Einer
der sieben verschiedenen Icherzähler in Abbas Khiders neuem, atemlos
die Länder des Arabischen Frühlings an dessen noch kaum
vorauszuahnendem Vorabend durchquerenden Roman „Brief in die
Auberginenrepublik“, der einundvierzigjährige Kairoer Majed, setzt
sich in melancholischer Stimmung ins Kaffeehaus seines nach
viertägigem Verhör durch die ägyptische Geheimpolizei unter
ungeklärten Umständen verstorbenen Freundes, um Zeit bis zu seinem
nächsten Geschäftstermin zu überbrücken. Während er sich,
wehmütig seinen Tee schlürfend und Wasserpfeife rauchend, an seinen
lebenslangen engen Freund erinnert, fällt sein Blick auf die alte
Wanduhr:
Ich
muss lächeln, weil sie wie üblich die falsche Uhrzeit anzeigt. Sie
zeigt immer 17 Uhr. Ich schaue auf meine Armbanduhr: 13.20 Uhr
Doch
die zeitentrückte, immer wieder nur sieben Uhr schlagende
Kuckucksuhr im Cafe Phönix ist lediglich ein Symbol von vielen für
die außer Takt geratene Welt von der Abbas Khider in seinem Buch so
kenntnisreich und virtuos erzählt. Sein mittlerweile dritter Roman
ist ein furioser literarischer Kettenbrief: alle seine Protagonisten
sind auf irgendeine Art und Weise in den Transport illegaler Briefe
verwickelt, den ein findiger irakischer Geschäftsmann als
einträgliches Zusatzgeschäft für sich und seine zahlreichen
Geschäftspartner in den arabischen Ländern entdeckt hat.
Auch
Majed, Besitzer eines kleinen Reisebüros, verdient an jedem
erfolgreich weitergeleiteten Brief ein Viertel des hoffnungslos
überteuerten Portos in Gesamthöhe von 200 Dollar und garantiert
seinen Kunden, allesamt Exil-Irakern, dafür, dass deren Briefe nicht
durch die Hände der irakischen Militärzensur laufen werden. Während
Majed die lukrativen Geschäftsbedingungen erläutert und in seinem
Inneren die Beziehung zu seinem verstorbenen Freund Revue passieren
lässt, erfahren wir nicht nur gleichsam aus erster Hand und in
exemplarischer Kürze von den elenden Lebensbedingungen im Ägypten
der mittlerweile überwundenen Mubarak-Ära, sondern insbesondere
auch auf besonders unmittelbare und glaubwürdige Art und Weise, wie
sich die politischen Verhältnisse auf die eigentlichen „unbekannten“
Protagonisten der Weltgeschichte und späteren Helden der arabischen
Revolution auswirken.
Abbas
Khider lässt uns den Weg des Briefes über tausende von Kilometern
von seinem Absender, dem im libyschen Bengasi lebenden Bauarbeiter
und ehemaligen Studenten der Literaturwissenschaften Salim, über die
weiteren Stationen Ägypten und Jordanien bis an seinen finalen
Bestimmungsort Saddam City, Baghdad, Irak, mitverfolgen, wobei ihm
das absolut bewundernswerte Kunststück gelingt, uns dabei auf
unterhaltsamste Art und Weise tiefe Einblicke in die
unterschiedlichen Lebenswelten seiner Überbringer, Adressaten –
und letztlich auch seiner Zensuratoren zu gewähren: denn natürlich
weiß der irakische Geheimndienst längst vom großen internationalen
Geschäft mit den illegalen Briefen und hat zu deren lückenloser
Kontrolle bereits eine eigene Behörde eingerichtet.
Es ist
absolut bemerkenswert, wenn ein Schriftsteller, der in einer anderen
Sprache als seiner Muttersprache schreibt, diese so virtuos zu
verwenden in der Lage ist, dass jeder seiner Protagonisten für den
Leser deutlich erkennbar mit einem ganz eigenen, individuellen Ton
ausgestattet ist, der die unterschiedlichsten ihrer Affekte scheinbar
mühelos auszudrücken und zu tragen vermag. Genau dies gelingt Abbas
Khider auch in seinem neuen Buch wieder mit geradezu
traumwandlerisch-schwerelos scheinender Sicherheit; dabei erweist er
sich nach seinem großen Erfolg mit seinem zeitgleich nun auch als
Taschenbuch vorliegenden, von der Kritik gefeierten Roman „Die Orangen des Präsidenten“ als Meister des feinen poetischen
Mitgefühls und des stillen menschenfreundlichen Humors, der all
seine Figuren stets mit bedingungsloser, tröstlicher Sympathie
betrachtet.
Die
größte Herausforderung für den im Jahr 1996 selbst aus
„politischen Gründen“ im Irak zeitweise inhaftierten
Schriftsteller, geboren 1973 in Baghdad, war dabei zweifelsohne die
literarische Ausgestaltung der beiden mephistophelischen Täterfiguren
aus der SS-haften irakischen Militärmaschinerie, die die
unterschiedlichen Notsituationen ihrer zahlreichen Opfer skrupellos
zur persönlichen Bereicherung ausnutzen und dabei auch willentlich
über Leichen gehen, während auch sie privat dem Traum von einem
beschaulich-spießigen Familienleben huldigen.
Dass
Abbas Khider als ein dem arabischen Kulturraum zugehöriger
Schriftsteller in seinem dem Roman vorangestellten Motto ein Gedicht
von Rose Ausländer zitiert, sagt ebenso viel über das
ungewöhnlich ausgeprägte Sprachvermögen des Autors aus wie über
seine weltumarmende Philosophie, die absolut im modernen westlichen
Pluralismus des Internetzeitalters verankert ist, welcher stets mit
Verve die „guten Dinge“ aufzuspüren und herauszufiltern vermag
und sich mit aller Macht zu ihnen bekennt.
So
markiert der Autor mit seinem großartig-tiefgründig-unterhaltsamen
Roman gleichzeitig auch das bevorstehende Ende der maroden
totalitären arabischen Gesellschaften des Zwanzigsten Jahrhunderts
durch die Auswirkungen der technischen Revolution der
Internet-Kommunikation, welche nicht nur den herkömmlichen
Briefverkehr endlich obsolet machte, sondern schließlich auch als
unerlässliche Vorbedingung für die tatsächlichen menschengemachten
Revolutionen in Ägypten und Libyen dienen sollte: denn nur in einem
virtuellen Raum wie dem Internet konnten geheime Nachrichten
politischer wie amouröser Natur ihre Adressaten finden und ihr
Geheimnis bewahren.
Der
philosophierende Kaffehausbesucher Majed wird schließlich von einem
seiner Mitarbeiter unsanft aus seinen trüben Tagträumereien
gerissen:
„Herr,
Majed, du bist ja noch immer hier! Der Busfahrer wartet auf dich!“
„Wie
spät ist es?“
„17
Uhr.“
Ich
schaue auf die Kuckucksuhr und auf meine Armbanduhr. Beide zeigen 17
Uhr. „Was, bin ich seit Stunden hier? Machst du Witze? Ich habe nur
eine Tasse Tee getrunken!“ [...]
Ich
rufe den Kellner und verlange die Rechnung.
„Drei
Mal Wasserpfeife und sieben Gläser Tee. Das macht...“
„Moment,
sieben?“ Für jeden Kuckucksruf ein Glas? Ich wundere mich.
Ähnlich
ergeht es uns Lesern: die Zeit des Lesens verstreicht voller
Wunder...
„Brief in die Auberginenrepublik“, erschienen bei Edition Nautilus, 155
Seiten, € 18,-
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