Unter dem Titel
„Vorgefühl der nahen Nacht“ erschien Anfang letzten Jahres eine bemerkenswerte,
selten einfühlsame und kenntnisreiche literarisch-biografische Skizze des
französischen Schriftstellers Laurent Seksik über die letzten Tage von Stefan
Zweig und seiner jungen Ehefrau Lotte im brasilianischen Exil. Angesichts der
ideellen und materiellen Zerstörung seiner geistigen Heimat Europa durch den
Nationalsozialismus und veranlasst von der von ihm als gleichsam unumkehrbares
Schlüsselereignis des Krieges wahrgenommenen Eroberung Singapurs durch
japanische Truppen hatte er gemeinsam mit seiner schwerkranken Frau in der
Nacht vom 22. auf den 23. Februar 1942 laut Abschiedsbrief „aus freiem
Willen und mit klaren Sinnen“ seinem Leben mit einer Überdosis Veronal im
Alter von sechzig Jahren ein unnötig frühes Ende gesetzt.
Schon 1925 hatte der
berühmte Schriftsteller in seinem Kleist-Essay „Der Kampf mit dem Dämon“ dessen
Mord an seiner kranken Geliebten und den anschließenden Selbstmord als
vorgebliches „Meisterwerk“ verklärt. Nun hat der begabte französische Zeichner Guillaume
Sorel gemeinsam mit Laurent Seksik als Texter dessen preisgekrönten Roman zu
einer großformatigen, mit elegischen Bildern von großer melancholischer
Schönheit aufwartenden, den Leser teils beeindruckenden, teils verstörenden
Graphic Novel verdichtet, die ihrerseits die in jeder Hinsicht endgültige
Sichtweise Stefan Zweigs auf das Tabuthema Selbstmord mit geradezu berückend
schönen farbigen Zeichnungen für den Betrachter auf kongeniale Art und Weise
„als wäre man an seiner Stelle“ erfahrbar macht.
Eine zentrale Szene in dem
aufwendig gestalteten Band „Die letzten Tage von Stefan Zweig“ ist eine kleine
Abendgesellschaft anlässlich von Zweigs sechzigstem Geburtstag, während der er
sein aus diesem Anlass verfasstes Gedicht „Abschied vom Leben“ rezitiert:
Vorgefühl des nahen Nachtens
es verstört nicht – es entschwert
reine Lust
des Weltbetrachtens
kennt nur, wer nichts mehr begehrt
Nicht mehr fragt, was
er erreichte
nicht mehr klagt, was er gemisst
und dem Altern nur der leichte
Anfang seines Abschieds ist.
Niemals glänzt der Ausblick freier
als im Glast
des Scheidelichts
nie liebt man das Leben treuer
als im Schatten des
Verzichts.
Tief verletzt und erschüttert verlässt die lebenslustige, fast
dreißig Jahre jüngere, jedoch schwer an Asthma erkrankte Charlotte die
Gesellschaft und beruhigt sich erst wieder, nachdem sie ihrem Mann das heilige
Versprechen abgerungen hat „zu leben“. Trotz niederschmetternder Nachrichten
aus Europa und aus dem Freundeskreis im Exil versucht das ungleiche Paar noch
einmal mit ganzer Kraft, sich im Dasein festzukrallen: gemeinsam besuchen sie
noch im Februar den Karneval in Rio, Inbegriff des unbeschwerten, rauschhaften
Lebens mit allen Sinnen. Doch für den in seiner Depression gefangenen Stefan
Zweig ist es der Tanz auf dem Vulkan – als die Nachricht eintrifft, dass
Singapur gefallen sei, verliert er jegliche Hoffnung.
So erweist sich der
„Abschied vom Leben“, wie er ihn im Gedicht literarisch überhöht hat, weniger
als lebenssatter Verzicht denn vielmehr als fatale Unfähigkeit, sich nicht nur
einer wenn auch welterfahrenen Idee vom Leben zu stellen, sondern dem Leben
selbst. Anders als viele seiner Schriftstellerkollegen im Exil musste Zweig
aufgrund seiner bemerkenswerten weltweiten Popularität keinerlei wirtschaftliche
Not leiden. Das Ende des Buches ist in seiner Beschwörung der romantischen
Liebe „Ich werde dich nie verlassen“ - „Ich werde über deine Seele wachen“
geradezu rührend. „Die letzten Tage von Stefan Zweig“ ist mit seinen
zahlreichen unvergesslichen Bildern und intensiven Szenen ein absolut
glänzendes Beispiel für die Möglichkeiten der dokumentarischen Graphic Novel.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.