Gegen Ende
des Jahres, wenn die Nächte immer länger werden und das allgegenwärtige Dunkel
uns zu bedrücken beginnt, feiern mit Judentum, Christentum und Hinduismus drei
große Weltreligionen ihre traditionellen Lichterfeste. Chanukka, Weihnachten
und Diwali versetzen uns nicht nur als Mitglieder unserer sozialer Gemeinschaften
in erwartungsvolle Geschäftigkeit, sondern auch als Konsumenten. Manch einer
mag insgeheim sogar auf die verheißene spirituelle Erleuchtung hoffen. Das
antike Chanukka-Wunder im Jerusalemer Tempel ließ das ewige Licht sieben Tage
länger brennen als die übrig gebliebene kümmerliche Ration geweihten Öls
erhoffen ließ. Aus der Vielzahl an Buch-Neuerscherscheinungen des
zurückliegenden Jahres, habe ich analog zu diesem Wunder sieben Bücher des
Jahres ausgewählt, deren inneres Licht im Geiste des Lesers gleichermaßen lang
zu leuchten vermag. Bücher sind immer ein Geschenk – und ein Lichtwunder, das
man sich mühelos selbst zünden kann.
"Am Ende der Wildnis" von John Vaillant
Es war nicht das
erste Mal, dass der eigenbrötlerische kanadische Forstingenieur und kernige
Naturbursche Grant Hadwin über Wochen spurlos in der Wildnis verschwand. Beim
ersten Mal, im Frühling 1993, hatte er in der Einöde Alaskas im psychischen
Ausnahmezustand ein spirituelles Erweckungserlebnis gehabt, das ihn mit einem
ebenso umfassenden wie radikalen selbst verfassten politischen Manifest
zurückkehren ließ, in dem er zahlreiche allgemein unleugbare bittere Wahrheiten
über das Verhältnis des Menschen zur Natur darlegte, das aber in dieser
irritierend-weltentrückten Form auch im Nachlass jedes nationalistischen Terroristen
und Selbstmordattentäters nicht weiter überraschen würde:
„Ich frage dich: Wenn du die Macht
besäßest, alles zu erschaffen, einschließlich des Lebens, und wenn du alles,
was du erschaffen hast, perfekt aufeinander abstimmen könntest, was würdest du
dann tun, wenn eine Lebensform ganz offensichtlich alles Leben missbraucht,
einschließlich des eigenen?
Wenn die
ursprüngliche 'Absicht' deiner Schöpfung ganz offensichtlich ins Gegenteil
verkehrt würde, von 'Respekt' in Hass, von Mitgefühl in Unterdrückung, von
Großzügigkeit in Habgier und von Würde in Schändung, was würdest du tun?
Wie würdest
du den Menschen klarmachen, dass materielle Versuchungen, Sozialstatus und
Bildungsstätten dazu benutzt werden, den Status quo zu erhalten und
fortzuschreiben, und zwar unter verschwindend geringer echter Rücksichtnahme
auf die Zukunft des Lebens auf unserer Erde?
Wie würdest
du als der „SCHÖPFER DES LEBENS“ deine Verachtung und deinen Widerwillen
gegenüber solchen Institutionen und Individuen zeigen, deren Aufgabe es
eigentlich sein sollte, Leben zu schützen, die aber offenbar stattdessen etwas
ganz anderes tun?“
Beim zweiten Mal
war er vom hoffnungslos fehlgeleiteten Wunsch getrieben, ein für die ganze
Menschheit nicht zu übersehendes Zeichen gegen die Vernichtung der letzten
Urwälder der Erde zu setzen – in einer stürmischen Winternacht im Januar 1997
machte er sich mit seiner Motorsäge auf, um die in ganz Kanada berühmte
„Goldene Fichte“, den jahrhundertealten, durch Spontanmutation tatsächlich mit
einem goldenen Nadelkleid ausgestatteten heiligen Baum des indigenen Volks der
Haida in British Columbia anzusägen, so dass sie unweigerlich innerhalb der
nächsten Tage im Sturm fallen musste.
Diese selbst
wohlmeinendsten Umweltschützern schwer zu vermittelnde Untat, machte ihn nicht
nur zum meistgehassten Mann Kanadas, sondern auch zum meistgesuchten: Sogar
öffentliche Mordaufrufe gab es, die Grant Hadwin schließlich dazu bewogen, sich
der Polizei zu stellen.
Sein drittes
Verschwinden hält bis heute an und wird sich vermutlich als endgültig erweisen:
Am 13. Februar 1997 stach Grant Hadwin mit seinem Kajak in See, um
ordnungsgemäß zu seiner Gerichtsverhandlung in Masset zu erscheinen. Dort
jedoch tauchte er niemals auf; das Wrack seines Kajaks wurde im Sommer desselben
Jahres fast 120 Kilometer weitab zufällig von einem Hubschrauberpiloten in der
Wildnis gefunden. Da Hadwin selbst bei den einheimischen Indianern auf geradezu
mythische Weise als Experte für spurloses Verschwinden galt, gab es nicht
wenige, die argwöhnten, er habe seinen Tod nur vorgetäuscht, um unerkannt in
den unbewohnten Wäldern zu leben.
„Wie Billy the Kid oder Scarlet Pimpernel schien er die
Fähigkeit zu besitzen, jederzeit und überall auftauchen zu können.“
Wer die Bücher von Jon Krakauer liebt, wird John Vaillant
verehren: Selten hat man in den letzten Jahren das ungetrübte literarische
Vergnügen gehabt, derart kunstvolle und gleichzeitig mitreißende
Landschaftsbeschreibungen lesen zu dürfen. Wie in seinem späteren, jedoch in
deutscher Sprache früher erschienenen Bestseller „Der Tiger“ über den
spektakulären tödlichen Rachefeldzugs eines sibirischen Tigers am in seinen
Lebensraum eingedrungenen Menschen nähert sich John Vaillant dem Protagonisten
seines „neuen“ ersten Buches sowie dessen vielschichtigen Beweggründen von
allen erdenklichen Seiten und schafft so eine fesselnde Charakterstudie eines
im Guten wie im Bösen gleichermaßen von seinen Überzeugungen Getriebenen.
„Am Ende der Wildnis“, aus dem Amerikanischen von Teja Schwaner, erschienen bei Blessing, 367 Seiten, € 19,95
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