Das Judentum als
Religion ist angesichts seiner Jahrtausende währenden Verfolgung und
Diskriminierung in der Diaspora nicht nur ein außerordentlich gutes Beispiel
für das mit Sinn erfüllte Überleben einer theologischen Idee, sondern gerade in
seinem uralten Ringen um eine unverkennbare eigene Identität auch ein
wesentliches Vorbild für das philosophische Konzept des unbeugsamen ideellen
Kampfes gegen alle politischen Widerstände. Und auch wenn die
streng-orthodoxe Ausübung des Judentums mit ihren zahlreichen das tägliche
Leben einschränkenden religiösen Vorschriften für den modernen Menschen aus
aufgeklärter Sicht nicht mehr angemessen erscheint und sich aktuell eher eine
zeitgemäße Auffassung von kulturellem Judentum weltweit ausbreitet, müssen wir
dennoch anerkennen, dass es immer die orthodoxe und traditionsbewahrende,
gleichzeitig jedoch auf lebhaftem theologischen Diskurs gründende Ausrichtung
des Judentums war, die über Jahrhunderte eine unverwechselbare jüdische
Identität bewahrt hat.
Diese
substanzielle Erfahrung lässt sich auch an scheinbar unerheblichen
Beobachtungen im modernen Staat Israel nachvollziehen: während die eher
areligiöse Bevölkerungsmehrheit trotz ihrer nach wie vor unleugbaren vehementen
zionistischen Verstrickung sich kulturell mehr und mehr ihrer arabischen
Umgebung anpasst, leben dort gleichzeitig ultraorthodoxe Gruppen nach
jahrhundertealten religiösen Vorschriften, wie sie der isolationistische
Mikrokosmos des osteuropäischen Schtetl hervorgebracht hat. Ausgerechnet diese
streng religiösen Gemeinden, deren Sprache bis heute Jiddisch ist und die in
ihren archaisch scheinenden Sitten und Gebräuchen eine ursprüngliche Idee vom
Judentum bewahren, lehnen jene Institution, die sich selbst als wichtigste, ja
gar als einzige ernst zu nehmende Bewahrerin jüdischer Kultur der Moderne
betrachtet: den zionistischen Staat, mit ebenso viel Überzeugung wie
Leidenschaft ab.
In dieses
ambivalente, exotisch scheinende Milieu wurde der israelische Lyriker Asher
Reich 1937 als Sohn von osteuropäischen Einwanderern hineingeboren: im
berühmten ultraorthodoxen Jerusalemer Viertel Mea Shearim wuchs er auf und erhielt
dort eine traditionelle jüdische Erziehung, die neben der üblichen Schulbildung
wie selbstverständlich auch ein intensives Studium der Thora sowie des Talmud
umfasste. Auch wenn der Schöpfer zahlreicher leicht zugänglicher, teilweise
preisgekrönter Lyrikbände (auf Deutsch: „Arbeiten auf Papier“, 1992) sich bald
vom orthodoxen Judentum abwandte, Hebräische Literatur und Philosophie
studierte und sogar ins weltliche Tel-Aviv „emigrierte“, sind viele seiner
Gedichte unverkennbar im orthodoxen Judentum und in der intensiven Kenntnis der
kulturellen Überlieferung sowie der religiösen Texte verwurzelt, woraus sie
einen Großteil ihrer literarischen und philosophischen Spannung erhalten.
Gleichzeitig ist uns der Weg der innerlichen Befreiung – von den Einschränkungen
der Erziehung zum wahren Selbst – intuitiv so vertraut, dass er dem Leser als
einzig folgerichtiger erscheinen muss. Dennoch gelingt es Asher Reich in seiner
Lyrik geradezu bravourös, jüdisch-orthodoxe Motive zu bewahren, indem er sie
der Prüfung durch die Realität der Moderne unterzieht:
Ich legte Geduld aus heute nacht wie ein Fischer sein Netz
Für jene, die ein Licht bemerken.
