Jerusalem

Jerusalem

Dienstag, 5. Februar 2013

„Wurde Amerika in der Antike entdeckt?“ von Hans Giffhorn

Ein heute fast vergessener Mythos über einen rätselhaften Exodus in der Antike, den zeitgenössische Schriftsteller immer wieder aufwarfen, betrifft den möglicherweise ungeklärten Verbleib eines Teils der mächtigen karthagischen Kriegs- und Handelsflotte nach der Eroberung und Zerstörung jenes einflussreichen phönizischen Stadtstaates an der Nordküste des heutigen Tunesiens durch seinen nach der absoluten Vorherrschaft im Mittelmeer strebenden römischen Reiches im Jahr 146 v. Chr. Wie historische Berichte von als zuverlässig eingestuften antiken Autoren nahelegen, verfolgte eine römische Expedition die Spuren der Flotte unmittelbar bis an die afrikanische Westküste, wo sie offenbar ohne Ergebnis abdrehen musste und nach Hause zurückkehrte.

Eine ebenso überraschende wie mutige Hypothese, jedoch gegründet auf zahlreiche, bei eingehender Betrachtung der bisherigen Fakten durchaus stichfest scheinende, in enger Zusammenarbeit von Wissenschaftlern unterschiedlichster Disziplinen aufgeworfener Indizien, hat nach mehr als fünfzehn Jahren intensiver Forschung der Hildesheimer Kulturwissenschaftler Hans Giffhorn aufgestellt. Da diese zugegeben sensationelle Hypothese an ein wissenschaftliches Tabu rührt, ist nicht nur ein großes Medienecho auf seine Veröffentlichung zu erwarten, sondern auch erbitterten Widerspruch aus der Fachwelt.



In der Tat wagt sich der Kulturwissenschaftler und renommierte Dokumentarfilmer (ARD, ZDF, arte) mit seiner erstaunlichen Theorie auf ein vielfach vermintes Gebiet vor, das sonst so begabte pseudowissenschaftliche Entertainer wie Erich von Däniken oder Johannes von Buttlar für sich reklamieren, die in ihren besten Momenten bestenfalls als Spezialisten für mutige Fragen gelten können, während sie überzeugende Antworten oder gar stichhaltige Beweise in aller Regel schuldig bleiben müssen. So hat Hans Giffhorn, wie er in seinem nun vorliegenden Buch mehrfach bekennt, im Verlauf seiner Forschungen sich selbst immer wieder zu widerlegen versucht und mit Rücksicht auf kulturelle oder politische Befindlichkeiten lange gezögert, seine bisherigen Ergebnisse zu veröffentlichen.

Diesen ursprünglichen wissenschaftlichen Geist merkt man seinem fesselnden, im renommierten Verlag C.H. Beck erschienenen Buch jederzeit an, auch wenn hierin Archäologie, Mythos und kriminalistischer Eifer eine komplizierte wechselseitige Verbindung miteinander eingehen, deren Grenzen zum Teil nur noch schwer auseinander zu halten sind, sobald man als Leser einmal Feuer gefangen hat – und Giffhorns Buch ist in der Tat eine äußerst spannende und geistig anregende, in hohem Maße inspirierende Lektüre. Darüber hinaus kann dieser wissenschaftlich „schwierige“ Befund für viele originäre archäologische Entdeckungen in der Wissenschaftsgeschichte gelten.

Wesentlicher Gegenstand der über fünfzehnjährigen intensiven Studien und Feldforschungen des Autors ist die selbst von einheimischen Wissenschaftlern bislang im systematischen Sinne weitgehend unerforscht gebliebene Chachapoya-Kultur Zentralperus. Diese etwa von der Zeitenwende bis kurz vor der Eroberung Südamerikas durch die spanischen Konquistadoren nachzuweisende frühe Hochkultur gibt der Wissenschaft mit ihren zahlreichen kulturellen Eigenheiten bis heute Rätsel auf. So berichten bereits Inka-Chronisten, dass die von ihnen erst nach jahrzehntelangem Kampf unterworfenen kriegerischen Chachapoya ungewöhnlich hellhäutig seien, zum Teil sogar rote oder blonde Haare trügen.

Als einzige Kultur Südamerikas bauten die Chachapoya runde Häuser aus Stein, ihre Festung Kuelap gehört zu den beeindruckendsten Großbauten des Kontinents, sie bedienten sich bei Kopfverletzungen einer besonders charakteristischen Art der Schädeltrepanation und auch ihre Hauptwaffe, die Steinschleuder, weist Eigenheiten auf, die in der gesamten Neuen Welt keinerlei Parallelen hat. Im Vergleich mit archäologischen Funden im europäischen Mittelmeerraum hat das Team von Hans Giffhorn jedoch sehr erstaunliche und ausgesprochen überraschende Übereinstimmungen mit verschiedenen antiken Völkern gefunden, die nachweislich zu den letzten verbliebenen Verbündeten der Karthager gehörten und traditionell als geübte Berufssoldaten jahrhundertelang in deren Sold standen.



Die angesichts der von uns heute vermuteten seefahrerischen Fähigkeiten der Antike nahezu unglaublich klingende Theorie, die Hans Giffhorn in seinem fesselnden Buch erzählt: nämlich die eines breit angelegten karthagischen Exodus an die Küste Brasiliens und die anschließende Besiedlung des peruanischen Kernlandes sowie Fortbestand dieser Kultur über hunderte von Jahren, ist – in literarischer Hinsicht – zuallererst eine großartige, absolut fesselnde Geschichte, die unsere Fantasie in einzigartiger Weise zu beflügeln vermag, weil sie unbewusst verschiedenste Formen mythischer Geschichtsauffassung und sogar antagonistische Kontinente auf wunderbar-tröstliche Art und Weise miteinander zu versöhnen scheint.

Dabei wendet sich Giffhorn vehement auch gegen rassistisch motivierte Theorien aus der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts, die eine Abstammung der Chachapoya von den Wikingern delirierten. Auch die aus ihrem indigenen Selbstverständnis verständlichen Vorbehalte südamerikanischer Wissenschaftler gegenüber möglichen präkolumbischen europäischen Kultureinflüssen behandelt der Autor mit dem dringend gebotenen Einfühlungsvermögen und großer politischer Sensibilität. Ob sich die zahlreichen von ihm präsentierten überzeugenden Indizien letztlich als tragfähig genug erweisen werden, um seine fantastische Theorie zu untermauern oder gar zu beweisen, kann nur weitere intensive Forschung vor Ort in Peru leisten. Eine großartige Geschichte ist dies allemal.

„Wurde Amerika in der Antike entdeckt?“, erschienen bei C.H. Beck, 288 Seiten, € 18,95

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.