Ein
heute fast vergessener Mythos über einen rätselhaften Exodus in der
Antike, den zeitgenössische Schriftsteller immer wieder aufwarfen,
betrifft den möglicherweise ungeklärten Verbleib eines Teils der
mächtigen karthagischen Kriegs- und Handelsflotte nach der Eroberung
und Zerstörung jenes einflussreichen phönizischen Stadtstaates an
der Nordküste des heutigen Tunesiens durch seinen nach der absoluten
Vorherrschaft im Mittelmeer strebenden römischen Reiches im Jahr 146
v. Chr. Wie historische Berichte von als zuverlässig eingestuften
antiken Autoren nahelegen, verfolgte eine römische Expedition die
Spuren der Flotte unmittelbar bis an die afrikanische Westküste, wo
sie offenbar ohne Ergebnis abdrehen musste und nach Hause
zurückkehrte.
Eine
ebenso überraschende wie mutige Hypothese, jedoch gegründet auf
zahlreiche, bei eingehender Betrachtung der bisherigen Fakten
durchaus stichfest scheinende, in enger Zusammenarbeit von
Wissenschaftlern unterschiedlichster Disziplinen aufgeworfener
Indizien, hat nach mehr als fünfzehn Jahren intensiver Forschung der
Hildesheimer Kulturwissenschaftler Hans Giffhorn aufgestellt. Da
diese zugegeben sensationelle Hypothese an ein wissenschaftliches
Tabu rührt, ist nicht nur ein großes Medienecho auf seine
Veröffentlichung zu erwarten, sondern auch erbitterten Widerspruch
aus der Fachwelt.
In der
Tat wagt sich der Kulturwissenschaftler und renommierte
Dokumentarfilmer (ARD, ZDF, arte) mit seiner erstaunlichen Theorie
auf ein vielfach vermintes Gebiet vor, das sonst so begabte
pseudowissenschaftliche Entertainer wie Erich von Däniken oder
Johannes von Buttlar für sich reklamieren, die in ihren besten
Momenten bestenfalls als Spezialisten für mutige Fragen gelten
können, während sie überzeugende Antworten oder gar stichhaltige
Beweise in aller Regel schuldig bleiben müssen. So hat Hans
Giffhorn, wie er in seinem nun vorliegenden Buch mehrfach bekennt, im
Verlauf seiner Forschungen sich selbst immer wieder zu widerlegen
versucht und mit Rücksicht auf kulturelle oder politische
Befindlichkeiten lange gezögert, seine bisherigen Ergebnisse zu
veröffentlichen.
Diesen
ursprünglichen wissenschaftlichen Geist merkt man seinem fesselnden,
im renommierten Verlag C.H. Beck erschienenen Buch jederzeit an, auch
wenn hierin Archäologie, Mythos und kriminalistischer Eifer eine
komplizierte wechselseitige Verbindung miteinander eingehen, deren
Grenzen zum Teil nur noch schwer auseinander zu halten sind, sobald
man als Leser einmal Feuer gefangen hat – und Giffhorns Buch ist in
der Tat eine äußerst spannende und geistig anregende, in hohem Maße
inspirierende Lektüre. Darüber hinaus kann dieser wissenschaftlich
„schwierige“ Befund für viele originäre archäologische
Entdeckungen in der Wissenschaftsgeschichte gelten.
Wesentlicher
Gegenstand der über fünfzehnjährigen intensiven Studien und
Feldforschungen des Autors ist die selbst von einheimischen
Wissenschaftlern bislang im systematischen Sinne weitgehend
unerforscht gebliebene Chachapoya-Kultur Zentralperus. Diese etwa von
der Zeitenwende bis kurz vor der Eroberung Südamerikas durch die
spanischen Konquistadoren nachzuweisende frühe Hochkultur gibt der
Wissenschaft mit ihren zahlreichen kulturellen Eigenheiten bis heute
Rätsel auf. So berichten bereits Inka-Chronisten, dass die von ihnen
erst nach jahrzehntelangem Kampf unterworfenen kriegerischen
Chachapoya ungewöhnlich hellhäutig seien, zum Teil sogar rote oder
blonde Haare trügen.
Als
einzige Kultur Südamerikas bauten die Chachapoya runde Häuser aus
Stein, ihre Festung Kuelap gehört zu den beeindruckendsten
Großbauten des Kontinents, sie bedienten sich bei Kopfverletzungen
einer besonders charakteristischen Art der Schädeltrepanation und
auch ihre Hauptwaffe, die Steinschleuder, weist Eigenheiten auf, die
in der gesamten Neuen Welt keinerlei Parallelen hat. Im Vergleich mit
archäologischen Funden im europäischen Mittelmeerraum hat das Team
von Hans Giffhorn jedoch sehr erstaunliche und ausgesprochen
überraschende Übereinstimmungen mit verschiedenen antiken Völkern
gefunden, die nachweislich zu den letzten verbliebenen Verbündeten
der Karthager gehörten und traditionell als geübte Berufssoldaten
jahrhundertelang in deren Sold standen.
Die
angesichts der von uns heute vermuteten seefahrerischen Fähigkeiten
der Antike nahezu unglaublich klingende Theorie, die Hans Giffhorn in
seinem fesselnden Buch erzählt: nämlich die eines breit angelegten
karthagischen Exodus an die Küste Brasiliens und die anschließende
Besiedlung des peruanischen Kernlandes sowie Fortbestand dieser
Kultur über hunderte von Jahren, ist – in literarischer Hinsicht –
zuallererst eine großartige, absolut fesselnde Geschichte, die
unsere Fantasie in einzigartiger Weise zu beflügeln vermag, weil sie
unbewusst verschiedenste Formen mythischer Geschichtsauffassung und
sogar antagonistische Kontinente auf wunderbar-tröstliche Art und
Weise miteinander zu versöhnen scheint.
Dabei
wendet sich Giffhorn vehement auch gegen rassistisch motivierte
Theorien aus der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts, die
eine Abstammung der Chachapoya von den Wikingern delirierten. Auch
die aus ihrem indigenen Selbstverständnis verständlichen Vorbehalte
südamerikanischer Wissenschaftler gegenüber möglichen
präkolumbischen europäischen Kultureinflüssen behandelt der Autor
mit dem dringend gebotenen Einfühlungsvermögen und großer
politischer Sensibilität. Ob sich die zahlreichen von ihm
präsentierten überzeugenden Indizien letztlich als tragfähig genug
erweisen werden, um seine fantastische Theorie zu untermauern oder
gar zu beweisen, kann nur weitere intensive Forschung vor Ort in Peru
leisten. Eine großartige Geschichte ist dies allemal.
„Wurde Amerika in der Antike entdeckt?“, erschienen bei C.H. Beck, 288
Seiten, € 18,95
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