Seit James Wormold, dem genial-unbeholfenen unfreiwilligen Helden aus
Graham Greenes großartigem Roman „Unser Mann in Havanna“
hat es in der internationalen Literatur keinen Spion mehr gegeben,
dem wir so ohne jeden Vorbehalt unsere ganze Sympathie und all unser
Mitgefühl entgegengebracht haben, wie diesem von väterlichen
Geldsorgen geplagten mediokren Staubsaugervertreter, der gegen seinen
Willen vom britischen Nachrichtendienst angeworben wird und die
Inhalte der ihm regelmäßig abgeforderten Dossiers
kurzerhand selbst erfindet.
Auch der erzsympathische jüdische
Schuhmachermeister Max Kutner, der Anfang der 1930er Jahre unter
glücklichen Umständen mit den Papieren eines Toten aus
seiner polnischen Heimat nach Rio de Janeiro gelangt ist und im
jüdischen Mikrokosmos des heruntergekommenen, später
planierten Viertels Praça Onze
eine florierende Werkstatt betreibt, will nichts anderes, als in
Frieden seinem krisensicheren Beruf nachgehen und hin und wieder nach
Feierabend eine jener herrlich-verheissungsvollen Mulattinnen
aufsuchen, die überall in der Stadt ihre begehrt-exotischen
Liebesdienste anbieten.
Max Kutner ist ein echter Realist und lebenserfahrener Pragmatiker,
der keine besonderen Erwartungen an seine Zukunft hegt, den keine
existenziellen Sorgen oder Ängste drücken und der von
keinerlei Träumen oder Hoffnungen angetrieben wird. Politik und
Religion sind für ihn ebensolche Fremdworte wie Liebe oder gar
Ehe.
“Das ist für Keren Kajemet LeJisrael”, hatte das Mädchen
am Tag zuvor lächelnd gesagt und ihm eine bläuliche
Metallbüchse hingehalten. “Helfen Sie mit bei der Gründung
des jüdischen Staates!”
“Ein jüdischer Staat?” Max hämmerte auf einer Sohle
herum. “Was für ein idiotischer Traum!”
“Idiotischer Traum? So sprechen Sie von Israel? Ben Yehuda hat
das Hebräische wiederbelebt, Tel Aviv wird immer größer,
Jerusalem hat eine hebräische Universität, und Millionen
von Brüdern kehren zurück ins Gelobte Land. Das nennen Sie
einen idiotischen Traum?”
Max antwortete nicht.
Eher neugierig als verärgert fragte das Mädchen:
“Kutner, haben Sie einen Traum im Leben?”
Und er, ohne sie anzusehen: “Schuhe reparieren.”
Als unter dem offen mit dem
europäischen Faschismus sympathisierenden und unter dem Einfluss
der USA stehenden Diktator Getúlio
Vargas (1882-1954) nach einem gescheiterten linken Umsturzversuch
eine organisierte Verfolgung vermeintlicher kommunistischer Kräfte
beginnt, wird der ahnungslose Schuster jedoch mit sanfter Gewalt von
der Geheimpolizei als Übersetzer requiriert und hat fortan Tag
für Tag in einem zwielichtigen Büro der neu geschaffenen
Zensurbehörde sämtliche ein- und ausgehende
jiddischsprachige Post der Stadt am Zuckerhut ins Portugiesische zu
übersetzen.
Es hat allerdings selten einen sympathischeren Spitzel wider Willen
gegeben als Max Kutner, der zweifelhafte Stellen einfach unübersetzt
lässt und auch andere Spezialaufträge immer wieder – von
seinen Vorgesetzten – unbemerkt sabotiert, um Unschuldige zu
schützen. Von seinem dennoch vorhandenen erdrückend-schlechten
Gewissen reinigt er sich mit einem haarsträubend-fantasievollen
kathartischen Schock kurzerhand selbst, dennoch verändert seine
neue Nebentätigkeit sein Leben auf völlig unvorhergesehene
Weise und lässt alle seine lebenslangen Gewissheiten brüchig
werden.
Denn das Lesen fremder privater Briefe öffnet Max nicht nur eine
ganz neue Welt, von der er bisher nichts geahnt hatte und die sein
menschliches Mitgefühl erwachen lässt, er lernt in der
Person der eifrigen Briefeschreiberin Hannah, die er anders als die
meisten Adressaten oder Absender auf der Praça
Onze noch nie gesehen hat, auch ein vollkommen
widersprüchliches und in jeder Hinsicht entgrenzendes Gefühl
kennen, das ihm bislang gänzlich unbekannt war:
Doch jetzt [...] verstieß Max gegen all seine Vorsätze.
Wie alle anderen war auch er eine Geisel seiner Leidenschaft, war in
die Falle getappt, aus der seit dem Hohelied Salomons niemand heil
herausgekommen war. Wer hätte gedacht, dass sein Dienst am
Vaterland so ausarten würde? Ach, die Liebe! Wie viele
sogenannte irrationale Wesen erliegen dieser Illusion, die vorgibt,
das menschliche Geschlecht zu erhalten und zu zivilisieren, und
stattdessen Milliarden ahnungsloser Seelen versklavt?
Um die über alle Maßen begehrte junge Frau endlich
persönlich kennenzulernen, die in ihren Briefen immer wieder von
ihrer lebendigen Beziehung zum Judentum berichtet, lässt sich
auch der vollkommen areligiöse Max immer häufiger in der
Gemeinde sehen.
