Jerusalem

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Montag, 12. November 2012

„Eskimo Limon 9“ von Sarah Diehl

Es bedarf schon einer ausgesprochen analytisch-filmwissenschaftlichen Sichtweise aus großem zeitlichen und biografischen Abstand, um die in den 1980er Jahren international erfolgreiche achtteilige israelische Filmreihe mit zunehmenden Softporno-Anteilen „Eis am Stiel“ als ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Dasein als israelischer Teenager in den 50er Jahren verklären zu können. Die in Berlin lebende, für ihr bisheriges Werk bereits preisgekrönte Dokumentarfilmerin Sarah Diehl (Jahrgang 1978) tut dies im Nachwort zu ihrem soeben erschienenen literarischen Debüt „Eskimo Limon 9“ ganz bewusst, um – wie sie sagt – einen von ihr diagnostizierten Mangel „an Wissen der Deutschen über das [lediglich] imaginiert Jüdische“ zu reflektieren und gleichzeitig einen „unautorisierten“ neunten, nun literarischen und gleichsam „seriösen“ Teil der Reihe vorzulegen. 


„Eskimo Limon“ ist der von der Autorin als diskriminierend gebrandmarkte Markenname eines israelischen Zitroneneises, nach dem die Filmserie im Original benannt wurde: „Eskimo Limon ist in etwa so schlimm wie der Sarotti-Mohr: verniedlichter Rassismus in Form eines Konsumproduktes, Ignoranz der Lebensrealität, an der sich die Anderen abkämpfen müssen.“ Damit ist gleichzeitig das übergeordnete Thema für Sarah Diehls Roman vorgegeben; doch die Autorin hat eine weitere für ihr Werk bedeutsame Theorie, die sie programmatisch gleich auf den ersten Seiten in der Gedankenwelt einer ihrer Protagonistinnen, der israelischen Mittdreißigerin Ziggy, erläutert: „Fiktionales zu lesen gab ihr das Gefühl eines öden Eskapismus. Die Erkenntnis, dass Realität wie Fiktion nur die zufällige Summe dessen war, was diese Welt hergab, war ihr erst allmählich gekommen. Mittlerweile empfand sie es als erleichternd, dass man mit einem Buch eine erfundene Welt aufklappen und sogar mit anderen Menschen teilen konnte.“ In dieser sehr engen Definition von Fiktion verkennt die Autorin allerdings die wunderbare Tatsache, dass gute Literatur immer Realität abbildet, Fiktion also weniger Erfindung als Findung einer geeigneten Form zur Abbildung von Leben ist. Auch wenn man der gelernten Kulturwissenschaftlerin und Dokumentarfilmerin Sarah Diehl die Erleichterung anmerkt, ihr prinzipielles Unbehagen gegenüber der literarischen Erfindung überwinden und somit gewissermaßen ihre gewohnte filmische Arbeit mit anderen Mitteln fortsetzen zu können, stellt gerade dies das größte Problem an ihrem Roman dar: denn anders als im Dokumentarfilm, in dem man scheinbar unverstellt leibhaftige Menschen mit ihren Meinungen auch im Sinne der eigenen Intention zu Wort kommen lassen kann, scheinen die seltsam leblos wirkenden Charaktere im Buch lediglich als künstliche Hüllen für Meinungen zu fungieren. 

Eine israelische Kleinfamilie zieht von Israel aus beruflichen Gründen in die hessische Provinz, wo sich ein merkwürdiges Geflecht von mitunter auch komischen Missverständnissen entfaltet, was jüdische Identität im Land der Täter im 21. Jahrhundert bedeutet. Dabei erweisen sich Israelis und Deutsche gleichermaßen als auf obskur-oberflächliche Weise vom Holocaust besessen, was unserer gegenwärtigen Lebensrealität in keiner Weise mehr zu entsprechen scheint und nur durch die von der Autorin herbeigeführte Konstellation erklärt werden kann, dass sich diese Geschichte in der hintersten hessischen Provinz abspielt, wo es anscheinend noch echte, vom ansonsten harmlosen Dorfdeppen angebrachte Hakenkreuzschmierereien gibt und selbst wohlmeinende Gymnasiallehrer in ihrer gesamten Schullaufbahn nur zwei türkische Gastarbeiterkinder zu Gesicht bekommen haben, von jüdischen Schüler gar nicht erst zu reden. Durchgängig irritierend ist die denkwürdige Tatsache, dass die Autorin immer „jüdisch“ schreibt, wenn sie „israelisch“ meint. Trotz vieler interessanter Gedankengänge und einiger höchst scharfsinniger, treffender Beobachtungen aus dem deutsch-jüdischen Alltag bleiben Sarah Diehls Charaktere insgesamt zu blutleer und die Handlung ihres Romans zu konstruiert, um literarische Spannung zu erzeugen oder gar nachhaltige innerliche Auseinandersetzung auszulösen.

Eskimo Limon 9“, erschienen bei Atrium, 320 Seiten, EUR 19,95

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