Jerusalem

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Donnerstag, 15. November 2012

„Ein Mann mit einer Tür“ von Asher Reich


Das Judentum als Religion ist angesichts seiner Jahrtausende währenden Verfolgung und Diskriminierung in der Diaspora nicht nur ein außerordentlich gutes Beispiel für das mit Sinn erfüllte Überleben einer theologischen Idee, sondern gerade in seinem uralten Ringen um eine unverkennbare eigene Identität auch ein wesentliches Vorbild für das philosophische Konzept des unbeugsamen ideellen Kampfes gegen alle politischen Widerstände. Und auch wenn die streng-orthodoxe Ausübung des Judentums mit ihren zahlreichen das tägliche Leben einschränkenden religiösen Vorschriften für den modernen Menschen aus aufgeklärter Sicht nicht mehr angemessen erscheint und sich aktuell eher eine zeitgemäße Auffassung von kulturellem Judentum weltweit ausbreitet, müssen wir dennoch anerkennen, dass es immer die orthodoxe und traditionsbewahrende, gleichzeitig jedoch auf lebhaftem theologischen Diskurs gründende Ausrichtung des Judentums war, die über Jahrhunderte eine unverwechselbare jüdische Identität bewahrt hat.

Diese substanzielle Erfahrung lässt sich auch an scheinbar unerheblichen Beobachtungen im modernen Staat Israel nachvollziehen: während die eher areligiöse Bevölkerungsmehrheit trotz ihrer nach wie vor unleugbaren vehementen zionistischen Verstrickung sich kulturell mehr und mehr ihrer arabischen Umgebung anpasst, leben dort gleichzeitig ultraorthodoxe Gruppen nach jahrhundertealten religiösen Vorschriften, wie sie der isolationistische Mikrokosmos des osteuropäischen Schtetl hervorgebracht hat. Ausgerechnet diese streng religiösen Gemeinden, deren Sprache bis heute Jiddisch ist und die in ihren archaisch scheinenden Sitten und Gebräuchen eine ursprüngliche Idee vom Judentum bewahren, lehnen jene Institution, die sich selbst als wichtigste, ja gar als einzige ernst zu nehmende Bewahrerin jüdischer Kultur der Moderne betrachtet: den zionistischen Staat, mit ebenso viel Überzeugung wie Leidenschaft ab. 


In dieses ambivalente, exotisch scheinende Milieu wurde der israelische Lyriker Asher Reich 1937 als Sohn von osteuropäischen Einwanderern hineingeboren: im berühmten ultraorthodoxen Jerusalemer Viertel Mea Shearim wuchs er auf und erhielt dort eine traditionelle jüdische Erziehung, die neben der üblichen Schulbildung wie selbstverständlich auch ein intensives Studium der Thora sowie des Talmud umfasste. Auch wenn der Schöpfer zahlreicher leicht zugänglicher, teilweise preisgekrönter Lyrikbände (auf Deutsch: „Arbeiten auf Papier“, 1992) sich bald vom orthodoxen Judentum abwandte, Hebräische Literatur und Philosophie studierte und sogar ins weltliche Tel-Aviv „emigrierte“, sind viele seiner Gedichte unverkennbar im orthodoxen Judentum und in der intensiven Kenntnis der kulturellen Überlieferung sowie der religiösen Texte verwurzelt, woraus sie einen Großteil ihrer literarischen und philosophischen Spannung erhalten. Gleichzeitig ist uns der Weg der innerlichen Befreiung – von den Einschränkungen der Erziehung zum wahren Selbst – intuitiv so vertraut, dass er dem Leser als einzig folgerichtiger erscheinen muss. Dennoch gelingt es Asher Reich in seiner Lyrik geradezu bravourös, jüdisch-orthodoxe Motive zu bewahren, indem er sie der Prüfung durch die Realität der Moderne unterzieht:

Ich legte Geduld aus heute nacht wie ein Fischer sein Netz
Für jene, die ein Licht bemerken.
Eine Lache aus Wachs glänzt in der Frühe
Wie die Steckdose in der Wand; mit ihr
Wird der Sonnenfaden verbunden: das Licht unserer Seele.

