Es bedarf schon einer
ausgesprochen analytisch-filmwissenschaftlichen Sichtweise aus großem
zeitlichen und biografischen Abstand, um die in den 1980er Jahren
international erfolgreiche achtteilige israelische Filmreihe mit
zunehmenden Softporno-Anteilen „Eis am Stiel“ als ernsthafte
Auseinandersetzung mit dem Dasein als israelischer Teenager in den
50er Jahren verklären zu können. Die in Berlin lebende, für
ihr bisheriges Werk bereits preisgekrönte Dokumentarfilmerin
Sarah Diehl (Jahrgang 1978) tut dies im Nachwort zu ihrem soeben
erschienenen literarischen Debüt „Eskimo Limon 9“ ganz
bewusst, um – wie sie sagt – einen von ihr diagnostizierten
Mangel „an Wissen der Deutschen über das [lediglich]
imaginiert Jüdische“ zu reflektieren und gleichzeitig einen
„unautorisierten“ neunten, nun literarischen und gleichsam
„seriösen“ Teil der Reihe vorzulegen.
„Eskimo Limon“ ist
der von der Autorin als diskriminierend gebrandmarkte Markenname
eines israelischen Zitroneneises, nach dem die Filmserie im Original
benannt wurde: „Eskimo Limon ist in etwa so schlimm wie der
Sarotti-Mohr: verniedlichter Rassismus in Form eines Konsumproduktes,
Ignoranz der Lebensrealität, an der sich die Anderen
abkämpfen müssen.“ Damit ist gleichzeitig das
übergeordnete Thema für Sarah Diehls Roman vorgegeben; doch
die Autorin hat eine weitere für ihr Werk bedeutsame Theorie,
die sie programmatisch gleich auf den ersten Seiten in der
Gedankenwelt einer ihrer Protagonistinnen, der israelischen
Mittdreißigerin Ziggy, erläutert: „Fiktionales zu lesen
gab ihr das Gefühl eines öden Eskapismus. Die Erkenntnis,
dass Realität wie Fiktion nur die zufällige Summe dessen
war, was diese Welt hergab, war ihr erst allmählich gekommen.
Mittlerweile empfand sie es als erleichternd, dass man mit einem Buch
eine erfundene Welt aufklappen und sogar mit anderen Menschen teilen
konnte.“ In dieser sehr engen Definition von Fiktion verkennt die
Autorin allerdings die wunderbare Tatsache, dass gute Literatur immer
Realität abbildet, Fiktion also weniger Erfindung als Findung
einer geeigneten Form zur
Abbildung von Leben ist. Auch wenn man der gelernten
Kulturwissenschaftlerin und Dokumentarfilmerin Sarah Diehl die
Erleichterung anmerkt, ihr prinzipielles Unbehagen gegenüber der
literarischen Erfindung überwinden und somit gewissermaßen
ihre gewohnte filmische Arbeit mit anderen Mitteln fortsetzen zu
können, stellt gerade dies das größte Problem an
ihrem Roman dar: denn anders als im Dokumentarfilm, in dem man
scheinbar unverstellt leibhaftige Menschen mit ihren Meinungen auch
im Sinne der eigenen Intention zu Wort kommen lassen kann, scheinen
die seltsam leblos wirkenden Charaktere im Buch lediglich als
künstliche Hüllen für Meinungen zu fungieren.
Eine
israelische Kleinfamilie zieht von Israel aus beruflichen Gründen
in die hessische Provinz, wo sich ein merkwürdiges Geflecht von
mitunter auch komischen Missverständnissen entfaltet, was
jüdische Identität im Land der Täter im 21.
Jahrhundert bedeutet. Dabei erweisen sich Israelis und Deutsche
gleichermaßen als auf obskur-oberflächliche Weise vom
Holocaust besessen, was unserer gegenwärtigen Lebensrealität
in keiner Weise mehr zu entsprechen scheint und nur durch die von der
Autorin herbeigeführte Konstellation erklärt werden kann,
dass sich diese Geschichte in der hintersten hessischen Provinz
abspielt, wo es anscheinend noch echte, vom ansonsten harmlosen
Dorfdeppen angebrachte Hakenkreuzschmierereien gibt und selbst
wohlmeinende Gymnasiallehrer in ihrer gesamten Schullaufbahn nur zwei
türkische Gastarbeiterkinder zu Gesicht bekommen haben, von
jüdischen Schüler gar nicht erst zu reden. Durchgängig
irritierend ist die denkwürdige Tatsache, dass die Autorin immer
„jüdisch“ schreibt, wenn sie „israelisch“ meint. Trotz
vieler interessanter Gedankengänge und einiger höchst
scharfsinniger, treffender Beobachtungen aus dem deutsch-jüdischen
Alltag bleiben Sarah Diehls Charaktere insgesamt zu blutleer und die
Handlung ihres Romans zu konstruiert, um literarische Spannung zu
erzeugen oder gar nachhaltige innerliche Auseinandersetzung
auszulösen.
„Eskimo Limon 9“,
erschienen bei Atrium, 320 Seiten, EUR 19,95
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