Jerusalem

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Dienstag, 12. Februar 2013

„Verdächtige Geliebte“ von Keigo Higashino


Kühle Logik und mathematische Berechnung sind von jeher wichtige Elemente des klassischen Kriminalromans gewesen – dessen prominentester Vertreter Sherlock Holmes begeistert bis heute mit seinem obskur-verschrobenen logischen Sachverstand ein Millionenpublikum, zuletzt als moderner Mensch unserer Zeit in der großartigen BBC-Fernsehserie „Sherlock“. Der japanische Schriftsteller und studierte Ingenieur Keigi Higashino, geboren 1958 in Osaka, hat diesem faszinierenden Motiv nun einen weiteren, ebenso überraschenden wie emotional-aufrüttelnden literarischen Höhepunkt hinzugefügt, den man mit seiner tiefgründig-empathischen Innerlichkeit und großstädtischen Prägung mit einigem Recht als „spezifisch japanisch“ bezeichnen könnte.



Der geniale Mathematiker Ishigami, dem noch zu Studienzeiten eine glänzende akademische Karriere vorherbestimmt zu sein schien, ist an den widrigen Umständen seines Lebens gescheitert und verdient seit Jahren seinen Lebensunterhalt als gewöhnlicher Mathematiklehrer an einem unbedeutenden kleinen Gymnasium, während er privat weiter fieberhaft an seiner selbst gestellten Lebensaufgabe arbeitet, einer komplizierten mathematischen These, für deren engültige Berechnung er nach eigenen Schätzungen noch zwanzig Jahre benötigen wird, möglicherweise sogar noch länger.

Was mache ich hier eigentlich, fragte sich Ishigami. Ich lasse Arbeiten schreiben, die nichts mit richtiger Mathematik zu tun haben, nur damit die Schüler ihre Punkte bekommen. Völlig sinnlos. So etwas ist doch keine Mathematik. Und auch keine Pädagogik. Er erhob sich und atmete tief ein und aus. „Ihr braucht nicht weiterzumachen“, sagte er den Schülern. „Ich möchte, dass ihr in der verbleibenden Zeit auf die Rückseite eurer Blätter schreibt, was Ihr im Augenblick denkt.“

Ishigami erweist sich trotz seiner Isolation und berufsbedingten Weltfernheit als origineller, mitfühlender und tiefgründiger Mensch. Dennoch ist er fest davon überzeugt, dass sein einziger Vorzug seine mathematische Begabung sei und seine sozialen Kontakte beschränken sich auf den täglichen Unterricht, wenige oberflächliche Begegnungen im Lehrerzimmer und das sportliche Training im Judoclub. Als er eines Tages das Gefühl hat, auch bei der Lösung seines mathematischen Problems nicht mehr voranzukommen, trifft er alle Vorbereitungen, um sich in seiner ärmlichen Zwei-Zimmer-Wohnung aufzuhängen.

Als er auf dem Hocker stand und im Begriff war, sich die Schlinge um den Hals zu legen, läutete es an der Tür. Ein schicksalhaftes Läuten. Dass er es nicht ignorierte, hatte nur den einen Grund, dass er später nicht mehr gestört werden wollte. [...] Es waren zwei Frauen. Augenscheinlich Mutter und Tochter. Die Mutter stellte sich als neue Nachbarin vor. Auch das junge Mädchen verbeugte sich ein wenig. Der Anblick löste ein nie gekanntes Gefühl in Ishigami aus. Sie hatten so wunderschöne Augen. Bisher hatte ihn Schönheit nie berührt. Auch für Kunst fehlte ihm jegliches Verständnis. Doch in diesem Moment begriff er, dass es sich hier um die gleiche Schönheit handelte, die sich ihm bei der Lösung mathematischer Aufgaben offenbarte.

Die Begegnung gibt Ishigami unverhofft neuen Lebensmut: „Der Gedanke an Selbstmord war wie weggeblasen“. Und obwohl er weiß, dass er keine Chance haben wird, jemals die Liebe seiner neuen Nachbarin, Yasuko, zu gewinnen, wird er sich ihr und ihrer Tochter Misato gegenüber immer von ganzem Herzen verpflichtet fühlen. Die diskrete dankbar-liebevolle Anteilnahme Ishigamis an deren Leben von Ferne schildert Keigo Higashino ebenso überzeugend wie verständnisvoll und ohne seinen Protagonisten je in die Nähe des Stalking zu rücken. Die einzige regelmäßige Begegnung mit Yasuko, die sich Ishigami selbst gestattet, ist der tägliche Einkauf seines Mittagessens in einem kleinen Bento-Imbiss, in dem seine Nachbarin arbeitet.

Als eines Tages unverhofft Yasukos seit Jahren arbeitsloser gewalttätiger Ex-Mann auftaucht, um Geld aus ihr herauszupressen und schließlich sogar gewaltsam in ihre Wohnung eindringt, schlägt die geistesgegenwärtige Misato ihn im Affekt hinterrücks mit einer Vase nieder, woraufhin ein verzweifelt geführtes Handgemenge entsteht, in dessen Verlauf die beiden Frauen den verhassten Eindringling mit vereinten Kräften erdrosseln. So bietet sich Ishigami, der den Kampf durch die Wand verfolgt hat, endlich die erhoffte Chance, seinen „Lebensretterinnen“ seinen tief empfundenen Dank zu erweisen, indem er ihnen hilfreich zur Seite steht.

Und hier erst beginnt nun die eigentliche, absolut fesselnde und angesichts der sonst üblichen Plots von Kriminalromanen höchst ungewöhnlich scheinende Handlung des Romans – wir kennen bereits den Tathergang, wir kennen Opfer und Täter, doch Ishigami hat einen genialen mathematisch-ausgeklügelten Plan, der den unbeabsichtigten und vollkommen unkontrolliert ausgeführten Mord nachträglich zum perfekten Verbrechen ohne jegliche auf die Mörderin hinweisende Spuren macht. Leider – und das müssen wir aufgrund unserer unbestreitbaren tiefen Sympathien für Ishigami, Yasuko und Misato ohne jegliche Abstriche konstatieren – konnte der Mathematiker kaum mit dem überraschenden Umstand rechnen, dass der ermittelnde Kommissar im Verlaufe des Falls ausgerechnet denjenigen seiner früheren Kommilitonen um kriminalistischen Rat bitten wird, der Isgigami intellektuell das Wasser reichen kann.

So entwickelt sich zwischen den beiden seit Studientagen freundschaftlich miteinander verbundenen sympathisch-verschrobenen Wissenschaftlern ein packendes, stets mit fairen Mitteln geführtes, kameradschaftliches Ringen um die Wahrheit. Wie weit Ishigami in seinem ehrlichen Bestreben, Yazuko um jeden Preis zu schützen, schließlich gehen wird, nimmt uns am Ende völlig den Atem. „Verdächtige Geliebte“ ist mit seiner überzeugenden Milieu- und Charakterzeichnung einer der besten und berührendsten schon-fast-nicht-mehr Kriminalromane seit Jahren, weil er mit ehrlichem emotionalem Tiefgang den genreüblich-unverzichtbaren Mord nur als Initialzündung der Handlung benutzt, um auf literarisch höchst anspruchsvolle Weise Irrwege und Glücksmomente des menschlichen Lebens ebenso kunstvoll wie glaubwürdig abzubilden.

„Verdächtige Geliebte“, aus dem Japanischen von Ursula Gräfe, erschienen bei Klett-Cotta, 320 Seiten, € 19,95

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