Jerusalem

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Montag, 25. Februar 2013

„Blue Bay Palace“ von Nathacha Appanah


Das vermeintliche tropische Inselparadies Mauritius ist noch nicht allzu oft ein ernstzunehmender literarischer Schauplatz jenseits des weiten Feldes von im verlockend-unbekannten Reiz des Dunkel-Exotischen schwelgenden Liebes- oder Abenteuerromanen gewesen. Dabei könnte sowohl ihre faszinierende Geschichte in wechselndem kolonialem Besitz und als berüchtigtes Seeräubernest, als auch ihre ursprünglich weitgehend endemische Flora und Fauna sowie ihre multikulturelle Bevölkerungszusammensetzung ein dankbares, vielschichtiges Thema für große epische Romane sein.

Glücklicherweise vermag jede Kultur immer wieder aus sich selbst heraus großartige Schriftsteller hervorzubringen, denen es im besten Fall auch für ein größeres Publikum gelingen kann, die Stimme ihrer kulturellen Herkunft im Kanon der Weltliteratur hörbar zu machen. Hierfür bedarf es aber manchmal eines oder aber gleich mehrerer Glücksfälle: die 1973 auf Mauritius geborene frankophone Journalistin Nathacha Appanah lebt seit 1998 in Frankreich und durfte bei ihrem literarischen Debüt nicht zuletzt davon profitieren, dass ihr die französische Sprache sowie der Verlagsstandort Paris einen größeren Markt eröffneten als dies in ihrer Heimat mit einer der zahlreichen anderen dort verbreiteten Sprachen möglich gewesen wäre.

In deutscher Sprache erschien bereits im Jahr 2009 Appanahs großartiger, in Frankreich vielfach ausgezeichneter Roman „Der letzte Bruder“, der sich auf herzerreißend-schöne, melancholisch-tiefgreifende Art und Weise mit einem kaum bekannten Thema in der Geschichte der Insel Mauritius auseinandersetzt: der Internierung von Juden durch die britische Kolonialmacht während der Zeit des Zweiten Weltkriegs: der zehnjährige Aufsehersohn Raj lernt den gleichaltrigen Juden David kennen und befreit diesen aus dem Gefängnis; bei der gemeinsamen Flucht ereignet sich eine Tragödie, deren ganze Tragweite dem Protagonisten erst am Ende seines Lebens vollkommen bewusst wird.

Der kleine Schweizer Lenos Verlag, seit über vierzig Jahren eine der ersten deutschsprachigen Adressen für Literatur aus dem arabischen Kulturkreis, hat nun unter dem Titel „Blue Bay Palace“ einen ersten Roman von Nathacha Appanah aus dem Jahr 2007 in einer Taschenbuchausgabe neu herausgegeben, der bei seiner deutschen Erstveröffentlichung von der Literaturkritik zwar äußerst wohlwollend aufgenommen wurde, beim Publikum aber damals leider völlig zu Unrecht keinerlei nennenswerte Resonanz erzielen konnte.



Dabei erweist sich die Autorin bereits in diesem aufs Äußerste verknappten, aber dennoch höchst intensiven, ganze Lebenswelten eröffnenden kleinen Roman über eine unglückliche Liebe im Schatten der Fassade des europäischen Wohlstandstourismus als große und tiefgründige Erzählerin, die mit ihrem ungewöhnlich ausgeprägten Gespür für die zahlreichen Widersprüche der menschlichen Seele so überzeugende, lebensgesättigte und lebendige Charaktere zu erschaffen vermag, dass wir uns selbst in deren äußerster Fremdheit immer noch aufs Schmerzlich-Vertrauteste auch selbst wiederzuerkennen vermögen.

Die sechzehnjährige Maya ist in einer Elendssiedlung an der wilden Südostküste der tropischen Insel aufgewachsen:

Blue Bay ist der allerletzte Ort der Landzunge, der Ort, nach dem es nur noch Meere und Ozeane gibt. Eine kümmerliche Strasse, asphaltiert, doch von Schlaglöchern durchsetzt, führt durch Blue Bay hindurch und spaltet es auch. Links verbergen ebenmässige grüne Bambushecken schöne, in warmen Farben gehaltene Villen. Rechts, da wo die Strasse leicht abschüssig ist, als würde sie sich senken, geben in punktierten Linien gepflanzte Reihen von Roquettes, das sind diese Kakteen mit dem tödlich wirkenden Saft, den Blick frei auf rostige Blechhütten oder brüchige Backsteinbuden. Links die Reichen mit Sicht auf den Ozean. Rechts die Armen, mit Sicht auf gar nichts ausser ihresgleichen.

