Jerusalem

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Dienstag, 27. November 2012

Chanukka-Geld, Teil 1 – Jon Vaillant



Gegen Ende des Jahres, wenn die Nächte immer länger werden und das allgegenwärtige Dunkel uns zu bedrücken beginnt, feiern mit Judentum, Christentum und Hinduismus drei große Weltreligionen ihre traditionellen Lichterfeste. Chanukka, Weihnachten und Diwali versetzen uns nicht nur als Mitglieder unserer sozialer Gemeinschaften in erwartungsvolle Geschäftigkeit, sondern auch als Konsumenten. Manch einer mag insgeheim sogar auf die verheißene spirituelle Erleuchtung hoffen. Das antike Chanukka-Wunder im Jerusalemer Tempel ließ das ewige Licht sieben Tage länger brennen als die übrig gebliebene kümmerliche Ration geweihten Öls erhoffen ließ. Aus der Vielzahl an Buch-Neuerscherscheinungen des zurückliegenden Jahres, habe ich analog zu diesem Wunder sieben Bücher des Jahres ausgewählt, deren inneres Licht im Geiste des Lesers gleichermaßen lang zu leuchten vermag. Bücher sind immer ein Geschenk – und ein Lichtwunder, das man sich mühelos selbst zünden kann.

"Am Ende der Wildnis" von John Vaillant

 Es war nicht das erste Mal, dass der eigenbrötlerische kanadische Forstingenieur und kernige Naturbursche Grant Hadwin über Wochen spurlos in der Wildnis verschwand. Beim ersten Mal, im Frühling 1993, hatte er in der Einöde Alaskas im psychischen Ausnahmezustand ein spirituelles Erweckungserlebnis gehabt, das ihn mit einem ebenso umfassenden wie radikalen selbst verfassten politischen Manifest zurückkehren ließ, in dem er zahlreiche allgemein unleugbare bittere Wahrheiten über das Verhältnis des Menschen zur Natur darlegte, das aber in dieser irritierend-weltentrückten Form auch im Nachlass jedes nationalistischen Terroristen und Selbstmordattentäters nicht weiter überraschen würde:

Ich frage dich: Wenn du die Macht besäßest, alles zu erschaffen, einschließlich des Lebens, und wenn du alles, was du erschaffen hast, perfekt aufeinander abstimmen könntest, was würdest du dann tun, wenn eine Lebensform ganz offensichtlich alles Leben missbraucht, einschließlich des eigenen?
Wenn die ursprüngliche 'Absicht' deiner Schöpfung ganz offensichtlich ins Gegenteil verkehrt würde, von 'Respekt' in Hass, von Mitgefühl in Unterdrückung, von Großzügigkeit in Habgier und von Würde in Schändung, was würdest du tun?

Wie würdest du den Menschen klarmachen, dass materielle Versuchungen, Sozialstatus und Bildungsstätten dazu benutzt werden, den Status quo zu erhalten und fortzuschreiben, und zwar unter verschwindend geringer echter Rücksichtnahme auf die Zukunft des Lebens auf unserer Erde?

Wie würdest du als der „SCHÖPFER DES LEBENS“ deine Verachtung und deinen Widerwillen gegenüber solchen Institutionen und Individuen zeigen, deren Aufgabe es eigentlich sein sollte, Leben zu schützen, die aber offenbar stattdessen etwas ganz anderes tun?“



Beim zweiten Mal war er vom hoffnungslos fehlgeleiteten Wunsch getrieben, ein für die ganze Menschheit nicht zu übersehendes Zeichen gegen die Vernichtung der letzten Urwälder der Erde zu setzen – in einer stürmischen Winternacht im Januar 1997 machte er sich mit seiner Motorsäge auf, um die in ganz Kanada berühmte „Goldene Fichte“, den jahrhundertealten, durch Spontanmutation tatsächlich mit einem goldenen Nadelkleid ausgestatteten heiligen Baum des indigenen Volks der Haida in British Columbia anzusägen, so dass sie unweigerlich innerhalb der nächsten Tage im Sturm fallen musste.

Diese selbst wohlmeinendsten Umweltschützern schwer zu vermittelnde Untat, machte ihn nicht nur zum meistgehassten Mann Kanadas, sondern auch zum meistgesuchten: Sogar öffentliche Mordaufrufe gab es, die Grant Hadwin schließlich dazu bewogen, sich der Polizei zu stellen.

Sein drittes Verschwinden hält bis heute an und wird sich vermutlich als endgültig erweisen: Am 13. Februar 1997 stach Grant Hadwin mit seinem Kajak in See, um ordnungsgemäß zu seiner Gerichtsverhandlung in Masset zu erscheinen. Dort jedoch tauchte er niemals auf; das Wrack seines Kajaks wurde im Sommer desselben Jahres fast 120 Kilometer weitab zufällig von einem Hubschrauberpiloten in der Wildnis gefunden. Da Hadwin selbst bei den einheimischen Indianern auf geradezu mythische Weise als Experte für spurloses Verschwinden galt, gab es nicht wenige, die argwöhnten, er habe seinen Tod nur vorgetäuscht, um unerkannt in den unbewohnten Wäldern zu leben.

„Wie Billy the Kid oder Scarlet Pimpernel schien er die Fähigkeit zu besitzen, jederzeit und überall auftauchen zu können.“

Wer die Bücher von Jon Krakauer liebt, wird John Vaillant verehren: Selten hat man in den letzten Jahren das ungetrübte literarische Vergnügen gehabt, derart kunstvolle und gleichzeitig mitreißende Landschaftsbeschreibungen lesen zu dürfen. Wie in seinem späteren, jedoch in deutscher Sprache früher erschienenen Bestseller „Der Tiger“ über den spektakulären tödlichen Rachefeldzugs eines sibirischen Tigers am in seinen Lebensraum eingedrungenen Menschen nähert sich John Vaillant dem Protagonisten seines „neuen“ ersten Buches sowie dessen vielschichtigen Beweggründen von allen erdenklichen Seiten und schafft so eine fesselnde Charakterstudie eines im Guten wie im Bösen gleichermaßen von seinen Überzeugungen Getriebenen.

„Am Ende der Wildnis“, aus dem Amerikanischen von Teja Schwaner, erschienen bei Blessing, 367 Seiten, € 19,95

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