Obwohl
die düster-realistische Atmosphäre aus allgegenwärtiger
öffentlicher Korruption und rücksichtslosem Machtstreben des
organisierten Verbrechens auf den Straßen der israelischen Metropole
Tel-Aviv in Liad Shohams erstem nun in Deutsche übersetzten Roman
„Tag der Vergeltung“ deutliche Anklänge an so unbestrittene
Ausnahmeerscheinungen des Thrillergenres wie Graham Greene, John le
Carré oder Robert Littel liefert,
in deren auch literarisch hochstehenden Kriminalromanen sich für
gewöhnlich am Ende keiner der Beteiligten noch als moralischer
Gewinner fühlen darf, gibt es trotz einer angesichts des vom Autor
gewählten Sujets ähnlich begründet-pessimistischen Diagnose doch
einen wesentlichen Unterschied:
Der Dauergast auf den israelischen Bestsellerlisten verwöhnt seine
Leser in Anbetracht des bitteren Verlaufs der
spannend-nervenzehrenden Handlung auf der Zielgeraden gänzlich
unerwartet doch noch mit einem relativ umfassenden „Happy End“,
dessen sich allerdings lediglich die Protagonisten als Individuen
erfreuen dürfen, während die gesamtgesellschaftliche Perspektive
angesichts der von Shoham herausgearbeiteten Problemstellungen im
israelischen Justiz- und Polizeiapparat erwartungsgemäß finster
bleiben muss.
Äußerst geschickt spielt der praktizierende Rechtsanwalt Shoham
dabei mit der konventionellen Erwartungshaltung des Lesers – so
etwa, als der durchaus schuldbewusste Verdächtige, dem die brutale
Vergewaltigung in einem noblen Wohnviertel im Norden der Stadt zu
Last gelegt wird, mit dem der Roman so spektakulär beginnt, unter
dem Druck des mit allen psychologischen Kniffen, jedoch nicht ohne
Missverständnisse geführten polizeilichen Verhörs kurz davor
steht, innerlich zusammenzubrechen und die Tat zu gestehen:
Nevos Augen füllten sich mit Tränen. [...]
„Schreiben Sie es auf, schreiben Sie auf, wie Sie Adi Regev
vergewaltigt haben...“, sagte Eli Nachum und schob ihm das Papier
zu.
Für einen Moment meinte Ziv, er habe nicht richtig gehört,
vielleicht war die Müdigkeit daran schuld, dass er fantasierte.
[...]
Nachum hatte die ganze Zeit über von einem Mädchen gesprochen,
das vergewaltigt worden war. Er war einem Irrtum aufgesessen. Sie
suchten einen Vergewaltiger. Einen Vergewaltiger!
Doch Ziv Nevos Freude über die offensichtlich unbegründete
Beschuldigung währt nur kurz; ohnehin ist uns aus der literarischen
Schilderung seiner Innensicht während der Vernehmung klar, dass der
seit seiner Scheidung in massiven wirtschaftlichen Schwierigkeiten
befindliche arbeitslose Großhandelskaufmann ohne Zweifel stattdessen
ein anderes Verbrechen begangen haben muss.
Was ihm zum unerwarteten Verhängnis wird, ist zum einen die von der
Polizeidirektion ausgegebene Erfolgsvorgabe, der sich der alternde,
wegen seiner traditionellen Ermittlungsmethoden von seinen
Vorgesetzten und Untergebenen gleichermaßen misstrauisch beäugte
erzsympathische intuitive Schnüffler Eli Nachum ganz entgegen seiner
Gewohnheit trotz der wenig überzeugenden Beweislage mit aller Macht
zu beugen versucht und deshalb ein entscheidendendes Detail
vorsätzlich manipuliert, um den vermeintlichen Gewalttäter dennoch
hinter Gitter zu bringen.
Zum anderen hat sich Ziv, wie wir im weiteren Verlauf der Handlung
erfahren müssen, aus massiven Geldsorgen mit dem organisierten
Verbrechen eingelassen; da man befürchtet, der psychisch labile
Ex-Offizier könne statt des ihm zur Last gelegten Verbrechens die
tatsächlich von ihm im Auftrag der Mafia begangene minder schwere
Straftat gestehen und bei der Gelegenheit zusätzliche Interna
auspacken, wird er im Untersuchungsgefängnis brutal verprügelt, um
ihm somit unmissverständlich nahezulegen, die Vergewaltigung zu
gestehen, andernfalls werde man sich „um seinen fünfjährigen Sohn
kümmern“.
Doch auch die überforderte Justiz ist nur allzu gerne bereit, mit
dem gewieften Pflichtverteidiger einen faulen Kompromiss
auszuhandeln, der eine baldige Freilassung des nun plötzlich
geständigen Täters in Aussicht stellt. Als bald darauf eine weitere
junge Frau nach dem selben Muster vergewaltigt wird und Nevo diesmal
ganz offensichtlich nicht dafür verantwortlich gemacht werden kann,
müssen die Staatsorgane den Fall erneut aufrollen.
Doch außer dem unterdessen vom Dienst suspendierten Eli Nachhum
scheint niemand in der Lage zu sein, einen erfolgversprechenden
Ansatz zur Lösung des Falles zu finden. Bei seiner fieberhaften
Suche nach dem wahren Täter muss er sich ausgerechnet auf die Hilfe
des ehemaligen Hauptverdächtigen Ziv Nevo sowie eines
undurchsichtig-übermotivierten Lokalreporters verlassen.
Liad Shoham ist ein überraschend versierter, höchst einfallsreicher
und origineller Thrillerautor, der durch seine psychologisch
überzeugenden, im wechselnden Tonfall der einzelnen Protagonisten
höchst glaubwürdigen Perspektivwechsel von einem Kapitel zum
anderen eine geradezu atemberaubende Spannung aufbaut, der man sich
als Leser zu keinem Zeitpunkt entziehen kann. Für den
deutschsprachigen Markt muss Liad Shoham nicht zuletzt aufgrund des
exotisch-reizvollen Schauplatzes als außergewöhnlich profilierte
Neuentdeckung gelten, von der man in Zukunft unbedingt mehr lesen
möchte.
Nahezu alle seiner handelnden Personen sind mit verständnisinniger
Empathie gezeichnet, begehen jedoch ohne Ausnahme wenigstens einen
vermeintlich geringfügigen Fehler, der für jeden von ihnen im
Zusammenspiel der verschiedenen Kräfte völlig unkalkulierbare
Auswirkungen zeitigt. Hier wird auch die Anklage gegen ein
Justizsystem besonders deutlich, für das der Autor aufgrund des von
ihm ausgeübten Berufs als Rechtsanwalt als ausgewiesener Kenner
gelten muss und gegen dessen seelenlos-korrupte Technokratie das
brutal-autoritäre System des organisierten Verbrechens beinahe
familiär und transparent wirkt. Gleichzeitig gelingt es Liad Shoham
aber auch auf wunderbare Art und Weise, einfach nur Leben abzubilden.
„Tag der Vergeltung“, aus dem Hebräischen von Ulrike Harnisch,
erschienen bei DuMont, 351 Seiten, € 18,99
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