Jerusalem

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Sonntag, 4. November 2012

„Reise nach Jerusalem“ von Ayman Sikseck


Während das hebräische Wort für Katastrophe, Shoah, heute so untrennbar mit der fabrikmäßigen Vernichtung des europäischen Judentums durch die Nationalsozialisten konnotiert ist, dass sich im alltäglichen Sprachgebrauch eine andere, mildere Bedeutungsebene geradezu verbietet, versteht die gesamte arabische Welt unter dem vom Wortsinn her in ihrer gemeinsamen Sprache nahezu identischen Begriff Nakba mit derselben Ausschließlichkeit die Gründung des Staates Israel und die damit verbundene Vertreibung von 700.000 Palästinensern aus ihrer Heimat. So bewirkt, wenn man versucht, sich eine neutrale Perspektive zu eigen zu machen, rein semantisch der Ausweg aus der Katastrophe eine neuerliche Katastrophe. Diesen gewaltigen Widerspruch auszuhalten, nicht nur gedanklich, sondern im alltäglichen Leben, ist das große Dilemma des Jüdischen Staates, unter dem seine heterogene Gesellschaft langfristig zu zerbrechen droht. Mit seinem ersten Roman „Reise nach Jerusalem“ meldet sich nun ein junger Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft eindrucksvoll in hebräischer Sprache zu diesem schwierigen Thema zu Wort.

 Bemerkenswert an der nun vorliegenden, von Ruth Achlama gewohnt sorgfältig und sprachlich reich übersetzten deutschen Ausgabe ist die ungewöhnliche Tatsache, dass diese offenbar nicht mit finanzieller Förderung des staatlich-israelischen Institute for the Translation of Hebrew Literature zustande gekommen ist, obwohl gerade Siksecks intensives Buch ein gutes Beispiel für den postulierten und gerne vorgeführten Reichtum der hebräischen Literatur darstellt. Sein namenloser Protagonist, ein Palästinenser aus Jaffa, schreibt sich für ein von seinen Eltern finanziertes Literaturstudium an der Hebräischen Universität. Als Fremder in Jerusalem, der aufgrund seiner arabischen Herkunft unter den überwiegend jüdischen Kommilitonen nur langsam Anschluß findet, wird ihm nach und nach auch die durch rege Bautätigkeit mehr und mehr ihren arabischen Charakter einbüßende Heimatstadt Jaffa immer fremder, was er im Detail während langer Spaziergänge ebenso akribisch wie sachlich und reflektiert in seinem literarischen Notizbuch festhält. 

Als Palästinenser mit israelischer Staatsangehörigkeit bleibt der Protagonist sowohl für die jüdischen Israelis als auch für die Palästinenser aus den besetzten Gebieten ein argwöhnisch beäugter Fremder, obwohl er an beiden Welten seit frühester Jugend aktiv Anteil nimmt; in der Liebe kann er sich nicht zwischen der Jüdin Nitzan entscheiden, die ihn zunächst mit Alkohol abfüllt und dann verführt, und seiner arabischen Freundin Scharihan, die er nur heimlich treffen darf, solange ihre Beziehung nicht den offiziellen elterlichen Segen erhalten hat. Die zirkusreif-artistische Aufrechterhaltung beider Beziehungen droht ihn schließlich ebenso zu zerbrechen wie die Unklarheit seiner persönlichen Identität als palästinensischer Israeli oder israelischer Palästinenser. Eine der stärksten und bezeichnendsten Szenen im Roman ist jene, in der er mit Nitzan zusammen in einem öffentlichen Bus nach Tel-Aviv reist und unterwegs plötzlich eine Frau mit traditionallem muslimischem Kopftuch und einer ungewöhnlich großen, verdächtig erscheinenden Tasche zusteigt, die von nahezu allen Fahrgästen als mögliche Attentäterin verdächtigt und nach einem handfesten Übergriff aus dem Bus gedrängt wird. Der Icherzähler leugnet nicht nur seiner Freundin gegenüber die eigene Angst, sondern auch vor sich selbst. Das besondere an Ayman Siksecks auch sprachlich begeisterndem Roman ist die überaus versöhnliche Tatsache, dass er nicht als zorniger junger Mann schreibt, sondern allein im Bestreben, den unseligen status quo mit literarischen Mitteln anzuerkennen und damit einen nützlichen Anstoß zu seiner Bewältigung zu geben.

Reise nach Jerusalem“, aus dem Hebräischen von Ruth Achlama, erschienen bei Arche, 159 Seiten, € 18,-

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