Religiöser
Fundamentalismus kann für den Einzelnen – sofern er diese Wahl
wirklich aus freien Stücken trifft und sich der daraus ergebenden
Konsequenzen bewusst ist sowie diese vorbehaltlos annimmt –
durchaus eine wesentliche spirituelle Bereicherung sein und sich
somit auch als guter, sinnvoller individueller Lebensweg erweisen,
wenn er denn zu innerem, idealerweise auch äußerem Frieden führt.
Der Schrecken gelebten Fundamentalismus', ganz gleich welcher
konfessioneller Ausrichtung, ergibt sich immer erst aus den
Auswirkungen auf Außenstehende oder den erheblichen Einschränkungen,
die diese durch die rücksichtslose Ausübung desselben ausgesetzt
werden.
In den
kulturell und wirtschaftlich hoch entwickelten, jedoch ökonomisch
tief verunsicherten, latent fremdenfeindlichen westlichen
Gesellschaften gilt religiöser Fundamentalismus seit Jahrhunderten
als ausgemachtes Feindbild, strenge, gesetzlich fest verankerte
Einschränkungen gelten hier völlig zu Recht dem der Gesellschaft
zumutbaren Ausmaß der jeweiligen praktischen Religionsausübung.
Auf
dem deutschen Buchmarkt ist das sogenannte Genre der
„Erfahrungsberichte“ seit Jahren ungebrochen populär: „Nicht
ohne meine Tochter“, „Die weisse Massai“ - nur zwei
erfolgreiche Bestseller der letzten dreißig Jahre, die den Weg einer
außer Kontrolle gelaufenen, einstmals romantisch-naiven
bi-kulturellen Liebesbeziehung zum unwägbaren zwischenmenschlichen
Horrortrip als reißerisch-identitätsstiftende Achterbahnfahrt durch
die zwangsläufigen Untiefen kultureller Unterschiede gestalten.
Nicht
erst seit dem 9. September 2011 wird in der öffentlichen Wahrnehmung
jedoch fast ausschließlich islamistischer Fundamentalismus
problematisiert, obwohl gleichartige sektiererische Tendenzen auch in
anderen Religionen, esoterischen Zirkeln, politischen Parteien,
mitunter sogar in gänzlich harmlos scheinenden
Gesellschaftsbereichen zum Problem werden können.
Dass
jüdisch-orthodoxer Fundamentalismus in der deutschen Öffentlichkeit
nicht kontrovers diskutiert wird, hat allerdings gute Gründe; nicht
nur verbietet sich eine unnötige Problematisierung aufgrund der
deutschen Vergangenheit ganz von allein, vor allem stellt er aufgrund
der übergeordneten deutschen säkularen Rechtsordnung keine
öffentliche Gefahr dar, auch wenn während der absurden
Beschneidungs-Debatte im vergangenen Jahr von einzelnen Stimmen aus
Medien und Politik diese Auffassung vermittelt wurde, sondern darf
sich völlig zu Recht des guten Grundsatzes der persönlichen
Religionsfreiheit erfreuen.
Die
Schweizerin Isabelle Neulinger berichtet in ihrem soeben erschienenen
spannenden Buch „Meinen Sohn bekommt ihr nie“ von ihrer
Emigration nach Israel im Jahr 1999, ihrer dortigen Liebesheirat und
der graduellen, schmerzhaften Entfremdung von ihrem israelischen Mann
nach dessen religiösem Erweckungserlebnis und den damit
eingergehenden massiven Persönlichkeitsveränderungen, insbesondere
aber von ihren langjährigen spektakulären Gerichtsprozessen, die
sie – letztlich erfolgreich vor der höchsten europäischen
Instanz: der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs – nach
der eigenhändigen Entführung ihres gemeinsamen Sohnes aus Israel zu
führen gezwungen war.
Nach
dem frühen Tod ihres ersten Mannes war die Emigration nach Israel
eine Herzensangelegenheit für Isabelle Neulinger gewesen. In der
lebendigen, der Gegenwart aufs Äußerste zugewandten
elektrisierenden Atmosphäre von Tel-Aviv hoffte sie ein neues
unbeschwertes Leben anfangen zu können. Nachdem sie die Hürden der
berühmt-berüchtigten israelischen Bürokratie überwunden hatte,
gelang es ihr schnell, einen gut dotierten Job zu finden. Und nach
über einem Jahr Tür an Tür „funkte“ es plötzlich zwischen ihr
und ihrem israelischen Nachbarn, dem charmanten, theaterbegeisterten
Sportlehrer Shai.
Während
eines Ausflugs nach Galiläa arrangiert Shai eine kleine romantische
Zeremonie, an deren Ende er ihr einen Ring an den Zeigefinger der
rechten Hand steckt:
Ich
zweifle keinen Augenblick daran, dass es sich hier um eine
Verlobungsfeier handelt. Doch in Wirklichkeit hat Shai, ohne die
geringste Andeutung zu machen, alles für eine jüdische Hochzeit
arrangiert: die Chuppa, den Hochzeitsbaldachin, in Form des
Blechdachs, die Trauzeugen, den Ring, die Wahl des Tages. Gültigkeit
hat eine jüdische Heirat auch dann, wenn sie nicht von einem
Rabbiner vollzogen wird. Lediglich die Trauzeugen sind
vorgeschrieben. Ohne dass ich überhaupt begreife, was hier vor sich
geht, und ohne dass Shai mich um meine Zustimmung ersucht hätte, bin
ich nach jüdischem Recht seine Ehefrau geworden.
