Wenn die Nacht am stillsten ist, zwischen drei und vier
Uhr morgens, öffnet sich der Mensch lebhaft träumend der
schillernd-faszinierenden Welt des eigenen unerforschten Unbewußten. Selbst
wenn er in diesen besonderen Stunden die Nacht in Clubs oder Bars zum Tage
macht, allein vom Tanz, von Drogen oder purer Lebenslust beseelt, scheint der
Zustand zwischen Wachen und Träumen zu einem berückenden Zwischenreich
weitestmöglich geöffneter Sinne zu verschwimmen. Die schlaflos-traurige
Protagonistin und Icherzählerin in Arezu Weitholz' intensivem Debütroman über
die Liebe, seit dem letzten Frühstück unverhofft Single, folgt einem für sie
selbst kaum erklärlichen inneren Unruhezustand spätnachts in die Wohnung ihres
Exfreundes Ludwig, wo sie diesen nach einer Überdosis Tabletten mit dem Tode
ringend vorfindet. Mit lapidar-rätselhaften Worten hatte er die bereits acht
Monate währende, vor den Kollegen der Redaktion eines bedeutenden
Gesellschaftsmagazins jedoch beharrlich geheim gehaltene Beziehung zu Anna am
Morgen beendet: „Du hast alles begriffen, nicht? Jetzt ist alles gut. Du hast
es verstanden.“
An seinem Bett sitzend, ihm die kühle Hand haltend, erforscht
sie selbst mit wachen Sinnen und liebevoll-kritischer, allumfassender
Schonungslosigkeit die gemeinsame Geschichte einer denkwürdigen Liebe zwischen
zwei erwachsenen Menschen, die trotz aller nur allzu augenscheinlicher
Unterschiede wie für einander gemacht scheinen. Der erste Teil des Romans, in
dem Anna dem bewusstlosen Ludwig von den zahlreichen Brüchen in ihrem Leben
erzählt, dem Selbstmord des Vaters, den Depressionen ihrer Mutter im
Altersheim, von denen der ebenso feinsinnige und kunstbesessene wie arrogante
und erfolgsverwöhnte hippe Jungliterat nie etwas wissen wollte, auch von wilden
Partys in Südafrika und von Drogen, Schmerz und Tod, erinnert in seiner
entschiedenen Schärfe an Birgit Vanderbekes literarische Demontage des
abwesenden Vaters in ihrer preisgekrönten Erzählung „Das Muschelessen“.
Im
zweiten Teil schildert Arezu Weitholz, die bislang vor allem für ihre
journalistischen Arbeiten und ihre Liedtexte für Herbert Grönemeyer, Udo
Lindenberg oder Zweiraumwohnung sowie ihre kuriosen Fischgedichte bekannt ist,
den zurückliegenden Tag ihrer hinreißenden Protagonistin seit Ludwigs
unerwarteten Worten beim Frühstück. Wir erleben die wundersame Wandlung eines
einsamen Menschen, dessen Leben bisher fast ausschließlich im schönen Schein
der Literatur, der gesellschaftlichen Analyse, der Mode und der Musik
stattfand, der nie Zweifel an seinem Talent und seinen Fähigkeiten aufkommen
ließ und dem bisher alles gelungen ist. Der seine Liebesunfähigkeit hinter
einer Maske der Unfehlbarkeit versteckt, die im Zusammenprall mit der
schmerzvoll-lebenserfahrenen Anna erstmals Risse bekommt: „»Es gibt kein
Mädchen für mich.« [...] War er vielleicht gar nicht so cool, so souverän? Sie
fragte: »Du hast noch nie eine getroffen?« – »Nein.« Er verzog das Gesicht.
»Sie sagen die falschen Sachen. Sie sehen falsch aus. Das macht mich nervös.
Ich kann damit nicht gut umgehen.«“ Und im eigenen Befremden Annas darüber,
dass sie sich mit Ludwig unermesslich wohl fühlt, obwohl er sie mit seiner Art
immer wieder verletzt, erleben wir verblüfft das große Mysterium der Liebe: „Du
hast zu mir gesagt: »Ich will, dass du heile aus der Sache herauskommst«, als
wäre ich eine vorübergehende Erscheinung, als wäre es von Beginn an vorbei
gewesen. Nichts ist vorbei. Nie ist etwas vorbei! Ich habe heute den halben Tag
mit Leuten zugebracht, die du nie kennenlernen wirst [...] und immer wieder habe
ich dabei an dich gedacht. Ich hatte dich bei mir.“ Der Schluss des Romans
bleibt offen, aber „am Ende geht es um den Moment.“ Dieser ist die einzige
Hoffnung.
„Wenn die Nacht am stillsten ist“, erschienen bei Antje Kunstmann, 224
Seiten, € 17,95
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