Jerusalem

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Sonntag, 10. Februar 2013

„Wanderungen in Palästina“ von Raja Shehadeh

Der Begriff der sarha umschreibt im Sprachgebrauch des palästinensischen Arabisch eine vornehmlich von jungen Männern unternommene ziellose Wanderung durch unberührte Natur, die manchmal nur wenige Stunden, in der Regel einen Tag, unter Umständen aber auch mehrere Wochen oder Monate dauern kann. „Auf eine sarha zu gehen bedeutet, nach Belieben umherzuschweifen, ohne Beschränkungen“, erläutert der palästinensische Menschenrechtsanwalt und Schriftsteller Raja Shehadeh, geboren 1951, in seinem großartigen, in Großbritannien mit dem renommierten Orwell-Preis für politisches Schreiben ausgezeichneten Buch „Wanderungen in Palästina“.

Ein Mann, der auf die sarha geht, wandert, [...] wohin ihn seine Stimmung treibt, um seine Seele zu nähren und sich zu regenerieren. Auf eine sarha zu gehen, bedeutet loszulassen. Es ist ein drogenfreier Höhenflug auf palästinensische Art.



Auch der Extrembergsteiger und lebenslange Abenteurer des Geistes Reinhold Messner beschreibt das einsame Wandern gern als vermutlich älteste Art der Meditation. Dass jedoch in einem Land wie Israel/Palästina unterwegs zwangsläufig auch über Politik meditiert werden muss, darf keinesfalls verwundern. Denn der für eine sarha charakteristische grenzen- und schrankenlose Charakter dieser Wanderung, im Einklang mit sich selbst und der Natur, ist im heutigen, von zahllosen Kontrollpunkten, Straßen und jüdischen Siedlungen zerschnittenen Palästina schon allein aus geopolitischen Gründen kaum noch möglich.

Als ich vor einem Vierteljahrhundert mit meinen Wanderungen durch die Hügel Palästinas begann, war ich mir nicht im Klaren darüber, dass ich durch eine verschwindende Landschaft reiste. Die Hügel waren damals ein einziges großes Naturreservat von einer unberührten Pracht und Freiheit, wie sie solchen Gegenden eigen ist. Sie waren für mich immer so etwas wie mein Privatgarten, sei es für Spaziergänge, Picknicks oder Ausflüge zum Blumenpflücken. Ich habe die Veränderung ihrer Farben sowohl während der verschiedenen Tages- und Jahreszeiten als auch während der endlosen Abfolge der Kriege beobachtet.

 Neben zauberhaften Beschreibungen der besonders im Frühling berückend schönen Natur des Landes, wird Shehadeh inhaltlich immer wieder auf die ernüchternden Folgen der israelischen Siedlungspolitik zurückgeworfen, die er, wie er unumwunden zugibt, von ganzem Herzen verachtet. Seine auch in der Chronologie letzte Wanderung des Buches unternahm der Autor im Jahr 2006 – mittlerweile war es gänzlich unmöglich geworden, einfach drauflos zu laufen, erstmals musste der bereits seit 1967 engagierte Verfechter einer Zweistaatenlösung eine topografische Karte zur Hilfe nehmen, um eine gangbare Route ausarbeiten zu können.

Unterwegs trifft er auf einen etwa fünfundzwanzigjährigen israelischen Siedler, der in der Abgeschiedenheit der Natur aus einer Wasserpfeife Haschisch raucht. In der sich unwillkürlich entwickelnden, zunehmend hitzig und unversöhnlich geführten Grundsatzdiskussion zwischen den beiden entlarvt Shehadeh geradezu beispielhaft die ganze Absurdität und Ausweglosigkeit des politischen Status Quo und beklagt die traurige Perspektivlosigkeit beider Völker.

Als alles gesagt scheint und die Positionen umso unvereinbarer, lenkt der Siedler ein und lädt den sich bereits abwendenden Shehadeh zum gemeinsamen Rauchen ein. So schließt das Buch mit einem wunderbaren Moment vorläufigen, höchst zerbrechlichen Friedens:

Ich war mir völlig im Klaren über die sich abzeichnende Tragödie und den Krieg, die uns beide bevorstanden. Aber jetzt konnten wir beide hier für eine kurze Atempause zusammensitzen, eine nergile rauchen, vorübergehend verbunden in unserer beidseitigen Liebe zu diesem Land.  In der Ferne waren Schüsse zu hören, die uns beide schaudern ließen.

„Wanderungen inPalästina“, aus dem Englischen von Jürgen Heiser, erschienen im Unionsverlag, 251 Seiten, € 9,90

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