Der Begriff der sarha
umschreibt im Sprachgebrauch des palästinensischen Arabisch eine vornehmlich
von jungen Männern unternommene ziellose Wanderung durch unberührte Natur, die
manchmal nur wenige Stunden, in der Regel einen Tag, unter Umständen aber auch
mehrere Wochen oder Monate dauern kann. „Auf eine sarha zu gehen
bedeutet, nach Belieben umherzuschweifen, ohne Beschränkungen“, erläutert der
palästinensische Menschenrechtsanwalt und Schriftsteller Raja Shehadeh, geboren
1951, in seinem großartigen, in Großbritannien mit dem renommierten
Orwell-Preis für politisches Schreiben ausgezeichneten Buch „Wanderungen in
Palästina“.
Ein Mann, der auf die sarha
geht, wandert, [...] wohin ihn seine Stimmung treibt, um seine Seele zu nähren
und sich zu regenerieren. Auf eine sarha
zu gehen, bedeutet loszulassen. Es ist ein drogenfreier Höhenflug auf
palästinensische Art.
Auch der
Extrembergsteiger und lebenslange Abenteurer des Geistes Reinhold Messner
beschreibt das einsame Wandern gern als vermutlich älteste Art der Meditation.
Dass jedoch in einem Land wie Israel/Palästina unterwegs zwangsläufig auch über
Politik meditiert werden muss, darf keinesfalls verwundern. Denn der für eine sarha
charakteristische grenzen- und schrankenlose Charakter dieser Wanderung, im
Einklang mit sich selbst und der Natur, ist im heutigen, von zahllosen
Kontrollpunkten, Straßen und jüdischen Siedlungen zerschnittenen Palästina
schon allein aus geopolitischen Gründen kaum noch möglich.
Als ich vor einem Vierteljahrhundert mit meinen
Wanderungen durch die Hügel Palästinas begann, war ich mir nicht im Klaren
darüber, dass ich durch eine verschwindende Landschaft reiste. Die Hügel waren
damals ein einziges großes Naturreservat von einer unberührten Pracht und
Freiheit, wie sie solchen Gegenden eigen ist. Sie waren für mich immer so etwas
wie mein Privatgarten, sei es für Spaziergänge, Picknicks oder Ausflüge zum
Blumenpflücken. Ich habe die Veränderung ihrer Farben sowohl während der
verschiedenen Tages- und Jahreszeiten als auch während der endlosen Abfolge der
Kriege beobachtet.
Neben zauberhaften Beschreibungen der
besonders im Frühling berückend schönen Natur des Landes, wird Shehadeh
inhaltlich immer wieder auf die ernüchternden Folgen der israelischen
Siedlungspolitik zurückgeworfen, die er, wie er unumwunden zugibt, von ganzem
Herzen verachtet. Seine auch in der Chronologie letzte Wanderung des Buches
unternahm der Autor im Jahr 2006 – mittlerweile war es gänzlich unmöglich
geworden, einfach drauflos zu laufen, erstmals musste der bereits seit 1967
engagierte Verfechter einer Zweistaatenlösung eine topografische Karte zur
Hilfe nehmen, um eine gangbare Route ausarbeiten zu können.
Unterwegs trifft er auf einen etwa fünfundzwanzigjährigen
israelischen Siedler, der in der Abgeschiedenheit der Natur aus einer
Wasserpfeife Haschisch raucht. In der sich unwillkürlich entwickelnden,
zunehmend hitzig und unversöhnlich geführten Grundsatzdiskussion zwischen den
beiden entlarvt Shehadeh geradezu beispielhaft die ganze Absurdität und
Ausweglosigkeit des politischen Status Quo und beklagt die traurige
Perspektivlosigkeit beider Völker.
Als alles gesagt
scheint und die Positionen umso unvereinbarer, lenkt der Siedler ein und lädt
den sich bereits abwendenden Shehadeh zum gemeinsamen Rauchen ein. So schließt das
Buch mit einem wunderbaren Moment vorläufigen, höchst zerbrechlichen Friedens:
Ich war mir völlig im Klaren über die sich abzeichnende
Tragödie und den Krieg, die uns beide bevorstanden. Aber jetzt konnten wir
beide hier für eine kurze Atempause zusammensitzen, eine nergile rauchen, vorübergehend verbunden in unserer
beidseitigen Liebe zu diesem Land. In
der Ferne waren Schüsse zu hören, die uns beide schaudern ließen.
„Wanderungen inPalästina“, aus dem Englischen von Jürgen Heiser, erschienen im Unionsverlag,
251 Seiten, € 9,90
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