Der
mit naturgemäß ungleichen Mitteln und umso erbitterterer Vehemenz
geführte Kampf des Menschen mit der unkontrollierbar-entfesselten
Naturgewalt des Meeres ist in der Literaturgeschichte schon oft
dankbar-episches Thema zahlreicher begeisternder Romane und
dokumentarischer Sachbücher gewesen. Der begabte junge New Yorker
Schriftsteller Nick Dybek, geboren 1980, aufgewachsen im denkbar
seefernen Michigan, erzählt in seinem beeindruckend-reifen
Debütroman „Der Himmel über Greene Harbor“ von diesem ewigen
Ringen aus ganz ungewohnt distanzierter Perspektive.
Allerdings
ist die perspektivische Distanz nur eine scheinbare: denn der
vierzehnjährige Erzähler Cal, geistig aufgeweckter einziger Sohn
eines beinharten Seemanns und Fischers, der wie alle männlichen
Bewohner des kleinen fiktiven Ortes Greene Harbor an der Küste
Washingtons jeden Winter mit der Flotte des örtlichen
Fischereimagnaten John Gaunt ins tosende Eismeer Alaskas hinausfährt,
um mit saisonalem Krabbenfang den Lebensunterhalt fürs ganze Jahr zu
verdienen, ist natürlich – obwohl er mit dem gefahrvollen Handwerk
seines Vaters nicht unmittelbar zu tun hat – in seiner ganzen
Existenz vollkommen geprägt und beeindruckt von dessen hartem,
erwachsen-ernsthaftem Beruf: der monatelangen schmerzlichen
Abwesenheit, der Angst um dessen Leben und den Depressionen seiner
Mutter, einer gebildeten, kultur- und musikinteressierten hübschen
jungen Frau, die es aus San Francisco in die regenverhangen-karge
Landschaft des amerikanischen Nordwestens und die intellektuell
trostlose Atmosphäre des einsamen Fischerstädtchens verschlagen
hat.
Es
war eine Aura der Einsamkeit. Wir behielten den Kalender im Auge und
warteten auf das Chaos, das ausbrach, wenn die Funkgeräte knisterten
und knackten, die Telefone läuteten und Reifen auf den Parkplätzen
rund um Greene Harbor Staub aufwirbelten. Wir suchten den Horizont
nach zurückkehrenden Fischern ab, die abgerissen und mit speckigen
Klamotten an Land gingen, ihr Seemannsgarn spannen, ihre Geheimnisse
aber für sich behielten.
Und
natürlich ist Cals reiche Innenwelt sehnsuchtsvoll angefüllt bis
zum Rand mit heroischen Geschichten über das Leben auf See,
schaurigen Anekdoten über tragische Schiffsunglücke, tödliche
Unfälle und wundersame einsame Heldentaten: die Geschichte von
Stevensons berühmt-berüchtigtem Captain Flint aus dessen
Generationen-Lieblingsroman „Die Schatzinsel“ hat sein Vater in
Form zahlreicher abenteuerlicher Einschlafgeschichten fantasievoll
für ihn ausgeschmückt und weitergesponnen. Mit nunmehr vierzehn
Jahren ist der aufgeweckte Schüler allerdings auch alt genug um
nicht nur zu ahnen, sondern bereits auch verstandesmäßig zu
begreifen, dass er selbst möglicherweise niemals mit den anderen
Männern hinausfahren und die ersehnten Abenteuer erleben wird.
Denn
auch der linkisch-intellektuelle Sohn des von allen geachteten
Arbeitgebers John Gaunt, Richard, hat bereits vor Jahren ein ganz
ähnliches Schicksal erlitten:
Richard
Gaunt verließ Loyalty Island, wie so viele andere, im Alter von
achtzehn Jahren. Er hatte noch nicht ganz die Hoffnung aufgegeben,
dass sein Vater ihm irgendwann einen Platz auf einem seiner Schiffe
anbieten würde, dass er ihn die ganze Zeit über geprüft hatte und
dass er, Richard, trotz dieser sauren Jahre die Prüfung bestanden
hatte. Aber er war zu stolz, das Thema anzuschneiden, und am Tag der
Abschlussfeier drückte John ihm einen Scheck über tausend Dollar in
die Hand. Er schenkte Richard einen Blechkuchen und gab ihm die
Autoschlüssel für den Volvo. Und er sagte ihm, wie gut er sich mit
seinem Hut und dem Talar machte.
