Während das
hebräische Wort für Katastrophe, Shoah, heute so untrennbar mit der
fabrikmäßigen Vernichtung des europäischen Judentums durch die
Nationalsozialisten konnotiert ist, dass sich im alltäglichen Sprachgebrauch
eine andere, mildere Bedeutungsebene geradezu verbietet, versteht die gesamte
arabische Welt unter dem vom Wortsinn her in ihrer gemeinsamen Sprache nahezu
identischen Begriff Nakba mit derselben Ausschließlichkeit die Gründung des
Staates Israel und die damit verbundene Vertreibung von 700.000 Palästinensern
aus ihrer Heimat. So bewirkt, wenn man versucht, sich eine neutrale Perspektive
zu eigen zu machen, rein semantisch der Ausweg aus der Katastrophe eine
neuerliche Katastrophe. Diesen gewaltigen Widerspruch auszuhalten, nicht nur
gedanklich, sondern im alltäglichen Leben, ist das große Dilemma des Jüdischen
Staates, unter dem seine heterogene Gesellschaft langfristig zu zerbrechen
droht. Mit seinem ersten Roman „Reise nach Jerusalem“ meldet sich nun ein
junger Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft eindrucksvoll in
hebräischer Sprache zu diesem schwierigen Thema zu Wort.
Bemerkenswert an der
nun vorliegenden, von Ruth Achlama gewohnt sorgfältig und sprachlich reich
übersetzten deutschen Ausgabe ist die ungewöhnliche Tatsache, dass diese
offenbar nicht mit finanzieller Förderung des staatlich-israelischen Institute
for the Translation of Hebrew Literature zustande gekommen ist, obwohl
gerade Siksecks intensives Buch ein gutes Beispiel für den postulierten und
gerne vorgeführten Reichtum der hebräischen Literatur darstellt. Sein
namenloser Protagonist, ein Palästinenser aus Jaffa, schreibt sich für ein von
seinen Eltern finanziertes Literaturstudium an der Hebräischen Universität. Als
Fremder in Jerusalem, der aufgrund seiner arabischen Herkunft unter den
überwiegend jüdischen Kommilitonen nur langsam Anschluß findet, wird ihm nach
und nach auch die durch rege Bautätigkeit mehr und mehr ihren arabischen
Charakter einbüßende Heimatstadt Jaffa immer fremder, was er im Detail während
langer Spaziergänge ebenso akribisch wie sachlich und reflektiert in seinem literarischen
Notizbuch festhält.
Als Palästinenser mit israelischer Staatsangehörigkeit
bleibt der Protagonist sowohl für die jüdischen Israelis als auch für die
Palästinenser aus den besetzten Gebieten ein argwöhnisch beäugter Fremder,
obwohl er an beiden Welten seit frühester Jugend aktiv Anteil nimmt; in der
Liebe kann er sich nicht zwischen der Jüdin Nitzan entscheiden, die ihn
zunächst mit Alkohol abfüllt und dann verführt, und seiner arabischen Freundin
Scharihan, die er nur heimlich treffen darf, solange ihre Beziehung nicht den
offiziellen elterlichen Segen erhalten hat. Die zirkusreif-artistische
Aufrechterhaltung beider Beziehungen droht ihn schließlich ebenso zu zerbrechen
wie die Unklarheit seiner persönlichen Identität als palästinensischer Israeli
oder israelischer Palästinenser. Eine der stärksten und bezeichnendsten Szenen
im Roman ist jene, in der er mit Nitzan zusammen in einem öffentlichen Bus nach
Tel-Aviv reist und unterwegs plötzlich eine Frau mit traditionallem
muslimischem Kopftuch und einer ungewöhnlich großen, verdächtig erscheinenden
Tasche zusteigt, die von nahezu allen Fahrgästen als mögliche Attentäterin
verdächtigt und nach einem handfesten Übergriff aus dem Bus gedrängt wird. Der
Icherzähler leugnet nicht nur seiner Freundin gegenüber die eigene Angst,
sondern auch vor sich selbst. Das besondere an Ayman Siksecks auch sprachlich
begeisterndem Roman ist die überaus versöhnliche Tatsache, dass er nicht als
zorniger junger Mann schreibt, sondern allein im Bestreben, den unseligen status
quo mit literarischen Mitteln anzuerkennen und damit einen nützlichen
Anstoß zu seiner Bewältigung zu geben.
„Reise nach Jerusalem“, aus dem Hebräischen von Ruth Achlama, erschienen bei Arche, 159
Seiten, € 18,-
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