Jerusalem

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Freitag, 15. Februar 2013

„Meinen Sohn bekommt ihr nie“ von Isabelle Neulinger

Religiöser Fundamentalismus kann für den Einzelnen – sofern er diese Wahl wirklich aus freien Stücken trifft und sich der daraus ergebenden Konsequenzen bewusst ist sowie diese vorbehaltlos annimmt – durchaus eine wesentliche spirituelle Bereicherung sein und sich somit auch als guter, sinnvoller individueller Lebensweg erweisen, wenn er denn zu innerem, idealerweise auch äußerem Frieden führt. Der Schrecken gelebten Fundamentalismus', ganz gleich welcher konfessioneller Ausrichtung, ergibt sich immer erst aus den Auswirkungen auf Außenstehende oder den erheblichen Einschränkungen, die diese durch die rücksichtslose Ausübung desselben ausgesetzt werden.

In den kulturell und wirtschaftlich hoch entwickelten, jedoch ökonomisch tief verunsicherten, latent fremdenfeindlichen westlichen Gesellschaften gilt religiöser Fundamentalismus seit Jahrhunderten als ausgemachtes Feindbild, strenge, gesetzlich fest verankerte Einschränkungen gelten hier völlig zu Recht dem der Gesellschaft zumutbaren Ausmaß der jeweiligen praktischen Religionsausübung.

Auf dem deutschen Buchmarkt ist das sogenannte Genre der „Erfahrungsberichte“ seit Jahren ungebrochen populär: „Nicht ohne meine Tochter“, „Die weisse Massai“ - nur zwei erfolgreiche Bestseller der letzten dreißig Jahre, die den Weg einer außer Kontrolle gelaufenen, einstmals romantisch-naiven bi-kulturellen Liebesbeziehung zum unwägbaren zwischenmenschlichen Horrortrip als reißerisch-identitätsstiftende Achterbahnfahrt durch die zwangsläufigen Untiefen kultureller Unterschiede gestalten.

Nicht erst seit dem 9. September 2011 wird in der öffentlichen Wahrnehmung jedoch fast ausschließlich islamistischer Fundamentalismus problematisiert, obwohl gleichartige sektiererische Tendenzen auch in anderen Religionen, esoterischen Zirkeln, politischen Parteien, mitunter sogar in gänzlich harmlos scheinenden Gesellschaftsbereichen zum Problem werden können.

Dass jüdisch-orthodoxer Fundamentalismus in der deutschen Öffentlichkeit nicht kontrovers diskutiert wird, hat allerdings gute Gründe; nicht nur verbietet sich eine unnötige Problematisierung aufgrund der deutschen Vergangenheit ganz von allein, vor allem stellt er aufgrund der übergeordneten deutschen säkularen Rechtsordnung keine öffentliche Gefahr dar, auch wenn während der absurden Beschneidungs-Debatte im vergangenen Jahr von einzelnen Stimmen aus Medien und Politik diese Auffassung vermittelt wurde, sondern darf sich völlig zu Recht des guten Grundsatzes der persönlichen Religionsfreiheit erfreuen.

Die Schweizerin Isabelle Neulinger berichtet in ihrem soeben erschienenen spannenden Buch „Meinen Sohn bekommt ihr nie“ von ihrer Emigration nach Israel im Jahr 1999, ihrer dortigen Liebesheirat und der graduellen, schmerzhaften Entfremdung von ihrem israelischen Mann nach dessen religiösem Erweckungserlebnis und den damit eingergehenden massiven Persönlichkeitsveränderungen, insbesondere aber von ihren langjährigen spektakulären Gerichtsprozessen, die sie – letztlich erfolgreich vor der höchsten europäischen Instanz: der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs – nach der eigenhändigen Entführung ihres gemeinsamen Sohnes aus Israel zu führen gezwungen war.



Nach dem frühen Tod ihres ersten Mannes war die Emigration nach Israel eine Herzensangelegenheit für Isabelle Neulinger gewesen. In der lebendigen, der Gegenwart aufs Äußerste zugewandten elektrisierenden Atmosphäre von Tel-Aviv hoffte sie ein neues unbeschwertes Leben anfangen zu können. Nachdem sie die Hürden der berühmt-berüchtigten israelischen Bürokratie überwunden hatte, gelang es ihr schnell, einen gut dotierten Job zu finden. Und nach über einem Jahr Tür an Tür „funkte“ es plötzlich zwischen ihr und ihrem israelischen Nachbarn, dem charmanten, theaterbegeisterten Sportlehrer Shai.

Während eines Ausflugs nach Galiläa arrangiert Shai eine kleine romantische Zeremonie, an deren Ende er ihr einen Ring an den Zeigefinger der rechten Hand steckt:

Ich zweifle keinen Augenblick daran, dass es sich hier um eine Verlobungsfeier handelt. Doch in Wirklichkeit hat Shai, ohne die geringste Andeutung zu machen, alles für eine jüdische Hochzeit arrangiert: die Chuppa, den Hochzeitsbaldachin, in Form des Blechdachs, die Trauzeugen, den Ring, die Wahl des Tages. Gültigkeit hat eine jüdische Heirat auch dann, wenn sie nicht von einem Rabbiner vollzogen wird. Lediglich die Trauzeugen sind vorgeschrieben. Ohne dass ich überhaupt begreife, was hier vor sich geht, und ohne dass Shai mich um meine Zustimmung ersucht hätte, bin ich nach jüdischem Recht seine Ehefrau geworden.

