Gegen Ende
des Jahres, wenn die Nächte immer länger werden und das allgegenwärtige Dunkel
uns zu bedrücken beginnt, feiern mit Judentum, Christentum und Hinduismus drei
große Weltreligionen ihre traditionellen Lichterfeste. Chanukka, Weihnachten
und Diwali versetzen uns nicht nur als Mitglieder unserer sozialer
Gemeinschaften in erwartungsvolle Geschäftigkeit, sondern auch als Konsumenten.
Manch einer mag insgeheim sogar auf die verheißene spirituelle Erleuchtung
hoffen. Das antike Chanukka-Wunder im Jerusalemer Tempel ließ das ewige Licht
sieben Tage länger brennen als die übrig gebliebene kümmerliche Ration
geweihten Öls erhoffen ließ. Aus der Vielzahl an Buch-Neuerscherscheinungen des
zurückliegenden Jahres, habe ich analog zu diesem Wunder sieben Bücher des
Jahres ausgewählt, deren inneres Licht im Geiste des Lesers gleichermaßen lang
zu leuchten vermag. Bücher sind immer ein Geschenk – und ein Lichtwunder, das
man sich mühelos selbst zünden kann.
„Die Schiffswache“ von Nikos Kavvadias
„Erwachsene weinen nicht. Trotzdem ist da ein Knoten, der
aufsteigt, oder eine Schlinge, die einen würgt. Genau das ist es, was Menschen
an Land dazu treibt, Bücher zu schreiben, und Seeleute schnitzen Segelschiffe,
takeln sie auf und stecken sie in Flaschen, oder sie lassen sich ihren Körper
tätowieren. Wenn die Bücher gut, die Segelschiffe sauber gearbeitet und die
Tätowierungen schön bunt sind, dann...“
Ja, dann tragen
sie die ganze Welt in sich, spiegeln das menschliche Leben und Streben in all
seinen Facetten, unterstützen uns darin, Sinn in unserem Sein zu erkennen und
ein ums andere Mal auch unser ebenso notwendiges wie unvermeidliches Scheitern
anzuerkennen und in ein tieferes melancholisch-vorurteilsfreies Begreifen zu
verwandeln, das uns innerlich so sehr zu stärken vermöchte, dass wir meinen,
jeden möglicherweise noch auf uns zukommenden Schmerz ertragen zu können.
Es ist ein
höchst merkwürdiges Phänomen, dass manche der wichtigsten, prägendsten und
tiefste Wahrheiten aussprechenden Werke der Literatur schon bald, nachdem sie
erstmals erklungen sind, wieder in der Versenkung verschwinden, noch bevor sie
ihr verdientes Publikum gewonnen haben, so als wäre die Zeit für universelle
Wahrheiten noch nicht reif oder als wollten diese Wahrheiten nicht gehört
werden. Damit der einzige Roman des in seiner Heimat Griechenland bis heute
verehrten und von vielen seiner Landsleute auswendig zitierbaren Lyrikers Nikos
Kavvadias (1910-1975) im Jahr 2001 überhaupt erstmals in deutscher Sprache
erscheinen konnte – fünfundzwanzig Jahre nach dessen Tod an Land, was den
leidenschaftlichen Seemann, der beinahe sein ganzes Leben als Funker auf
verschiedenen Überseeschiffen verbracht hat, sehr geschmerzt haben muss – war
die erste und wichtigste Aufgabe der Herausgeber die lückenlose Klärung der
sich als völlig unübersichtlich darstellenden Autorenrechte.
Und obwohl der
zunächst unter dem Titel „Die Wache“ erscheinende Roman von der Kritik
ausnahmslos gefeiert wurde, waren die Verkäufe offenbar so mäßig, dass die auf
dem heutigen Buchmarkt naturgemäß der Originalausgabe in absehbarer Zeit immer
folgende und somit unvermeidlich scheinende Taschenbuchausgabe nie realisiert
wurde. Umso schöner und verdienstvoller, dass der kleine Schweizer Unionsverlag
sich nun die Taschenbuchrechte dieses kleinen Meisterwerkes für seine
erfolgreiche Reihe „Meeresromane“ gesichert hat und somit dem vielleicht
ehrlichsten, bewegendsten und wahrhaftigsten Seefahrerroman aller Zeiten eine
neue Chance bietet, mit seinem unermesslichen Potenzial als
Generationen-Lieblingsbuch auch hierzulande endlich sein verdientes,
begeistertes Publikum zu finden.
Ende der 1940er
Jahre durchpflügt ein altes griechisches Frachtschiff das südchinesische Meer,
an Bord Waffen für die nach der Macht strebenden chinesischen Kommunisten.
Während der Wache an Deck unterhalten sich die griechischen Matrosen über ihr
Leben, ihre Träume, ihre Taten und Untaten. Nikos Kavvadias’ Buch ist eine
große wunderbare Elegie in der Sprache eines vollendeten Poeten über das harte
Leben auf See, Einsamkeit und Entbehrungen, Geheimnisse und Verbrechen – und
nicht zuletzt über die unerfüllte Liebe zu schönen Frauen: Ehefrauen,
Geliebten, Müttern, Schwestern und Huren. Als „Die Schiffswache“ erstmals in
französischer Sprache erschien, riet ein begeisterter Kritiker den Lesern
seiner Zeitung: „Das Buch lässt nicht los. Keinen einzigen Moment, das
garantiere ich. Eine Seltenheit. Auf einmal zu verschlingen. Und in mehreren
Exemplaren zu kaufen. Für Ihre Freunde.“ Dem ist nichts hinzuzufügen – „Die
Schiffswache“ ist ein Meisterwerk der Weltliteratur, dem man gar nicht genug
Leser wünschen kann.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.