(aus dem Gedicht „Stromausfall“; Übersetzung: Efrat Gal-Ed und Christoph Meckel)

In den zehn intensiven Erzählungen des soeben in deutscher Übersetzung erschienenen Bandes „Ein Mann mit einer Tür“ kehrt Asher Reich mit Hilfe seines Kindheits-Ichs nach Mea Shearim zurück und erinnert sich eindrücklich an eine traumverloren-entrückte archaische Welt, die – auch wenn der Autor selbst sie seit langem verlassen und innerlich überwunden hat – nahezu unverändert immer noch weiterexistiert – nicht nur in ihm selbst, als lebendige Erinnerung, sondern überall dort, wo Kinder in jüdisch-orthodoxe Lebenswelten hineingeboren werden, die augenscheinlich nicht der vorherrschenden Lebensrealität der Umgebung entsprechen. So gibt es in Reichs Erzählungen altväterischen Aberglauben zuhauf, moralische Engstirnigkeit, religiöse Verblendung und blindwütige Boshaftigkeit, aber auch echte lebensbejahende Spiritualität, mystischen Wunderglauben, Gottvertrauen gegen jede Vernunft und das größte Wunder von allen – die Liebe. Wir lernen eine durch ihre gemeinsamen religiösen Anschauungen gegenseitig und miteinander tief verbundene Gemeinschaft kennen, deren strenge Regeln nach Belieben zu erhöhen und auszugrenzen vermögen, die den Einzelnen nach Belieben zu bereichern vermag, solange er die Spielregeln befolgt – und die ihn erbarmungslos abstraft, wenn er das eigene Glück über das der Gemeinschaft stellt.

Es kann Asher Reich freilich nicht gelingen, die großen Fußstapfen von Schriftstellern wie Isaak Baschewis Singer (1902-1991), dessen Bruder Israel Joschua Singer (1893-1944) oder von Scholem Alejchem (1859-1916) auszufüllen, deren Romane und Erzählungen die Welt des traditionellen orthodoxen Judentums so kongenial abbildeten. In manchen Geschichten irritiert die herzlos scheinende Passivität des Erzählers, der immer wieder freimütig bekennt, nie nachgefragt zu haben, was aus seinem hochbegabten Jugendfreund Leibale geworden ist, einem für die Ergründung der Geheimnisse der Kabbala gleichsam geborenen, früh erwachsen gewordenen Albino, was aus den elenden, von ihrer eigenen Mutter verratenen Schwestern Bracha und Rivka oder aus seiner unvergessenen wunderschönen Jugendliebe Schoschana, der geheimnisvollen „Hindin der Morgenröte“: „Meine ganze Kindheit und Jugend hindurch sehnte ich mich nach der schönen Schoschana, konnte sie ganz und gar nicht vergessen. [...] Ihre Gestalt schimmerte mir vor Augen wie ein ofenfrisches Sabbatbrot.“

Auch wenn es Asher Reich nicht vollends gelingt, die unverwechselbare poetische Sprache seiner Lyrik auf seine Erzählungen zu übertragen, vermag er dennoch beispielhaft, eine ganze Welt vor den Augen des staunenden Lesers auferstehen zu lassen, die ihm auf den ersten Blick allzu fremd erscheinen muss, um sich ihr anders als auf literarischem Wege nähern zu können – und deren Protagonisten er uns dennoch so nahe bringt, wie es nur ein begabter Poet und Schriftsteller vermag. Hierin erweist sich Asher Reich am Ende seiner Lebensspanne unverhofft doch noch als kabbalistischer Meister, indem er Leben in Poesie verwandelt.

„Ein Mann mit einer Tür“, aus dem Hebräischen von Ruth Achlama, erschienen bei S. Fischer, 301 Seiten, € 19,99

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