäftigung mit Giottis Gedichten kann ich heute TRIESTINO weder sprechen noch wirklich verstehen, wenn ich es gesprochen höre. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich den Klang von TRIESTINO, das ja zumindest die Grundlage für Giottis eigentümliches Poesie-Idiom ist, als angenehm wohlklingend oder gar sympathisch empfinde…)


Triest/Foto: Zinn/Wikimedia


Was war aber dann, nach Überwindung der anfänglichen  Sprach-  und Verständnisprobleme, ausschlaggebend für meine zu konstatierende „amour fou“ für Giotti und seine Verse? Ich bin kein professioneller Übersetzer. Ich bin ein Autor, vor allem Lyriker, der AUCH übersetzt. Ich habe bisher selten „auf Auftrag“ übersetzt. Zumeist wählte ich Autoren zum Übersetzen aus, deren Texte mich beim Lesen faszinierten, vor allem weil sie so anders schrieben als ich, aber nur um dann beim Übersetzen nach und nach und zu meiner Überraschung Gemeinsamkeiten zwischen ihren und meinen Vorstellungen, vom dem, was Literatur ist oder sein soll, herauszufinden.So erging es mir auch mit Giotti. Ich finde meine Vorstellungen von dem, was für mich ein „gutes“ Gedicht ist, in vielen seiner Texte exemplarisch verwirklicht.

In einem Nachwort zu einer bibliophilen Veröffentlichung einiger meiner Texte im Jahr 2011schreibe ich unter dem Titel: IN DIFESA DEL TUONO UMILE: Io non sono capace di leggere (tanto meno di scrivere!) poesie che abbiano come oggetto preminente la vita spirituale degli uomini, la religione, l’esoterismo, in breve tutto ciò che trascende la fisicità materiale. (…) L’equipaggiamento del mondo poetico che io preferisco é il semplicemente fisico, l’ordinario quotidiano – agli occhi di alcuni, banali – nel quale per me c’é cosí tanto di vulnerabile, e c’é abbastanza di meraviglioso. Semplicitá, misura, ripiegamento dell’ individuale ecc. sono proprietá del testo alle quali, credo, vale la pena di tendere – Ecco: eine Poetik „en miniature“, MEINE Poetik, in der aber, ohne dass es mir bewusst war, anscheinend die jahrelange Beschäftigung mit der Lyrik Giottis programmatisch zum Tragen kommt, indem Merkmale seiner Poesie, ohne dass ich es gemerkt hatte, auch nun die meiner Poesie sind…
  
Ein Text – und es ist nur einer von vielen - , in dem Giottis Poetik für mich beispielhaft deutlich wird, ist das große, ambitionierte Gedicht DIE ALTEN, DIE DEN TOD ERWARTEN: das poetische Material ist ausschließlich die Wirklichkeit, der banale Alltag von alten Männern in einer Stadt am Meer und in einem nahen Hinterland: der poetische Diskurs ist von großer Gelassenheit, bleibt zur Gänze im physischen Bereich des Alltags-Lebens, kommt ganz ohne Metaphern, ohne jeden Verweis auf Metaphysisches oder Religiöses aus und versteigt sich in keiner Zeile zum „hohen Ton“; ein diskret im Hintergrund bleibendes lyrisches Ich enthält sich konsequent jeder Weisheitsgebärde, jedes Verweises auf die Erkenntnis eventueller schicksalhafter Zusammenhänge, jeglichen autoritären Moralisierens – ein Diskurs, der überraschend jäh und offen endet – ergebnislos und sich jeglicher summierend tröstenden Abrundung enthaltend -  derart im Leser – zumindest in mir – trotz  des tristen Ernstes des Sujets eine fröhliche Traurigkeit - oder traurige Fröhlichkeit - hervorrufend, die in eine lakonische Melancholie mündet….   


Virgilio Giotti


Die nicht so schöne Geschichte


Um 2006 bereitete ich – nach über 20 Jahren Arbeit an der Übersetzung - eine für den etwaigen Druck fertige Computer-Datei vor, bestehend aus den Gedichten im Original, aus meinen Übersetzungen ins Deutsche und der deutschen Übersetzung des Tagebuchs  APPUNTI INUTILI. Und 2006 begann die  Suche nach einem Verlag dafür – die erst  2012 ein Ende fand.

Kein Verlag, weder in Österreich noch in Deutschland, erklärte sich bereit, die Gedichte eines im deutschsprachigen Raum völlig unbekannten, schon toten Dichters aus dem Ausland in der Version eines unbekannten Übersetzers in sein Programm aufzunehmen, d.h. die Übersetzung zu honorieren, die Rechte für den Abdruck der Originale und die Übersetzungsrechte zu erwerben, die Kosten für die Produktion und die Öffentlichkeitsarbeit zu tragen etc. Nur der WIESER Verlag hatte sich sofort, allerdings chronisch vage wie immer, interessiert gezeigt und kündigte auch prompt von 2006 bis 2013 das Buch zwei Mal im Jahr in seinen Katalogen an.