Anders als die meisten der Gleichaltrigen, die sich bestenfalls als Tagelöhner oder Prostituierte verdingen müssen, zum Teil der Drogensucht, jedoch allesamt einer träge-letharischen Hoffnungslosigkeit verfallen sind, scheint die lebenslustige Maya den ersten Schritt in ein vielversprechendes, eigenverantwortliches Leben geschafft zu haben: sie arbeitet als Rezeptionistin im nahegelegenen Blue Bay Palace, einem luxuriösen Hotel, das mit dezenter Perfektion reichen europäischen Touristen tropische Urlaubsträume erfüllt.

Als sie beim alljährlichen Jahrmarkt ihren neuen Vorgesetzten, den Hotelmanager Dave, kennenlernt und sich schnell eine unleugbar-intensive, über jeden irdischen Zweifel erhaben scheinende leidenschaftliche Liebe zwischen den beiden entwickelt, ist für Maya die endgültige Erfüllung ihrer Lebensträume nur noch eine Frage der Zeit. Umso schmerzhafter ihre bittere Erkenntnis nach mehr als drei Jahren unbeschwerten Zusammenseins und gemeinsamen Pläneschmiedens, dass der aus einer reichen Brahmanenfamilie stammende Dave einer „standesgemäßen“ Heirat mit einer anderen zugestimmt hat.

Maya, ich möchte deinen Schmerz auslöschen, ich möchte, du hättest mich nie kennengelernt, ich möchte dich heiraten, Kinder mit dir haben, dich schlafen sehen, ich möchte an deiner Seite gehen und alle Männer dieser Welt eifersüchtig machen, so schön, wie du bist, ich möchte nach Hause kommen und wissen, dass du auf mich wartest, ich möchte dich mit meinem Verlangen wecken, ich möchte mit dir im Meer baden, mich im Schatten deines Körpers erfrischen, mich in deinem langen Haar vergraben, weit weg fliehen mit dir [...].

Doch trotz dieses ehrlichen emotionalen Bekenntnisses zu Maya und obwohl sich die beiden Liebenden auch nach Daves traditioneller Heirat weiterhin einmal wöchentlich in einem Stundenhotel zu leidenschftlichem Sex treffen, schafft es Dave es nicht, sich den starren Gesetzen der Tradition zu widersetzen. Als Maya endlich beginnt, sich den selbstquälerischen Treffen zu verweigern und eine neue Beziehung aufnimmt, empfindet sie endlich eine lange vermisste Ahnung von innerer Ruhe. Dann jedoch erfährt ihr neuer Liebhaber von der zerstörerisch-anhaltenden Natur von Mayas Beziehung zu Dave und wirft die zu Tode Verletzte zurück in tiefste Unbewussheit und den unkontrollierbaren Taumel rasender Wut.

In ihrer literarischen Fiktion gestattet die mutig-versierte Autorin ihrer Protagonistin den äußersten Gipfel des Aufbegehrens gegen die bestehenden Verhältnisse, der jedoch in allzu bitterster Konsequenz nur auf der poetischen Ebene einer umfassenden Befreiung gleichkommen kann:

Ich lasse mich mit ausgebreiteten Armen fallen, und am Himmel jagen die Wolken. Man möchte meinen, sie suchen etwas. Den Regen vielleicht. Die Sonne ist noch hinter mir. Rechts sehe ich das Hotel, und ich weiss nicht, warum mich das so freut. Das Paradies ist immer noch da, sage ich mir, und wiederhole das im Kopf, Das Paradies ist immer noch da...

„Blue Bay Palace“ ist ein ebenso beeindruckendes wie verstörendes literarisches Dokument des Aufbegehrens, für das Nathacha Appanah im Jahr 2004 völlig zu Recht mit dem Grand prix littéraire des océans Indien et Pacifique ausgezeichnet wurde.

„Blue Pay Palace“, aus dem Französischen von Yla M. von Dach, erschienen bei Lenos, 107 Seiten, € 9,95

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