Jerusalem

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Freitag, 15. März 2013

„Hannahs Briefe“ von Ronaldo Wrobel

Seit James Wormold, dem genial-unbeholfenen unfreiwilligen Helden aus Graham Greenes großartigem Roman „Unser Mann in Havanna“ hat es in der internationalen Literatur keinen Spion mehr gegeben, dem wir so ohne jeden Vorbehalt unsere ganze Sympathie und all unser Mitgefühl entgegengebracht haben, wie diesem von väterlichen Geldsorgen geplagten mediokren Staubsaugervertreter, der gegen seinen Willen vom britischen Nachrichtendienst angeworben wird und die Inhalte der ihm regelmäßig abgeforderten Dossiers kurzerhand selbst erfindet.

Auch der erzsympathische jüdische Schuhmachermeister Max Kutner, der Anfang der 1930er Jahre unter glücklichen Umständen mit den Papieren eines Toten aus seiner polnischen Heimat nach Rio de Janeiro gelangt ist und im jüdischen Mikrokosmos des heruntergekommenen, später planierten Viertels Praça Onze eine florierende Werkstatt betreibt, will nichts anderes, als in Frieden seinem krisensicheren Beruf nachgehen und hin und wieder nach Feierabend eine jener herrlich-verheissungsvollen Mulattinnen aufsuchen, die überall in der Stadt ihre begehrt-exotischen Liebesdienste anbieten.

Max Kutner ist ein echter Realist und lebenserfahrener Pragmatiker, der keine besonderen Erwartungen an seine Zukunft hegt, den keine existenziellen Sorgen oder Ängste drücken und der von keinerlei Träumen oder Hoffnungen angetrieben wird. Politik und Religion sind für ihn ebensolche Fremdworte wie Liebe oder gar Ehe.

Das ist für Keren Kajemet LeJisrael”, hatte das Mädchen am Tag zuvor lächelnd gesagt und ihm eine bläuliche Metallbüchse hingehalten. “Helfen Sie mit bei der Gründung des jüdischen Staates!”
Ein jüdischer Staat?” Max hämmerte auf einer Sohle herum. “Was für ein idiotischer Traum!”
Idiotischer Traum? So sprechen Sie von Israel? Ben Yehuda hat das Hebräische wiederbelebt, Tel Aviv wird immer größer, Jerusalem hat eine hebräische Universität, und Millionen von Brüdern kehren zurück ins Gelobte Land. Das nennen Sie einen idiotischen Traum?”
Max antwortete nicht.
Eher neugierig als verärgert fragte das Mädchen: “Kutner, haben Sie einen Traum im Leben?”
Und er, ohne sie anzusehen: “Schuhe reparieren.”



Als unter dem offen mit dem europäischen Faschismus sympathisierenden und unter dem Einfluss der USA stehenden Diktator Getúlio Vargas (1882-1954) nach einem gescheiterten linken Umsturzversuch eine organisierte Verfolgung vermeintlicher kommunistischer Kräfte beginnt, wird der ahnungslose Schuster jedoch mit sanfter Gewalt von der Geheimpolizei als Übersetzer requiriert und hat fortan Tag für Tag in einem zwielichtigen Büro der neu geschaffenen Zensurbehörde sämtliche ein- und ausgehende jiddischsprachige Post der Stadt am Zuckerhut ins Portugiesische zu übersetzen.

Es hat allerdings selten einen sympathischeren Spitzel wider Willen gegeben als Max Kutner, der zweifelhafte Stellen einfach unübersetzt lässt und auch andere Spezialaufträge immer wieder – von seinen Vorgesetzten – unbemerkt sabotiert, um Unschuldige zu schützen. Von seinem dennoch vorhandenen erdrückend-schlechten Gewissen reinigt er sich mit einem haarsträubend-fantasievollen kathartischen Schock kurzerhand selbst, dennoch verändert seine neue Nebentätigkeit sein Leben auf völlig unvorhergesehene Weise und lässt alle seine lebenslangen Gewissheiten brüchig werden.

Denn das Lesen fremder privater Briefe öffnet Max nicht nur eine ganz neue Welt, von der er bisher nichts geahnt hatte und die sein menschliches Mitgefühl erwachen lässt, er lernt in der Person der eifrigen Briefeschreiberin Hannah, die er anders als die meisten Adressaten oder Absender auf der Praça Onze noch nie gesehen hat, auch ein vollkommen widersprüchliches und in jeder Hinsicht entgrenzendes Gefühl kennen, das ihm bislang gänzlich unbekannt war:

Doch jetzt [...] verstieß Max gegen all seine Vorsätze. Wie alle anderen war auch er eine Geisel seiner Leidenschaft, war in die Falle getappt, aus der seit dem Hohelied Salomons niemand heil herausgekommen war. Wer hätte gedacht, dass sein Dienst am Vaterland so ausarten würde? Ach, die Liebe! Wie viele sogenannte irrationale Wesen erliegen dieser Illusion, die vorgibt, das menschliche Geschlecht zu erhalten und zu zivilisieren, und stattdessen Milliarden ahnungsloser Seelen versklavt?

Um die über alle Maßen begehrte junge Frau endlich persönlich kennenzulernen, die in ihren Briefen immer wieder von ihrer lebendigen Beziehung zum Judentum berichtet, lässt sich auch der vollkommen areligiöse Max immer häufiger in der Gemeinde sehen.