2012 war ich mit meiner Geduld am Ende. Ich bot das druckfertige Material dem Drava Verlag an, von vornherein bereit, die Produktion des Buches selbst zu bezahlen. Ich WOLLTE – um jeden Preis! -, dass der Dichter Virgilio Giotti im deutschsprachigen Raum als ein bedeutender Autor zur Kenntnis genommen wird. Der Preis, den ich dafür bezahlte, war der Verzicht auf jegliches Honorar, auf jegliche Beteiligung am Ertrag der verkauften Exemplare und etwaiger Nebenrechte, und der Ankauf von 70 Exemplaren des gedruckten Werks zum Bruttoladenpreis von Euro 19,80.

Ich selbst habe seit Erscheinen des Buches zusätzlich ca. 100 Exemplare zum Autorenpreis angekauft und sie an Freunde, an für Lyrik Interessierte, vor allem aber auch an etwaige Multiplikatoren wie Zeitungen, Literaturzeitschriften, Bibliotheken, literarische Institutionen im In- und Ausland geschickt…, d.h. ich finanzierte nicht nur die Produktion, sondern auch die Öffentlichkeitsarbeit für das Buch.


Rilke-Pad, Duino/Foto: Tiesse/Wikimedia


Die Rezeption von "Kleine Töne, meine Töne"


Auch das ist wieder eine zum Teil schöne, zum Teil weniger schöne Geschichte. Ich hatte seit 1991 regelmäßig Übersetzungen von Gedichten Giottis und einen Aufsatz über ihn mehr als 20 Mal in deutschsprachigen Tageszeitungen, Literaturzeitschriften und Anthologien publiziert, vor allem in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG, in DiePRESSE etc. Als das Buch KLEINE TÖNE, MEINE TÖNE 2013 endlich erschien, wurde es zu meiner Überraschung im deutschsprachigen Raum und in Italien von der Kritik und von einem an Lyrik interessierten Publikum doch positiv zur Kenntnis genommen.

Rezensionen des Buchs gab es u.a. in der Wiener Stadtzeitung AUGUSTIN, in der WIENER ZEITUNG, in der italienischen Zeitschrift POESIA, in Literatur-BLOGS im Internet, wie z.B. in PSYCHOSEMITISCHER BÜCHERBLOG, FRAU IM FRIAUL, im ONLINE MAGAZIN CULTMAG… Am 14. 7. 2013 wurde das Buch beim MITTELFEST in Cividale präsentiert. Am 14.9. 2013 wurden im Rahmen der Sendung NACHTBILDER- POESIE UND MUSIK in Radio Österreich1 Texte aus dem Buch gelesen. Am 4. 11. 2013 stellte ich das Buch in Wien in der ALTEN SCHMIEDE vor, im Rahmen einer „Stunde der literarischen Erleuchtung“, bei der Mara Quarantotto, die Urenkelin Giottis, die Texte im Original las…
  
Einige Gedichte in meiner Übersetzung fanden vor kurzem Verwendung in Maria Valentina Kravanjas umfangreicher Dissertation über „DIE MALEREI DER ZWISCHENKRIEGSZEIT IN TRIEST“, die 2016 im Verlag Leykam in Graz erschien. Angeregt durch Frau Kravanja, die, von der Familie her, eng verbunden mit Triest ist, schickte ich vor kurzem Exemplare des Buchs an eine stattliche Anzahl von Triestiner Institutionen und Kulturschaffenden. Ich erhielt bisher von NIEMANDEM eine Antwort. Das überrascht mich nicht, hatte ich doch schon bald nach Erscheinen des Buchs 2013 viele Exemplare an diverse, mir wichtig erscheinende Adressen in Triest geschickt – und wurde, mit Ausnahme von Prof. Claudio Magris, der das Buch und die Übersetzung lobte - wird er doch auf dem hinteren Umschlag zitiert - nicht einer (1) Antwort oder Reaktion gewürdigt. 

