Jerusalem

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Montag, 5. November 2012

„Mensch Nazi“ von Stephan Krawczyk


Das Wort „Mensch“ wird im Jiddischen üblicherweise nicht nur als bewährtes Synonym für ein Mitglied der jüdischen Gemeinschaft gebraucht, sondern im weitesten Sinne auch für einen guten, also einen moralisch lauteren, ausgeglichenen und integren Menschen. Wenn der bekannte Liedermacher, Schriftsteller und DDR-Bürgerrechtler Stephan Krawczyk (geboren 1955) dieses unendlich bedeutsam scheinende Wort im Titel seines neuen Romans in engste Beziehung zu dem Wort „Nazi“ setzt, muss er sich bewusst sein, dass er mit zwei so einfachen Begriffen kaum einem größeren Gegensatz Ausdruck hätte verleihen können, ist doch unser Bild vom „Nazi“ im wesentlichen das eines moralisch verrohten sowie in seiner geistigen und emotionalen Entwicklung zurückgebliebenen brutalen Barbaren. 

Und doch müssen wir zweifellos konstatieren, dass wir aus dem milden Blickwinkel unserer humanistischen Weltanschauung heraus selbst den verblendetsten Nazi zweifellos als zur menschlichen Rasse zugehörig anerkennen müssen. Das traurig-reale Bild neuen rechtsradikalen Terrors in Deutschland, das sich angesichts der sogenannten Döner-Morde ergibt, aber auch aufgrund des ungewohnt-offensiven Auftretens vieler rechter Gruppen in der Öffentlichkeit, übertrifft in seinem Ausmaß schlimmste Befürchtungen, radikale Meinungen – das beweisen neueste Umfragen ein ums andere Mal – erreichen zunehmend die sogenannte Mitte der Gesellschaft und scheinen sich dort festzusetzen. Es spricht also sehr für Stephan Krawczyks immer noch intaktes Gespür für die großen Themen unserer Zeit, wenn er in seinem neuen Buch mit ermutigend klarer und umsichtiger Gedankenführung, treffend-genauen sprachlichen Bildern und lebenserfahrener Nachsicht von den Feinheiten der Menschwerdung berichtet, nicht nur anhand der Begegnung mit einem gewalttätigen Neonazi in einer Kreuzberger Kneipe, sondern vor allem auch angesichts der zahlreichen Herausforderungen im eigenen Bestreben, seinem spät geborenen Sohn eine liebevolle Erziehung zu einem selbständigen, verantwortungsbewussten Menschen zuteil werden zu lassen. 

Mitreißend und genau skizziert Krawczyk die alles andere als unausweichliche Mutation eines in den letzten Tagen der DDR nur unzulänglich sozialisierten jungen Menschen zum Neonazi, von der auf durchaus exemplarische Art und Weise, wenn auch in eher reißerischem Stil, auch der Szeneaussteiger Manuel Bauer in seinem zeitgleich erschienenen Buch „Unter Staatsfeinden – Mein Leben im braunen Sumpf der Neonaziszene“ berichtet. Für beide jugendliche Protagonisten bietet die verquere Ideologie ihrer deutschtümelnden quasireligiösen Vorbeter in Zeiten radikalen sozialen Umbruchs im deutschen Osten die einzig erkennbare Orientierung weit und breit. Freilich gelingt es dem Literaten Krawczyk vielmals besser, dies verstandesmäßig zu hinterfragen und zu formulieren: „Wären Neonazis nicht chronisch gewaltbereit, könnte man sie als Wiedergänger, als Untote abtun, die zur geschichtsträchtigen deutschen demokratischen Gesellschaft im Medienzeitalter einfach dazugehören. Die Seelen der Nazis haben keine Ruhe gefunden. Als Neonazis kehren sie zurück. Leider sind sie nicht wie im Volksglauben Geister und Erscheinungen, sondern brutal körperlich.“ 

Krawczyks Antwort auf die Herausforderung des Neonazismus fällt gleichzeitig entwaffnend einfach, aber angesichts unserer zunehmend marginaler werdender Gesellschaftsstrukturen und des Rückzugs vieler Menschen in die selbst gewählte Anonymität als Konsument ebenso kompliziert aus: Wenn wir, die Nächsten und Nahen im engsten familiären Rahmen nicht dafür Sorge tragen, dass sich unsere Kinder zu verantwortungsvollen sozialen Menschen entwickeln können, wird es umso schwerer den Gewaltbereiten noch mit Zivilcorage beizukommen.

Mensch Nazi“, erschienen bei edition chrismon, 160 Seiten, € 14,90

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