Eine Lache aus Wachs glänzt in der Frühe
Wie die Steckdose in der Wand; mit ihr
Wird der Sonnenfaden verbunden: das Licht unserer Seele.
(aus dem Gedicht „Stromausfall“; Übersetzung: Efrat Gal-Ed und Christoph
Meckel)
In den zehn
intensiven Erzählungen des soeben in deutscher Übersetzung erschienenen Bandes
„Ein Mann mit einer Tür“ kehrt Asher Reich mit Hilfe seines Kindheits-Ichs nach
Mea Shearim zurück und erinnert sich eindrücklich an eine
traumverloren-entrückte archaische Welt, die – auch wenn der Autor selbst sie
seit langem verlassen und innerlich überwunden hat – nahezu unverändert immer
noch weiterexistiert – nicht nur in ihm selbst, als lebendige Erinnerung, sondern
überall dort, wo Kinder in jüdisch-orthodoxe Lebenswelten hineingeboren werden,
die augenscheinlich nicht der vorherrschenden Lebensrealität der Umgebung
entsprechen. So gibt es in Reichs Erzählungen altväterischen Aberglauben
zuhauf, moralische Engstirnigkeit, religiöse Verblendung und blindwütige
Boshaftigkeit, aber auch echte lebensbejahende Spiritualität, mystischen
Wunderglauben, Gottvertrauen gegen jede Vernunft und das größte Wunder von
allen – die Liebe. Wir lernen eine durch ihre gemeinsamen religiösen
Anschauungen gegenseitig und miteinander tief verbundene Gemeinschaft kennen,
deren strenge Regeln nach Belieben zu erhöhen und auszugrenzen vermögen, die
den Einzelnen nach Belieben zu bereichern vermag, solange er die Spielregeln
befolgt – und die ihn erbarmungslos abstraft, wenn er das eigene Glück über das
der Gemeinschaft stellt.
Es kann Asher
Reich freilich nicht gelingen, die großen Fußstapfen von Schriftstellern wie
Isaak Baschewis Singer (1902-1991), dessen Bruder Israel Joschua Singer
(1893-1944) oder von Scholem Alejchem (1859-1916) auszufüllen, deren Romane und
Erzählungen die Welt des traditionellen orthodoxen Judentums so kongenial
abbildeten. In manchen Geschichten irritiert die herzlos scheinende Passivität
des Erzählers, der immer wieder freimütig bekennt, nie nachgefragt zu
haben, was aus seinem hochbegabten Jugendfreund Leibale geworden ist, einem für
die Ergründung der Geheimnisse der Kabbala gleichsam geborenen, früh erwachsen
gewordenen Albino, was aus den elenden, von ihrer eigenen Mutter verratenen
Schwestern Bracha und Rivka oder aus seiner unvergessenen wunderschönen
Jugendliebe Schoschana, der geheimnisvollen „Hindin der Morgenröte“: „Meine
ganze Kindheit und Jugend hindurch sehnte ich mich nach der schönen Schoschana,
konnte sie ganz und gar nicht vergessen. [...] Ihre Gestalt schimmerte mir vor
Augen wie ein ofenfrisches Sabbatbrot.“
Auch wenn es
Asher Reich nicht vollends gelingt, die unverwechselbare poetische Sprache
seiner Lyrik auf seine Erzählungen zu übertragen, vermag er dennoch
beispielhaft, eine ganze Welt vor den Augen des staunenden Lesers auferstehen
zu lassen, die ihm auf den ersten Blick allzu fremd erscheinen muss, um sich
ihr anders als auf literarischem Wege nähern zu können – und deren
Protagonisten er uns dennoch so nahe bringt, wie es nur ein begabter Poet und
Schriftsteller vermag. Hierin erweist sich Asher Reich am Ende seiner
Lebensspanne unverhofft doch noch als kabbalistischer Meister, indem er Leben
in Poesie verwandelt.
„Ein Mann mit einer Tür“, aus dem Hebräischen von Ruth Achlama, erschienen bei S. Fischer,
301 Seiten, € 19,99
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