Kühle
Logik und mathematische Berechnung sind von jeher wichtige Elemente
des klassischen Kriminalromans gewesen – dessen prominentester
Vertreter Sherlock Holmes begeistert bis heute mit seinem
obskur-verschrobenen logischen Sachverstand ein Millionenpublikum,
zuletzt als moderner Mensch unserer Zeit in der großartigen
BBC-Fernsehserie „Sherlock“. Der japanische Schriftsteller und
studierte Ingenieur Keigi Higashino, geboren 1958 in Osaka, hat
diesem faszinierenden Motiv nun einen weiteren, ebenso überraschenden
wie emotional-aufrüttelnden literarischen Höhepunkt hinzugefügt,
den man mit seiner tiefgründig-empathischen Innerlichkeit und
großstädtischen Prägung mit einigem Recht als „spezifisch
japanisch“ bezeichnen könnte.
Der
geniale Mathematiker Ishigami, dem noch zu Studienzeiten eine
glänzende akademische Karriere vorherbestimmt zu sein schien, ist an
den widrigen Umständen seines Lebens gescheitert und verdient seit
Jahren seinen Lebensunterhalt als gewöhnlicher Mathematiklehrer an
einem unbedeutenden kleinen Gymnasium, während er privat weiter
fieberhaft an seiner selbst gestellten Lebensaufgabe arbeitet, einer
komplizierten mathematischen These, für deren engültige Berechnung
er nach eigenen Schätzungen noch zwanzig Jahre benötigen wird,
möglicherweise sogar noch länger.
Was
mache ich hier eigentlich, fragte sich Ishigami. Ich lasse Arbeiten
schreiben, die nichts mit richtiger Mathematik zu tun haben, nur
damit die Schüler ihre Punkte bekommen. Völlig sinnlos. So etwas
ist doch keine Mathematik. Und auch keine Pädagogik. Er erhob sich
und atmete tief ein und aus. „Ihr braucht nicht weiterzumachen“,
sagte er den Schülern. „Ich möchte, dass ihr in der verbleibenden
Zeit auf die Rückseite eurer Blätter schreibt, was Ihr im
Augenblick denkt.“
Ishigami
erweist sich trotz seiner Isolation und berufsbedingten Weltfernheit
als origineller, mitfühlender und tiefgründiger Mensch. Dennoch ist
er fest davon überzeugt, dass sein einziger Vorzug seine
mathematische Begabung sei und seine sozialen Kontakte beschränken
sich auf den täglichen Unterricht, wenige oberflächliche
Begegnungen im Lehrerzimmer und das sportliche Training im Judoclub.
Als er eines Tages das Gefühl hat, auch bei der Lösung seines
mathematischen Problems nicht mehr voranzukommen, trifft er alle
Vorbereitungen, um sich in seiner ärmlichen Zwei-Zimmer-Wohnung
aufzuhängen.
Als
er auf dem Hocker stand und im Begriff war, sich die Schlinge um den
Hals zu legen, läutete es an der Tür. Ein schicksalhaftes Läuten.
Dass er es nicht ignorierte, hatte nur den einen Grund, dass er
später nicht mehr gestört werden wollte. [...] Es waren zwei
Frauen. Augenscheinlich Mutter und Tochter. Die Mutter stellte sich
als neue Nachbarin vor. Auch das junge Mädchen verbeugte sich ein
wenig. Der Anblick löste ein nie gekanntes Gefühl in Ishigami aus.
Sie hatten so wunderschöne Augen. Bisher hatte ihn Schönheit nie
berührt. Auch für Kunst fehlte ihm jegliches Verständnis. Doch in
diesem Moment begriff er, dass es sich hier um die gleiche Schönheit
handelte, die sich ihm bei der Lösung mathematischer Aufgaben
offenbarte.
Die
Begegnung gibt Ishigami unverhofft neuen Lebensmut: „Der Gedanke
an Selbstmord war wie weggeblasen“. Und obwohl er weiß, dass
er keine Chance haben wird, jemals die Liebe seiner neuen Nachbarin,
Yasuko, zu gewinnen, wird er sich ihr und ihrer Tochter Misato
gegenüber immer von ganzem Herzen verpflichtet fühlen. Die diskrete
dankbar-liebevolle Anteilnahme Ishigamis an deren Leben von Ferne
schildert Keigo Higashino ebenso überzeugend wie verständnisvoll
und ohne seinen Protagonisten je in die Nähe des Stalking zu rücken.
Die einzige regelmäßige Begegnung mit Yasuko, die sich Ishigami
selbst gestattet, ist der tägliche Einkauf seines Mittagessens in
einem kleinen Bento-Imbiss, in dem seine Nachbarin arbeitet.
Als
eines Tages unverhofft Yasukos seit Jahren arbeitsloser gewalttätiger
Ex-Mann auftaucht, um Geld aus ihr herauszupressen und schließlich
sogar gewaltsam in ihre Wohnung eindringt, schlägt die
geistesgegenwärtige Misato ihn im Affekt hinterrücks mit einer Vase
nieder, woraufhin ein verzweifelt geführtes Handgemenge entsteht, in
dessen Verlauf die beiden Frauen den verhassten Eindringling mit
vereinten Kräften erdrosseln. So bietet sich Ishigami, der den Kampf
durch die Wand verfolgt hat, endlich die erhoffte Chance, seinen
„Lebensretterinnen“ seinen tief empfundenen Dank zu erweisen,
indem er ihnen hilfreich zur Seite steht.
Und
hier erst beginnt nun die eigentliche, absolut fesselnde und
angesichts der sonst üblichen Plots von Kriminalromanen höchst
ungewöhnlich scheinende Handlung des Romans – wir kennen bereits
den Tathergang, wir kennen Opfer und Täter, doch Ishigami hat einen
genialen mathematisch-ausgeklügelten Plan, der den unbeabsichtigten
und vollkommen unkontrolliert ausgeführten Mord nachträglich zum
perfekten Verbrechen ohne jegliche auf die Mörderin hinweisende
Spuren macht. Leider – und das müssen wir aufgrund unserer
unbestreitbaren tiefen Sympathien für Ishigami, Yasuko und Misato
ohne jegliche Abstriche konstatieren – konnte der Mathematiker kaum
mit dem überraschenden Umstand rechnen, dass der ermittelnde
Kommissar im Verlaufe des Falls ausgerechnet denjenigen seiner
früheren Kommilitonen um kriminalistischen Rat bitten wird, der
Isgigami intellektuell das Wasser reichen kann.
So
entwickelt sich zwischen den beiden seit Studientagen
freundschaftlich miteinander verbundenen sympathisch-verschrobenen
Wissenschaftlern ein packendes, stets mit fairen Mitteln geführtes,
kameradschaftliches Ringen um die Wahrheit. Wie weit Ishigami in
seinem ehrlichen Bestreben, Yazuko um jeden Preis zu schützen,
schließlich gehen wird, nimmt uns am Ende völlig den Atem.
„Verdächtige Geliebte“ ist mit seiner überzeugenden Milieu- und
Charakterzeichnung einer der besten und berührendsten
schon-fast-nicht-mehr Kriminalromane seit Jahren, weil er mit
ehrlichem emotionalem Tiefgang den genreüblich-unverzichtbaren Mord
nur als Initialzündung der Handlung benutzt, um auf literarisch
höchst anspruchsvolle Weise Irrwege und Glücksmomente des
menschlichen Lebens ebenso kunstvoll wie glaubwürdig abzubilden.
„Verdächtige Geliebte“, aus dem Japanischen von Ursula Gräfe, erschienen bei
Klett-Cotta, 320 Seiten, € 19,95
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