Zwar holen die beiden die Hochzeit später noch offiziell nach, aber bereits in dieser zunächst harmlos scheinenden Episode wird das weitreichende Grundproblem deutlich, auf das die Autorin mit ihrem die Fakten stets sachlich referierenden Buch mit aller Vehemenz aufmerksam machen möchte: Familienrecht darf in einem modernen säkularen Staat niemals und unter keinen Umständen religiösen Instanzen überlassen werden. Aber genau das ist in Israel bis heute der Fall: um im Zuge der Staatsgründung im Jahr 1948 eine breite Basis zu schaffen, hatte man dieses in jeder Hinsicht unzeitgemäße und fatale Zugeständnis dem ultrareligiösen, bis heute antizionistisch eingestellten Lager gemacht.

Noch aber führen Isabelle und Shai eine liebevolle, harmonische Beziehung und dürfen sich über die Geburt ihres gesunden Sohnes Noam freuen. Als Shai sich jedoch nach und nach vom an theologischen Fragen Interessierten zum religiösen Eiferer und überzeugten Anhänger der Lubawitscher Chassidim entwickelt und das Leben seiner lebenslustigen Frau mehr und mehr einzuschränken beginnt, sieht diese in der größten Not ihrer wachsend-schemrzhaften Selbstverleugnung nur noch die Chance, hinter seinem Rücken die Scheidung zu betreiben.

Von Respekt, Offenheit und Toleranz ist keine Rede mehr, und dass ich so lebe, wie ich es für richtig halte, ist völlig ausgeschlossen. Mein Mann diktiert mir pausenlos seine neuen Vorschriften. [..] Eines Abends, als ich aus der Dusche komme, fährt er mich an „Zieh dir was über.“ - „Bitte?“, frage ich. - „Du hast mich schon verstanden. Das ist kein passender Aufzug. Von jetzt an möchte ich, dass du mir geziemend unter die Augen trittst.“ Ich denke, er scherzt, und fange an zu lachen. Doch Shai verlässt wütend die Wohnung, indem er die Tür zuknallt. Als er kurz darauf im Ehebett nur mit dem Tzitzit, seinem Gebetsschaal, bekleidet Annäherungsversuche unternimmt, kann ich mir das Lachen nicht verkneifen. Diese Episode wird das Ende unserer intimen Beziehung einläuten.

Isabelle Neulingers anschließende nervenzehrende illegale Flucht mit ihrem zweijährigen Sohn über die ägyptische Grenze ist nur scheinbar der Höhepunkt des Buches. Denn die vermeintliche Sicherheit ihrer Schweizer Heimat erweist sich als ausgesprochen trügerisch: zwar wird dem israelischen Auslieferungsantrag in erster Instanz widersprochen, alle anderen angerufenen Instanzen bis hoch zum Europäischen Gerichtshof bestätigen diesen jedoch. Bei einer Rückkehr nach Israel müsste die Autorin allerdings mit einer Gefängnisstrafe von mindestens fünfzehn Jahren rechnen.

In einer Nacht träume ich, dass ich mit meinem Sohn zum Baden in die Türkei fliege. Als wir zum Anflug ansetzen, verkündet die Flugbegleiterin jedoch, dass die Maschine in Tel Aviv landen werde. Das ist ein abgekartetes Spiel, das Reisebüro steckt mit den israelischen Behörden unter einer Decke, ich sitze in der Falle! Auf dem Rollfeld warten Militärjeeps, doch statt Soldaten in Uniform steigen ultraorthodoxe Juden aus und stürmen auf uns zu, um mich festzunehmen und Noam fortzuschaffen. In diesem Moment erwache ich, die Angst sitzt mir in allen Gliedern, mein Haar ist nassgeschwitzt. Ich renne ins Kinderzimmer, wo Noam friedlich wie ein Engel schläft.

Dieses Bild kindlichen Friedens, das um jeden Preis zu erhalten ist, bleibt die wichtigste Motivation der verzweifelten Mutter während der endlosen Jahre der Prozesse, niemals nachzulassen, keinerlei Kosten zu scheuen und sämtliche legalen rechtlichen Mittel bis zum Ende auszuschöpfen. Anders als die üblichen Erfahrungsberichte ist ihr an Handlung ausgesprochen reiches, atemlos zu lesendes Buch ein herausragendes Beispiel für objektive Augewogenheit in der Darstellung der Fakten und in der trotz aller verständlichen Betroffenheit neutralen Beurteilung der zu Grunde liegenden Problemstellung. Isabelle Neulingers Buch ist ein großartiges, flammendes Plädoyer für die strikte Trennung von Privat- und Religionsangelegenheiten in allen Lebensbereichen.

„Meinen Sohn bekommt ihr nie – Flucht aus dem gelobten Land“, aus dem Französischen von Ulrike Frank, erschienen bei Nagel & Kimche, 208 Seiten, € 17,90

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