Das Wort „Mensch“ wird im Jiddischen üblicherweise nicht
nur als bewährtes Synonym für ein Mitglied der jüdischen Gemeinschaft
gebraucht, sondern im weitesten Sinne auch für einen guten, also einen
moralisch lauteren, ausgeglichenen und integren Menschen. Wenn der bekannte
Liedermacher, Schriftsteller und DDR-Bürgerrechtler Stephan Krawczyk (geboren
1955) dieses unendlich bedeutsam scheinende Wort im Titel seines neuen Romans
in engste Beziehung zu dem Wort „Nazi“ setzt, muss er sich bewusst sein, dass
er mit zwei so einfachen Begriffen kaum einem größeren Gegensatz Ausdruck hätte
verleihen können, ist doch unser Bild vom „Nazi“ im wesentlichen das eines
moralisch verrohten sowie in seiner geistigen und emotionalen Entwicklung zurückgebliebenen
brutalen Barbaren.
Und doch müssen wir zweifellos konstatieren, dass wir aus
dem milden Blickwinkel unserer humanistischen Weltanschauung heraus selbst den
verblendetsten Nazi zweifellos als zur menschlichen Rasse zugehörig anerkennen
müssen. Das traurig-reale Bild neuen rechtsradikalen Terrors in Deutschland,
das sich angesichts der sogenannten Döner-Morde ergibt, aber auch aufgrund des
ungewohnt-offensiven Auftretens vieler rechter Gruppen in der Öffentlichkeit,
übertrifft in seinem Ausmaß schlimmste Befürchtungen, radikale Meinungen – das
beweisen neueste Umfragen ein ums andere Mal – erreichen zunehmend die
sogenannte Mitte der Gesellschaft und scheinen sich dort festzusetzen. Es
spricht also sehr für Stephan Krawczyks immer noch intaktes Gespür für die
großen Themen unserer Zeit, wenn er in seinem neuen Buch mit ermutigend klarer
und umsichtiger Gedankenführung, treffend-genauen sprachlichen Bildern und
lebenserfahrener Nachsicht von den Feinheiten der Menschwerdung berichtet,
nicht nur anhand der Begegnung mit einem gewalttätigen Neonazi in einer
Kreuzberger Kneipe, sondern vor allem auch angesichts der zahlreichen
Herausforderungen im eigenen Bestreben, seinem spät geborenen Sohn eine
liebevolle Erziehung zu einem selbständigen, verantwortungsbewussten Menschen
zuteil werden zu lassen.
Mitreißend und genau skizziert Krawczyk die alles
andere als unausweichliche Mutation eines in den letzten Tagen der DDR nur
unzulänglich sozialisierten jungen Menschen zum Neonazi, von der auf durchaus
exemplarische Art und Weise, wenn auch in eher reißerischem Stil, auch der
Szeneaussteiger Manuel Bauer in seinem zeitgleich erschienenen Buch „Unter Staatsfeinden – Mein Leben im braunen Sumpf der Neonaziszene“ berichtet. Für
beide jugendliche Protagonisten bietet die verquere Ideologie ihrer
deutschtümelnden quasireligiösen Vorbeter in Zeiten radikalen sozialen Umbruchs
im deutschen Osten die einzig erkennbare Orientierung weit und breit. Freilich
gelingt es dem Literaten Krawczyk vielmals besser, dies verstandesmäßig zu
hinterfragen und zu formulieren: „Wären Neonazis nicht chronisch gewaltbereit,
könnte man sie als Wiedergänger, als Untote abtun, die zur geschichtsträchtigen
deutschen demokratischen Gesellschaft im Medienzeitalter einfach dazugehören.
Die Seelen der Nazis haben keine Ruhe gefunden. Als Neonazis kehren sie zurück.
Leider sind sie nicht wie im Volksglauben Geister und Erscheinungen, sondern
brutal körperlich.“
Krawczyks Antwort auf die Herausforderung des Neonazismus
fällt gleichzeitig entwaffnend einfach, aber angesichts unserer zunehmend
marginaler werdender Gesellschaftsstrukturen und des Rückzugs vieler Menschen
in die selbst gewählte Anonymität als Konsument ebenso kompliziert aus: Wenn
wir, die Nächsten und Nahen im engsten familiären Rahmen nicht dafür Sorge
tragen, dass sich unsere Kinder zu verantwortungsvollen sozialen Menschen
entwickeln können, wird es umso schwerer den Gewaltbereiten noch mit
Zivilcorage beizukommen.
„Mensch Nazi“, erschienen bei edition chrismon, 160 Seiten, € 14,90
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