Jerusalem

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Montag, 5. November 2012

„Zwei lange Unterhosen der Marke Hering“ von Ariel Magnus


Am Ende von Ariel Magnus’ wunderbarer, sensibel-komisch-aufwühlender Recherche über das Leben und Überleben seiner originell-verschrobenen Großmutter in Nazi-Deutschland sowie im brasilianischen Exil und auf regelmäßigen Reisen in die alte unbequeme, aber dennoch geliebte Heimat schließt sich ein Kreis, der „sich nie hätte öffnen sollen“, wie er im Nachwort zur jetzt erschienenen deutschen Ausgabe in deren Muttersprache schreibt: „Die Urenkelin [...] kam im September 2007 in Berlin zur Welt. [...] Drei Generationen brauchte die Rückkehr der Unerwünschten, deren Ausrottung binnen kürzester Zeit erfolgte. Für wie lange diesmal, ist schwer vorherzusagen. Zumindest so lange, wie ihr Sündenbock-Posten an andere Menschengruppen vergeben ist, wie es leider jetzt nicht nur in Deutschland, sondern in weiten Teilen Europas der Fall zu sein scheint.“ 

Ariel Magnus (geboren 1975) und seine Geschwister sind als Nachkommen deutsch-jüdischer Emigranten in Argentinien geboren worden, die herzerwärmend-kauzige Persönlichkeit ihrer nicht mehr als einen Meter fünfzig großen, aber innerlich umso stärkeren Großmutter mit all ihren Eigenheiten und ungewöhnlichen Vorlieben für Deutschland und deutsche Produkte dominierte die Familie so sehr, dass sie, bis auf den Autor selbst, der vor einigen Jahren als erfolgreicher Schriftsteller nach Argentinien zurückkehrte, heute wieder wie selbstverständlich in Deutschland leben. Ausgehend von einem Besuch seiner Großmutter in Berlin im Rahmen einer ihrer jährlichen Kuren in Deutschland, auf die sie als ehemalige Krankenschwester ein festes Anrecht hat, rollt Ariel Magnus mit größtmöglicher Empathie die Stationen ihres Lebens auf: 1920 geboren, machte sie ab 1938 am jüdischen Krankenhaus in Hamburg eine Berufsausbildung zur Krankenschwester. Nach erfolglosen Bemühungen über Verwandte eine Stelle in den USA vermittelt zu bekommen, stieg sie im März 1943 aus eigenem Willen in einen Zug nach Theresienstadt, um ihre blinde Mutter zu suchen, die sie anschließend ebenso freiwillig nach Auschwitz begleitete – und hätte ihr bei der Selektion nicht ein deutscher Soldat mit einem Kolbenschlag seines Gewehres den Kiefer gebrochen, wäre sie ihr gar in die Gaskammer gefolgt. Nachdem sie die Todesmärsche überstanden hatte und in Bergen-Belsen befreit worden war, nutzte sie Kontakte nach Schweden, wo sie bis zu ihrer endgültigen Emigration nach Brasilien als Krankenpflegerin arbeiten konnte.

Auf ausdrücklichen Wunsch seiner Großmutter und aus der Notwendigkeit einer "vollständigen Würdigung ihrer schillernden Persönlichkeit" sowie der Umstände ihres Lebens ist Ariel Magnus’ Buch das wohl ungewöhnlichste Buch über die Schrecken der Schoah geworden, das wir seit langem lesen konnten: „Umso besser, ich mag diese Bücher nicht, in denen die Überlebenden die Bemitleideten sind“, wie ihm die Großmutter schon vor Vollendung des Manuskripts ins Stammbuch schrieb. Beim auf denkwürdige Art und Weise missglückten Videointerview der Shoah-Stiftung (in portugiesischer Sprache!) hatte sie sich noch heftig darüber aufgeregt, dass der Interviewer nicht einmal den Namen Hitler in korrektem Deutsch aussprechen konnte. Der Enkel machte es später besser und zeigt auf wunderbare Art, dass und auf welche Weise das Leben einer Überlebenden auch nach der Befreiung weitergeht. „Wenn auch mit gemischten Gefühlen, kehrte Oma nicht in ihr Land zurückt – sie versuchte, nie gegangen zu sein. Sie verzichtete auf ihre deutsche Staatsangehörigkeit, [...] doch das Band, das sie mit diesem fremden und eigenen Boden verbindet, hat sich mit der Zeit nicht gelockert. In Brasilien sieht sie die Deutsche Welle und liest deutsche Zeitschriften; alle ihre Freundinnen sind teutonischer Herkunft und ihr Geld hat sie bei einer deutschen Bank.“ Ariel Magnus’ Buch ist ein großes literarisches Geschenk.

Zwei lange Unterhosen der Marke Hering“, aus dem Spanischen von Silke Kleemann, erschienen bei Kiwi, 176 Seiten, € 18,99

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