Zwar
holen die beiden die Hochzeit später noch offiziell nach, aber
bereits in dieser zunächst harmlos scheinenden Episode wird das
weitreichende Grundproblem deutlich, auf das die Autorin mit ihrem
die Fakten stets sachlich referierenden Buch mit aller Vehemenz
aufmerksam machen möchte: Familienrecht darf in einem modernen
säkularen Staat niemals und unter keinen Umständen religiösen
Instanzen überlassen werden. Aber genau das ist in Israel bis heute
der Fall: um im Zuge der Staatsgründung im Jahr 1948 eine breite
Basis zu schaffen, hatte man dieses in jeder Hinsicht unzeitgemäße
und fatale Zugeständnis dem ultrareligiösen, bis heute
antizionistisch eingestellten Lager gemacht.
Noch
aber führen Isabelle und Shai eine liebevolle, harmonische Beziehung
und dürfen sich über die Geburt ihres gesunden Sohnes Noam freuen.
Als Shai sich jedoch nach und nach vom an theologischen Fragen
Interessierten zum religiösen Eiferer und überzeugten Anhänger der
Lubawitscher Chassidim entwickelt und das Leben seiner lebenslustigen
Frau mehr und mehr einzuschränken beginnt, sieht diese in der
größten Not ihrer wachsend-schemrzhaften Selbstverleugnung nur noch
die Chance, hinter seinem Rücken die Scheidung zu betreiben.
Von
Respekt, Offenheit und Toleranz ist keine Rede mehr, und dass ich so
lebe, wie ich es für richtig halte, ist völlig ausgeschlossen. Mein
Mann diktiert mir pausenlos seine neuen Vorschriften. [..] Eines
Abends, als ich aus der Dusche komme, fährt er mich an „Zieh dir
was über.“ - „Bitte?“, frage ich. - „Du hast mich schon
verstanden. Das ist kein passender Aufzug. Von jetzt an möchte ich,
dass du mir geziemend unter die Augen trittst.“ Ich denke, er
scherzt, und fange an zu lachen. Doch Shai verlässt wütend die
Wohnung, indem er die Tür zuknallt. Als er kurz darauf im Ehebett
nur mit dem Tzitzit, seinem Gebetsschaal, bekleidet
Annäherungsversuche unternimmt, kann ich mir das Lachen nicht
verkneifen. Diese Episode wird das Ende unserer intimen Beziehung
einläuten.
Isabelle
Neulingers anschließende nervenzehrende illegale Flucht mit ihrem
zweijährigen Sohn über die ägyptische Grenze ist nur scheinbar der
Höhepunkt des Buches. Denn die vermeintliche Sicherheit ihrer
Schweizer Heimat erweist sich als ausgesprochen trügerisch: zwar
wird dem israelischen Auslieferungsantrag in erster Instanz
widersprochen, alle anderen angerufenen Instanzen bis hoch zum
Europäischen Gerichtshof bestätigen diesen jedoch. Bei einer
Rückkehr nach Israel müsste die Autorin allerdings mit einer
Gefängnisstrafe von mindestens fünfzehn Jahren rechnen.
In
einer Nacht träume ich, dass ich mit meinem Sohn zum Baden in die
Türkei fliege. Als wir zum Anflug ansetzen, verkündet die
Flugbegleiterin jedoch, dass die Maschine in Tel Aviv landen werde.
Das ist ein abgekartetes Spiel, das Reisebüro steckt mit den
israelischen Behörden unter einer Decke, ich sitze in der Falle! Auf
dem Rollfeld warten Militärjeeps, doch statt Soldaten in Uniform
steigen ultraorthodoxe Juden aus und stürmen auf uns zu, um mich
festzunehmen und Noam fortzuschaffen. In diesem Moment erwache ich,
die Angst sitzt mir in allen Gliedern, mein Haar ist nassgeschwitzt.
Ich renne ins Kinderzimmer, wo Noam friedlich wie ein Engel schläft.
Dieses
Bild kindlichen Friedens, das um jeden Preis zu erhalten ist, bleibt
die wichtigste Motivation der verzweifelten Mutter während der
endlosen Jahre der Prozesse, niemals nachzulassen, keinerlei Kosten
zu scheuen und sämtliche legalen rechtlichen Mittel bis zum Ende
auszuschöpfen. Anders als die üblichen Erfahrungsberichte ist ihr
an Handlung ausgesprochen reiches, atemlos zu lesendes Buch ein
herausragendes Beispiel für objektive Augewogenheit in der
Darstellung der Fakten und in der trotz aller verständlichen
Betroffenheit neutralen Beurteilung der zu Grunde liegenden
Problemstellung. Isabelle Neulingers Buch ist ein großartiges,
flammendes Plädoyer für die strikte Trennung von Privat- und
Religionsangelegenheiten in allen Lebensbereichen.
„Meinen Sohn bekommt ihr nie – Flucht aus dem gelobten Land“, aus dem
Französischen von Ulrike Frank, erschienen bei Nagel & Kimche,
208 Seiten, € 17,90
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