Er ließ sich in Clubs und Schulen blicken und las die
Zeitung von der ersten bis zur letzten Seite. Von der Totenwache ging
es zum Tanzen, aus den Kneipen in die Synagoge. Am Kabbalat Schabbat
im Beth Israel betete er mit gespielter Hingabe und sah sich dabei
unauffällig nach ihr um. Die Suche nach Hannah war nicht nur zu
seinem Lebensinhalt geworden, sondern entsprang auch dem Wunsch,
etwas zu sein, das er bisher nie gewesen war: glücklich.
Durch Max' verzweifelte Suche erhalten wir als Leser zahlreiche
unverhofft-intensive, ebenso stimmungsvolle wie sachkundige Einblicke
in das innerhalb der schöngeistigen Literatur bisher kaum
thematisierte Milieu osteuropäischer jüdischer Einwanderer
im Brasilien der 30er und 40er Jahre, einem willkommenen
literarischen Gegengewicht zu den so zahlreich vorhandenen
Beschreibungen der zionistischen Einwanderung nach Palästina
oder der US-amerikanischen Diaspora.
Im weiteren Verlauf der an zahlreichen überraschenden Pointen
und kaum antizipierbaren Wendungen überaus reichen, im höchsten
Maße unterhaltsamen Handlung muss der verliebte Schuster vielen
unangenehmen, gar schmerzhaft-erniedrigenden Wahrheiten ins Auge
blicken und erlebt dabei ein vollkommen ungewolltes, lang anhaltendes
glückselig-unerfülltes Wechselbad der Gefühle, als er
herausfindet, dass die zuckersüß-anmutige, zum Sterben
schöne, in höchstem Maße begehrenswerte Hannah eine
der zahlreichen, von aller Welt verachteten Polackinnen ist,
eine jüdische Prostituierte, die der organisierte Menschenhandel
des frühen Zwanzigsten Jahrhunderts in die Länder
Südamerikas verschlagen hat – ein unfassbar scheinendes
Phänomen, das den wenigsten Lesern in diesem Ausmaß
bekannt gewesen sein dürfte.
Allerdings hat es in der Literaturgeschichte kaum je eine
selbstbewusstere, klügere und selbstbestimmtere Prostituierte
gegeben als Hannah, deren Geheimnisse scheinbar ohne Zahl sind und
die mit Witz, Verstand und absolutem Willen zur perfekten
Inszenierung nicht nur ihr eigenes Leben fest in der Hand hält,
sondern auch das ihrer Kolleginnen mit Mut und Empathie aktiv
gestaltet, ja sogar einen ausgeklügelten Sozialplan für
diese umsetzt.
Glauben Sie, es interessiert mich, was irgendwelche Leute über
mich reden? Mich interessiert nur, was sich in diesem Bett abspielt,
sonst nichts, weil es hier nämlich mehr Respekt und
Aufrichtigkeit gibt als draußen! Übrigens, zwei Dinge habe
ich im Leben gelernt. Erstens, Respekt zu verdienen bedeutet nicht,
ihn auch zu erlangen, und zweitens, Respekt zu erlangen bedeutet
nicht, ihn auch zu verdienen.
Ronaldo Wrobels wunderbar vielschichtiger und von
hintergründig-menschenfreundlichem Humor getragener Roman –
sein erster ins Deutsche übersetzter – mit seinen zahlreichen
unterschiedlichen, sich gegenseitig überlagernden Ebenen aus
Liebesromanze, historisch-dokumentarischer Erzählung und
Spionagegeschichte ist ein echtes Geschenk an alle geschichtlich oder
am Judentum interessierten Leser und gleichzeitig ein einmaliges
literarisches Denkmal für eine faszinierende untergangene Welt
mit ihren einzigartig-unvergesslichen Protagonisten, die der
langjährige Kolumnist des brasilianisch-jüdischen Magazins
Menorah damit auf unnachahmliche Art wieder zum Leben erweckt.
Die
unglaubliche Geschichte von Hannah und Max musste unbedingt
geschrieben werden, wie der Autor selbst am Ende in einem
überraschenden, geschickt mit der Handlung verknüpften
Einblick in seine aufwendige Recherche mit seiner eigenen
Erzählerstimme bekennt:
Ob
gestern heute oder morgen, es wird immer Sündenböcke geben,
es wird Säuberungen geben und Leute, die Hass predigen, weil
sie, aus Mangel an etwas Gutem und Wahrhaftigem, das sie mit anderen
teilen könnten, sich damit trösten, die Menschen und Dinge
zu verachten, die sie nicht verstanden haben oder gar nicht verstehen
wollen. Ich begriff endlich, wie sehr Tier und Mensch sich ähneln,
wenn es darum geht, ihr Revier zu verteidigen. Bei den Menschen ist
es in erster Linie ideelles Gelände, auf dem sie ihre
Gewissheiten kultivieren, von wo aus sie über jeden schimpfen,
der sie das Unbekannte erahnen lässt und sie auf die Idee
bringt, der Gipfel ihres Wissens, der Höhepunkt ihrer
Erkenntnisse könnte nicht mehr sein als eine kleine Erhebung in
einem tiefen Tal, umgeben von den wirklich hohen Bergen.
Ein
ebensolcher Bergriese ist ohne Zweifel auch dieser Roman.
„Hannahs Briefe“ aus dem Brasilianischen von Nicolai von Schweder-Schreiner,
erschienen bei Aufbau, 328 Seiten, € 19,99
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