Das
vermeintliche tropische Inselparadies Mauritius ist noch nicht allzu
oft ein ernstzunehmender literarischer Schauplatz jenseits des weiten
Feldes von im verlockend-unbekannten Reiz des Dunkel-Exotischen
schwelgenden Liebes- oder Abenteuerromanen gewesen. Dabei könnte
sowohl ihre faszinierende Geschichte in wechselndem kolonialem Besitz
und als berüchtigtes Seeräubernest, als auch ihre ursprünglich
weitgehend endemische Flora und Fauna sowie ihre multikulturelle
Bevölkerungszusammensetzung ein dankbares, vielschichtiges Thema für
große epische Romane sein.
Glücklicherweise
vermag jede Kultur immer wieder aus sich selbst heraus großartige
Schriftsteller hervorzubringen, denen es im besten Fall auch für ein
größeres Publikum gelingen kann, die Stimme ihrer kulturellen
Herkunft im Kanon der Weltliteratur hörbar zu machen. Hierfür
bedarf es aber manchmal eines oder aber gleich mehrerer Glücksfälle:
die 1973 auf Mauritius geborene frankophone Journalistin Nathacha
Appanah lebt seit 1998 in Frankreich und durfte bei ihrem
literarischen Debüt nicht zuletzt davon profitieren, dass ihr die
französische Sprache sowie der Verlagsstandort Paris einen größeren
Markt eröffneten als dies in ihrer Heimat mit einer der zahlreichen
anderen dort verbreiteten Sprachen möglich gewesen wäre.
In
deutscher Sprache erschien bereits im Jahr 2009 Appanahs großartiger,
in Frankreich vielfach ausgezeichneter Roman „Der letzte Bruder“,
der sich auf herzerreißend-schöne, melancholisch-tiefgreifende Art
und Weise mit einem kaum bekannten Thema in der Geschichte der Insel
Mauritius auseinandersetzt: der Internierung von Juden durch die
britische Kolonialmacht während der Zeit des Zweiten Weltkriegs: der
zehnjährige Aufsehersohn Raj lernt den gleichaltrigen Juden David
kennen und befreit diesen aus dem Gefängnis; bei der gemeinsamen
Flucht ereignet sich eine Tragödie, deren ganze Tragweite dem
Protagonisten erst am Ende seines Lebens vollkommen bewusst wird.
Der
kleine Schweizer Lenos Verlag, seit über vierzig Jahren eine der
ersten deutschsprachigen Adressen für Literatur aus dem arabischen
Kulturkreis, hat nun unter dem Titel „Blue Bay Palace“ einen
ersten Roman von Nathacha Appanah aus dem Jahr 2007 in einer
Taschenbuchausgabe neu herausgegeben, der bei seiner deutschen
Erstveröffentlichung von der Literaturkritik zwar äußerst
wohlwollend aufgenommen wurde, beim Publikum aber damals leider
völlig zu Unrecht keinerlei nennenswerte Resonanz erzielen konnte.
Dabei
erweist sich die Autorin bereits in diesem aufs Äußerste
verknappten, aber dennoch höchst intensiven, ganze Lebenswelten
eröffnenden kleinen Roman über eine unglückliche Liebe im Schatten
der Fassade des europäischen Wohlstandstourismus als große und
tiefgründige Erzählerin, die mit ihrem ungewöhnlich ausgeprägten
Gespür für die zahlreichen Widersprüche der menschlichen Seele so
überzeugende, lebensgesättigte und lebendige Charaktere zu
erschaffen vermag, dass wir uns selbst in deren äußerster Fremdheit
immer noch aufs Schmerzlich-Vertrauteste auch selbst wiederzuerkennen
vermögen.
Die
sechzehnjährige Maya ist in einer Elendssiedlung an der wilden
Südostküste der tropischen Insel aufgewachsen:
Blue
Bay ist der allerletzte Ort der Landzunge, der Ort, nach dem es nur
noch Meere und Ozeane gibt. Eine kümmerliche Strasse, asphaltiert,
doch von Schlaglöchern durchsetzt, führt durch Blue Bay hindurch
und spaltet es auch. Links verbergen ebenmässige grüne Bambushecken
schöne, in warmen Farben gehaltene Villen. Rechts, da wo die Strasse
leicht abschüssig ist, als würde sie sich senken, geben in
punktierten Linien gepflanzte Reihen von Roquettes, das sind diese
Kakteen mit dem tödlich wirkenden Saft, den Blick frei auf rostige
Blechhütten oder brüchige Backsteinbuden. Links die Reichen mit
Sicht auf den Ozean. Rechts die Armen, mit Sicht auf gar nichts
ausser ihresgleichen.
