Am Ende von
Ariel Magnus’ wunderbarer, sensibel-komisch-aufwühlender Recherche über das
Leben und Überleben seiner originell-verschrobenen Großmutter in
Nazi-Deutschland sowie im brasilianischen Exil und auf regelmäßigen Reisen in
die alte unbequeme, aber dennoch geliebte Heimat schließt sich ein Kreis, der
„sich nie hätte öffnen sollen“, wie er im Nachwort zur jetzt erschienenen
deutschen Ausgabe in deren Muttersprache schreibt: „Die Urenkelin [...] kam im September
2007 in Berlin zur Welt. [...] Drei Generationen brauchte die Rückkehr der
Unerwünschten, deren Ausrottung binnen kürzester Zeit erfolgte. Für wie lange
diesmal, ist schwer vorherzusagen. Zumindest so lange, wie ihr
Sündenbock-Posten an andere Menschengruppen vergeben ist, wie es leider jetzt
nicht nur in Deutschland, sondern in weiten Teilen Europas der Fall zu sein
scheint.“
Ariel Magnus (geboren 1975) und seine Geschwister sind als Nachkommen
deutsch-jüdischer Emigranten in Argentinien geboren worden, die
herzerwärmend-kauzige Persönlichkeit ihrer nicht mehr als einen Meter fünfzig
großen, aber innerlich umso stärkeren Großmutter mit all ihren Eigenheiten und
ungewöhnlichen Vorlieben für Deutschland und deutsche Produkte dominierte die
Familie so sehr, dass sie, bis auf den Autor selbst, der vor einigen Jahren als
erfolgreicher Schriftsteller nach Argentinien zurückkehrte, heute wieder wie
selbstverständlich in Deutschland leben. Ausgehend von einem Besuch seiner
Großmutter in Berlin im Rahmen einer ihrer jährlichen Kuren in Deutschland, auf
die sie als ehemalige Krankenschwester ein festes Anrecht hat, rollt Ariel
Magnus mit größtmöglicher Empathie die Stationen ihres Lebens auf: 1920
geboren, machte sie ab 1938 am jüdischen Krankenhaus in Hamburg eine
Berufsausbildung zur Krankenschwester. Nach erfolglosen Bemühungen über
Verwandte eine Stelle in den USA vermittelt zu bekommen, stieg sie im März 1943
aus eigenem Willen in einen Zug nach Theresienstadt, um ihre blinde Mutter zu
suchen, die sie anschließend ebenso freiwillig nach Auschwitz begleitete – und
hätte ihr bei der Selektion nicht ein deutscher Soldat mit einem Kolbenschlag
seines Gewehres den Kiefer gebrochen, wäre sie ihr gar in die Gaskammer
gefolgt. Nachdem sie die Todesmärsche überstanden hatte und in Bergen-Belsen
befreit worden war, nutzte sie Kontakte nach Schweden, wo sie bis zu ihrer
endgültigen Emigration nach Brasilien als Krankenpflegerin arbeiten konnte.
Auf
ausdrücklichen Wunsch seiner Großmutter und aus der Notwendigkeit einer
"vollständigen Würdigung ihrer schillernden Persönlichkeit" sowie der Umstände
ihres Lebens ist Ariel Magnus’ Buch das wohl ungewöhnlichste Buch über die
Schrecken der Schoah geworden, das wir seit langem lesen konnten: „Umso besser,
ich mag diese Bücher nicht, in denen die Überlebenden die Bemitleideten sind“,
wie ihm die Großmutter schon vor Vollendung des Manuskripts ins Stammbuch
schrieb. Beim auf denkwürdige Art und Weise missglückten Videointerview der
Shoah-Stiftung (in portugiesischer Sprache!) hatte sie sich noch heftig darüber
aufgeregt, dass der Interviewer nicht einmal den Namen Hitler in korrektem
Deutsch aussprechen konnte. Der Enkel machte es später besser und zeigt auf
wunderbare Art, dass und auf welche Weise das Leben einer Überlebenden auch
nach der Befreiung weitergeht. „Wenn auch mit gemischten Gefühlen, kehrte Oma
nicht in ihr Land zurückt – sie versuchte, nie gegangen zu sein. Sie
verzichtete auf ihre deutsche Staatsangehörigkeit, [...] doch das Band, das sie
mit diesem fremden und eigenen Boden verbindet, hat sich mit der Zeit nicht
gelockert. In Brasilien sieht sie die Deutsche Welle und liest deutsche
Zeitschriften; alle ihre Freundinnen sind teutonischer Herkunft und ihr Geld
hat sie bei einer deutschen Bank.“ Ariel Magnus’ Buch ist ein großes
literarisches Geschenk.
„Zwei lange Unterhosen der Marke Hering“, aus dem Spanischen von Silke Kleemann, erschienen bei Kiwi, 176 Seiten, € 18,99
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