Doch
wie sein Geistesverwandter Jim Hawkins, der kindliche Erzähler aus
Stevensons unvergesslichem Roman, soll schließlich auch Cal ebenso
unverhofft wie plötzlich in ein existenzielles Abenteuer
hineingezogen werden, von dem er nie zu träumen gewagt hätte und
von dem er sich am Ende wünschen wird, es wäre nie geschehen, weil
es seine Realität auf eine Weise verändern wird, die am Ende nichts
mehr so sein lässt wie es war: weder seine Identität noch seine
moralischen Maßstäbe. Denn eines Tages geschieht das Undenkbare:
John Gaunt stirbt, sein kauzig-zynischer Sohn wird zum Alleinerben
bestellt und verkündet mit unversöhnlich scheinendem Hass auf das
fragile soziale Gefüge, dass er die ganze Flotte an japanische
Investoren verkaufen werde, womit er hochmütig und bewusst die
Existenz der gesamten Region aufs Spiel setzt, die bereits seit
Generationen auf die unternehmerische Verantwortung seiner Vorfahren
zählen darf.
In der
Nacht nach Richards geschmacklosem Auftritt vor der zu diesem
Zeitpunkt noch hoffnungsfrohen Versammlung der betroffenen Familien
belauscht Cal an der Wohnzimmertür des elterlichen Hauses ein
verschwörerisches Gespräch seines Vaters mit zwei seiner Kollegen,
das ihn zutiefst verunsichert und Schlimmes ahnen lässt:
„Und
was passiert, wenn Richard sein Erbe niemals antritt?“ [...]
„Es
wäre ganz einfach“, sagte Sam.
„Es?“,
fragte Don.
„Da
draußen kommen immer irgendwo Leute ums Leben. Sie werden nie
gefunden.“
Mir
stockte der Atem. Schließlich hörte ich die Stimme meines Vaters.
„Wir müssen mit Richard reden. Ich glaube, er wird es irgendwann
begreifen. Er muss es.“
Am
nächsten Morgen ist überraschenderweise nicht nur die komplette
Fangflotte samt Richard in See gestochen, sondern auch seine erneut
schwangere Mutter abgereist, um – wie sie selbst verlauten lässt –
sich im heimatlich-sonnigen Kalifornien auf die bevorstehende Geburt
vorzubereiten. Cal hingegen soll für die Zeit der Abwesenheit seines
Vaters bei der Familie von dessen Arbeitskollegen Sam Quartier
beziehen. Dessen gleichaltriger filmbegeisterter Sohn Jamie
entwickelt sich zu ihrer beider Überraschung zu einem echten Freund
und Vertrauten.
Als
sie schließlich, nach langem Zögern, gemeinsam Cals schrecklichem
Verdacht nachgehen, werden sie von den dunklen, tief-verborgenen
Geheimnissen des Meeres mit aller Macht eingeholt und wie von einer
mächtigen Welle einfach überspült. „Der Himmel über Greene
Harbor“ ist nicht nur einer der beeindruckendsten, spannendsten und
bildmächtigsten Romane über die schmerzvolle Ambivalenz des
Erwachsenwerdens seit langem, sondern auch ein überwältigendes
literarisches Zeugnis dafür, wie das extreme Leben, Überleben und
Sterben auf See auch die nächste Generation sowie die sonstigen an
Land Gebliebenen unentrinnbar zu prägen vermag.
„Der Himmel über Greene Harbor“, aus dem Amerikanischen von Frank
Fingerhuth, erschienen bei mare, 319 Seiten, € 19,90
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