 
Antiquariat/Foto: Warburg/Wikipedia

 
In der Zeitung IL PICCOLO gab es dann doch einmal 2 knappe Besprechungen, in denen von einer Wiederentdeckung Giottis die Rede war im Zusammenhang mit den Übersetzungen ins Spanische und ins Deutsche. Eine liebevolle, detailliertere Besprechung erschien in der Zeitschrift PONTE ROSSO im April 2015 von Liliana Bamboschek, unter dem Titel „Leggere Giotti con gli altri occhi“…

Eine formelle Kenntnisnahme durch Triest, eine Präsentation oder eine Art von minimaler „promotion“ des Buchs durch die hiesigen Institutionen oder die „Literaturgewaltigen“ erfolgte bis  heute nicht. Das Buch ist bisher in keiner Buchhandlung in Triest lagernd oder gar ausgestellt gewesen, obwohl ich selbst Exemplare ausgeschickt habe, u.a. an die Buchhandlung MINERVA, an die Buchhandlung im Café SAN MARCO, an die Buchhandlung UMBERTO SABA etc…

Die eindruckvollste Manifestation des arroganten Desinteresses der Triestiner war aber mein Vorsprechen in dem schön altmodischen Antiquariat in der Altstadt von Triest, vor dessen Auslage mit Publikationen zu Triest ich seit jeher immer wieder fasziniert gestanden war. Meine Absicht war, dass es das Buch, meine(!) Übersetzung Giottis, in diesem Geschäft zu sehen, zu kaufen gab, „auf Lager war“.

Also suchte ich eines Tages das Geschäft auf, händigte „KLEINE TÖNE, MEINE TÖNE“, das Buch eifrig und aufgeregt anpreisend, mit klopfendem Herzen dem dort seit Jahren anwesenden, mir von Sehen her bekannten Verkäufer oder Besitzer aus, der mich allerdings höchst befremdet von Kopf bis Fuß maß und, das Bändchen mit Fingerspitzen widerwillig anfassend, ungehalten fragte: „Und was soll ich jetzt damit“? Mir war zum Weinen. Ich stammelte: „In die Auslage stellen…. oder wegschmeissen!“ Und mich auf dem Absatz umdrehend, verließ ich fluchtartig das Geschäft, auch in dem Bewusstsein, wieder einmal etwas „tipicamente triestino“ erlebt zu haben.


San Giovanni di Duino/Foto: Johann Jaritz/Wikimedia

Oft frage ich mich doch, warum ich mich jahrzehntelang – bis heute – für den Autor Virgilio Giotti, ohne Kosten und Mühen zu scheuen – bis zur bewussten Selbstschädigung (siehe oben) – ihm derart treu und solidarisch, eingesetzt habe. Ja, es ist schon so etwas wie eine „amour fou“ für den Dichter und den Menschen Giotti, der durch seine Texte und auch später dann durch seine Biografie für mich unerhört lebendig wurde: ja, es ist die Liebe zu dieser von so vielen Schicksalsschlägen getroffenen Person und zum Dichter, zu seiner Dichtkunst und Sprachkunst, die durch die Erfindung und Gestaltung eines eigenen künstlich kunstvollen, poetischen Idioms noch anziehender, reizvoller, herausfordernder wurde, das aber auch das Übersetzen von Lyrik noch problematischer macht, als es ohnehin schon ist
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Wie ich im Vorwort des Buchs feststelle, verzichte ich wohlweislich darauf, für Giottis dialektales poetisches Idiom ein entsprechendes dialektales Idiom aus dem deutschen Sprachraum zu verwenden, allzu unterschiedlich sind die Mentalitäten, die in den Dialekten zum unverwechselbaren Klang werden. Ich fand mein Auslangen, nach einigen Versuchen mit dem Wiener Dialekt, mit der Verwendung eines zeitlosen umgangssprachlichen Idioms der deutschen Sprache.

Wenn mir derart ein „TON“ gelang, der ungefähr dem Ton des Originals nahe kommt oder zumindest als TON der deutschen Version „ins Ohr geht“, wohlklingend ist, dann bin ich schon froh. Im Vordergrund stand für mich, wie bei allen Übersetzungen von Poesie von mir, der Ratschlag des großen tschechischen Dichters Vladimir Holan, den er dem Übersetzer seiner Gedichte, Franz Wurm gab: „Seien Sie so wörtlich wie möglich und nehmen Sie sich jede Freiheit, die Sie brauchen, aber machen Sie daraus ein gutes deutsches Gedicht.“   

Vielleicht aber ist die Ursache für die „idée fixe“, zu der Giotti und sein Werk für mich im Laufe der Jahre wurde, schlicht und einfach das unbewußte Verlangen, durch den selbstlosen Dienst am Werk Giottis, d.h. durch das Übersetzen seiner Texte, mir endlich die Gunst und, wenn schon nicht die Anerkennung, so wenigstens die Kenntnisnahme dieser für mich unzugänglichen, seltsam abweisenden, so verletzend desinteressierten Stadt zu verschaffen, an deren Rand, in Duino, eben en marge, ich 13 Jahre – so gern! - gelebt habe.
  
Hochstrass, im August 2017