Er ließ sich in Clubs und Schulen blicken und las die Zeitung von der ersten bis zur letzten Seite. Von der Totenwache ging es zum Tanzen, aus den Kneipen in die Synagoge. Am Kabbalat Schabbat im Beth Israel betete er mit gespielter Hingabe und sah sich dabei unauffällig nach ihr um. Die Suche nach Hannah war nicht nur zu seinem Lebensinhalt geworden, sondern entsprang auch dem Wunsch, etwas zu sein, das er bisher nie gewesen war: glücklich.

Durch Max' verzweifelte Suche erhalten wir als Leser zahlreiche unverhofft-intensive, ebenso stimmungsvolle wie sachkundige Einblicke in das innerhalb der schöngeistigen Literatur bisher kaum thematisierte Milieu osteuropäischer jüdischer Einwanderer im Brasilien der 30er und 40er Jahre, einem willkommenen literarischen Gegengewicht zu den so zahlreich vorhandenen Beschreibungen der zionistischen Einwanderung nach Palästina oder der US-amerikanischen Diaspora.

Im weiteren Verlauf der an zahlreichen überraschenden Pointen und kaum antizipierbaren Wendungen überaus reichen, im höchsten Maße unterhaltsamen Handlung muss der verliebte Schuster vielen unangenehmen, gar schmerzhaft-erniedrigenden Wahrheiten ins Auge blicken und erlebt dabei ein vollkommen ungewolltes, lang anhaltendes glückselig-unerfülltes Wechselbad der Gefühle, als er herausfindet, dass die zuckersüß-anmutige, zum Sterben schöne, in höchstem Maße begehrenswerte Hannah eine der zahlreichen, von aller Welt verachteten Polackinnen ist, eine jüdische Prostituierte, die der organisierte Menschenhandel des frühen Zwanzigsten Jahrhunderts in die Länder Südamerikas verschlagen hat – ein unfassbar scheinendes Phänomen, das den wenigsten Lesern in diesem Ausmaß bekannt gewesen sein dürfte.

Allerdings hat es in der Literaturgeschichte kaum je eine selbstbewusstere, klügere und selbstbestimmtere Prostituierte gegeben als Hannah, deren Geheimnisse scheinbar ohne Zahl sind und die mit Witz, Verstand und absolutem Willen zur perfekten Inszenierung nicht nur ihr eigenes Leben fest in der Hand hält, sondern auch das ihrer Kolleginnen mit Mut und Empathie aktiv gestaltet, ja sogar einen ausgeklügelten Sozialplan für diese umsetzt.

Glauben Sie, es interessiert mich, was irgendwelche Leute über mich reden? Mich interessiert nur, was sich in diesem Bett abspielt, sonst nichts, weil es hier nämlich mehr Respekt und Aufrichtigkeit gibt als draußen! Übrigens, zwei Dinge habe ich im Leben gelernt. Erstens, Respekt zu verdienen bedeutet nicht, ihn auch zu erlangen, und zweitens, Respekt zu erlangen bedeutet nicht, ihn auch zu verdienen.

Ronaldo Wrobels wunderbar vielschichtiger und von hintergründig-menschenfreundlichem Humor getragener Roman – sein erster ins Deutsche übersetzter – mit seinen zahlreichen unterschiedlichen, sich gegenseitig überlagernden Ebenen aus Liebesromanze, historisch-dokumentarischer Erzählung und Spionagegeschichte ist ein echtes Geschenk an alle geschichtlich oder am Judentum interessierten Leser und gleichzeitig ein einmaliges literarisches Denkmal für eine faszinierende untergangene Welt mit ihren einzigartig-unvergesslichen Protagonisten, die der langjährige Kolumnist des brasilianisch-jüdischen Magazins Menorah damit auf unnachahmliche Art wieder zum Leben erweckt.

Die unglaubliche Geschichte von Hannah und Max musste unbedingt geschrieben werden, wie der Autor selbst am Ende in einem überraschenden, geschickt mit der Handlung verknüpften Einblick in seine aufwendige Recherche mit seiner eigenen Erzählerstimme bekennt:

Ob gestern heute oder morgen, es wird immer Sündenböcke geben, es wird Säuberungen geben und Leute, die Hass predigen, weil sie, aus Mangel an etwas Gutem und Wahrhaftigem, das sie mit anderen teilen könnten, sich damit trösten, die Menschen und Dinge zu verachten, die sie nicht verstanden haben oder gar nicht verstehen wollen. Ich begriff endlich, wie sehr Tier und Mensch sich ähneln, wenn es darum geht, ihr Revier zu verteidigen. Bei den Menschen ist es in erster Linie ideelles Gelände, auf dem sie ihre Gewissheiten kultivieren, von wo aus sie über jeden schimpfen, der sie das Unbekannte erahnen lässt und sie auf die Idee bringt, der Gipfel ihres Wissens, der Höhepunkt ihrer Erkenntnisse könnte nicht mehr sein als eine kleine Erhebung in einem tiefen Tal, umgeben von den wirklich hohen Bergen.

Ein ebensolcher Bergriese ist ohne Zweifel auch dieser Roman.

„Hannahs Briefe“ aus dem Brasilianischen von Nicolai von Schweder-Schreiner, erschienen bei Aufbau, 328 Seiten, € 19,99

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