Anders
als die meisten der Gleichaltrigen, die sich bestenfalls als
Tagelöhner oder Prostituierte verdingen müssen, zum Teil der
Drogensucht, jedoch allesamt einer träge-letharischen
Hoffnungslosigkeit verfallen sind, scheint die lebenslustige Maya den
ersten Schritt in ein vielversprechendes, eigenverantwortliches Leben
geschafft zu haben: sie arbeitet als Rezeptionistin im nahegelegenen
Blue Bay Palace, einem luxuriösen Hotel, das mit dezenter Perfektion
reichen europäischen Touristen tropische Urlaubsträume erfüllt.
Als
sie beim alljährlichen Jahrmarkt ihren neuen Vorgesetzten, den
Hotelmanager Dave, kennenlernt und sich schnell eine
unleugbar-intensive, über jeden irdischen Zweifel erhaben scheinende
leidenschaftliche Liebe zwischen den beiden entwickelt, ist für Maya
die endgültige Erfüllung ihrer Lebensträume nur noch eine Frage
der Zeit. Umso schmerzhafter ihre bittere Erkenntnis nach mehr als
drei Jahren unbeschwerten Zusammenseins und gemeinsamen
Pläneschmiedens, dass der aus einer reichen Brahmanenfamilie
stammende Dave einer „standesgemäßen“ Heirat mit einer anderen
zugestimmt hat.
Maya,
ich möchte deinen Schmerz auslöschen, ich möchte, du hättest mich
nie kennengelernt, ich möchte dich heiraten, Kinder mit dir haben,
dich schlafen sehen, ich möchte an deiner Seite gehen und alle
Männer dieser Welt eifersüchtig machen, so schön, wie du bist, ich
möchte nach Hause kommen und wissen, dass du auf mich wartest, ich
möchte dich mit meinem Verlangen wecken, ich möchte mit dir im Meer
baden, mich im Schatten deines Körpers erfrischen, mich in deinem
langen Haar vergraben, weit weg fliehen mit dir [...].
Doch
trotz dieses ehrlichen emotionalen Bekenntnisses zu Maya und obwohl
sich die beiden Liebenden auch nach Daves traditioneller Heirat
weiterhin einmal wöchentlich in einem Stundenhotel zu
leidenschftlichem Sex treffen, schafft es Dave es nicht, sich den
starren Gesetzen der Tradition zu widersetzen. Als Maya endlich
beginnt, sich den selbstquälerischen Treffen zu verweigern und eine
neue Beziehung aufnimmt, empfindet sie endlich eine lange vermisste
Ahnung von innerer Ruhe. Dann jedoch erfährt ihr neuer Liebhaber von
der zerstörerisch-anhaltenden Natur von Mayas Beziehung zu Dave und
wirft die zu Tode Verletzte zurück in tiefste Unbewussheit und den
unkontrollierbaren Taumel rasender Wut.
In
ihrer literarischen Fiktion gestattet die mutig-versierte Autorin
ihrer Protagonistin den äußersten Gipfel des Aufbegehrens gegen die
bestehenden Verhältnisse, der jedoch in allzu bitterster Konsequenz
nur auf der poetischen Ebene einer umfassenden Befreiung gleichkommen
kann:
Ich
lasse mich mit ausgebreiteten Armen fallen, und am Himmel jagen die
Wolken. Man möchte meinen, sie suchen etwas. Den Regen vielleicht.
Die Sonne ist noch hinter mir. Rechts sehe ich das Hotel, und ich
weiss nicht, warum mich das so freut. Das Paradies ist immer noch da,
sage ich mir, und wiederhole das im Kopf, Das Paradies ist immer noch
da...
„Blue
Bay Palace“ ist ein ebenso beeindruckendes wie verstörendes
literarisches Dokument des Aufbegehrens, für das Nathacha Appanah im
Jahr 2004 völlig zu Recht mit dem Grand prix littéraire des
océans Indien et Pacifique ausgezeichnet wurde.
„Blue Pay Palace“, aus dem Französischen von Yla M. von Dach, erschienen
bei Lenos, 107 Seiten, € 9,95
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