Jerusalem

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Donnerstag, 29. November 2012

Chanukka-Geld, Teil 2 – Elisabeth Tova Bailey


Gegen Ende des Jahres, wenn die Nächte immer länger werden und das allgegenwärtige Dunkel uns zu bedrücken beginnt, feiern mit Judentum, Christentum und Hinduismus drei große Weltreligionen ihre traditionellen Lichterfeste. Chanukka, Weihnachten und Diwali versetzen uns nicht nur als Mitglieder unserer sozialer Gemeinschaften in erwartungsvolle Geschäftigkeit, sondern auch als Konsumenten. Manch einer mag insgeheim sogar auf die verheißene spirituelle Erleuchtung hoffen. Das antike Chanukka-Wunder im Jerusalemer Tempel ließ das ewige Licht sieben Tage länger brennen als die übrig gebliebene kümmerliche Ration geweihten Öls erhoffen ließ. Aus der Vielzahl an Buch-Neuerscherscheinungen des zurückliegenden Jahres, habe ich analog zu diesem Wunder sieben Bücher des Jahres ausgewählt, deren inneres Licht im Geiste des Lesers gleichermaßen lang zu leuchten vermag. Bücher sind immer ein Geschenk – und ein Lichtwunder, das man sich mühelos selbst zünden kann.


„Das Geräusch einer Schnecke beim Essen“ von Elisabeth Tova Bailey

Das stille, unverhoffte und bescheidene Glück, das die von schwerer Krankheit monatelang an ihr Bett gefesselte Schriftstellerin und Wissenschaftsjournalistin Elisabeth Tova Bailey beim täglichen Beobachten der faszinierenden Lebensgewohnheiten einer in ihrem Veilchentopf hausenden Schnecke empfindet, überträgt sich bei der Lektüre ihres entzückenden kleinen Buches „Das Geräusch einer Schnecke beim Essen“ direkt auf den einträchtig mit der Autorin staunenden, dankbaren Leser.

Nach einem Europa-Aufenthalt erkrankte die amerikanische Biologin vor mehr als zwanzig Jahren schwerwiegend an den Folgen einer FSME-Infektion, die aufgrund fehlender Erfahrung der amerikanischen Ärzte mit diesem bis dahin rein europäischen Krankheitsbild nicht korrekt diagnostiziert wurde und so bei der Autorin lebensbedrohliche Lähmungserscheinungen und schwerwiegende Störungen im körpereigenen Stoffwechselhaushalt bewirkte. Vollkommen auf häusliche Pflege angewiesen, bekam die für ihre Essays und Kurzgeschichten vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin von einer engen Freundin ein im nahe gelegenen Wald ausgegrabenes Ackerveilchen im Blumentopf geschenkt – samt einer kleinen im Schatten von dessen Blättern sich versteckender Schnecke.



Es gibt zahlreiche Bücher, die uns am Beispiel einer schweren Krankheit oder gar in der unmittelbaren Konfrontation mit dem Tod eindringlich vermitteln wollen, wie wertvoll und beglückend ein mit allen Sinnen bewusst gestaltetes Leben sein kann; die meisten dieser Bücher sind mehr oder weniger plumpe pseudo-spirituelle Gebrauchsliteratur, denen man die offensichtliche Intention des Autors jederzeit anmerkt und die man nur dann gerne liest, wenn man sich einen kurzfristigen Trost davon verspricht. Elisabeth Tova Bailey gelingt jedoch in ihrer hoch konzentrierten literarischen Beschreibung ihrer langsam, doch stetig zunehmenden Faszination für ihr ungewöhnliches kleines Haustier eine hoch poetische fundamentale Entschleunigung, die uns auf moderate, aber unverkennbare Art den ganzen Reichtum des Lebens vor Augen führt, der selbst in einem kleinen unscheinbaren Schneckenhaus verborgen sein kann:

 „Der Mensch ist herausgehoben, nicht weil wir so hoch über anderen Lebewesen stünden, sondern weil deren gründliche Kenntnis einen höheren Begriff von Leben schafft.“

Die kleine Schnecke hat Baileys langsamen Heilungsprozess mehr aktiv geprägt als nur begleitet, von ersten zufälligen Beobachtungen, der Erkenntnis, dass das possierliche Haustier nachts seinen Blumentopf verlässt, um quadratische Löcher in Briefumschläge von Genesungskarten zu fressen, tagsüber in einer selbst gegrabenen kleinen Mulde im Schatten des Veilchens schläft, handelsübliche Blumenerde ablehnt und winzige Zuchtchampignonscheiben als absolute Delikatesse betrachtet, von der sie sich eine ganze Woche zu ernähren vermag.

Die Autorin verschafft ihrer Mitbewohnerin schließlich nicht nur eine komfortablere Behausung in Form eines mit diversen Moosen, Ästen und Waldblumen ausgestatteten Terrariums, sondern schließlich sogar einen passenden Sexualpartner, was der Biologin die unverhoffte Möglichkeit eröffnet, die sonderbaren Paarungsrituale dieser unscheinbaren, aber hoch spezialisierten Gattung zu studieren und selbst das Heranwachsen von Nachwuchs mitzuerleben. Am Ende ihres wunderbaren Buches nimmt sich die immer noch stark von ihrer unheilbaren Krankheit beeinträchtigte Autorin vor:

„Ein Blick in den Sternenhimmel und dann ins Bett. Es gibt viel zu tun, so schnell oder langsam, wie es mir eben möglich ist. Ich muss die Schnecke in Erinnerung behalten. Immer die Schnecke in Erinnerung behalten.“

 „Das Geräusch einer Schnecke beim Essen“, aus dem Amerikanischen von Kathrin Razum, erschienen bei Nagel & Kimche, 171 Seiten, € 16,90

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