Jerusalem

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Dienstag, 5. März 2013

„Verschwundene Schätze“ von Miklós Bánffy

Das schöne an unverhofften Wiederentdeckungen aus längst vergangenen Literaturepochen ist die höchst angenehme und bequeme Tatsache, dass man sich als klassisch geschulter Leser über ein als gänzlich „neu” (im Sinne von „unentdeckt”) empfundenes Meisterwerk freuen darf, ohne bei der Lektüre möglicherweise störende formale Experimente oder andere unerwartete Extravaganzen hinnehmen zu müssen, wie sie bei einem tatsächlich „neuen” (im Sinne von „modernen”) literarischen Werk nicht nur zu erwarten, sondern auch durchaus wünschenswert wären.

Der Politiker, Diplomat, Theaterdirektor, Maler und Schriftsteller Graf Miklós Bánffy (1873-1950) entstammte einer der angesehensten und traditionsreichsten Adelsfamilien Österreich-Ungarns, deren hochherrschaftlicher Stammsitz, das von deutschen Truppen auf dem Rückzug verwüstete und vom kommunistischen Regime Rumäniens dem Verfall preisgegebene prächtige Barockschloß Bontida-Bánffy bei Klausenburg bzw. Cluj-Napoca bzw. Kolozsvár, derzeit mit finanzieller Unterstützung der EU aufwendig wiederhergestellt und zu einem repräsentativen kulturellen Zentrum ausgebaut wird.

Graf Bánffy, der 1926 für die rumänische Staatsbürgerschaft optiert hatte, um den Familienbesitz halten zu können, verharrte aus Sorge um das selbst als Ruine noch prächtige Schloss Bontida-Bánffy so lange in seiner zwischen Rumänien und Ungarn von jeher umstrittenen Heimat, bis eine Ausreise zu seiner bereits nach Budapest geflüchteten Familie nicht mehr möglich war. Erst ein Jahr vor seinem Tod durfte der schwer kranke ehemalige liberale ungarische Außenminister (1921-22) nach Ungarn ausreisen, wo er völlig verarmt starb.

Sein in Ungarn erst 1982 im Zuge des sich langsam abzeichnenden politischen Tauwetters wiederentdecktes literarisches Hauptwerk, die „Siebenbürger Geschichte”, das er in den Jahren 1934 bis 1940 schuf, ist eine formal wie inhaltlich gleichermaßen bestechende, epochale Romantrilogie als breit angelegte Chronik der im Verfall befindlichen Gesellschaftsverhältnisse Ungarns in der Zeit zwischen 1904 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs.



Der erste, knapp 800 Seiten umfassende Band seiner virtuosen Trilogie, "Die Schrift in Flammen", erschien im vergangenen Jahr unter großer Beachtung der Literaturkritik erstmals in deutscher Sprache. Aber auch der soeben veröffentlichte und mit 576 Seiten nur unwesentlich weniger umfangreiche zweite Band „Verschwundene Schätze“ darf ohne jegliche Abstriche als großartige literarische Wiederentdeckung allerersten Ranges und ebenbürtige Fortsetzung gewertet werden: Bánffy erweist sich darin erneut als melancholischer Meister der poetischen Weltdurchdringung.

Die Geduld, die der Leser angesichts der zahlreichen handelnden Personen mit unaussprechlich scheinenden Namen braucht, wird im Verlauf der Lektüre allerdings reich belohnt. Ohnehin haben lediglich sechs Personen für den Verlauf der Handlung entscheidende Bedeutung; die beiden wesentlichen Protagonisten aber sind der liberale Großgrundbesitzer Graf Bálint Abády mit einem großen Herz für die arme Landbevölkerung (in dem sich der Autor unverhohlen und deutlich erkennbar selbst porträtiert), ein sympathisch-nachdenklicher Idealist, der eine ebenso unvernünftige wie tiefe Liebesbeziehung zu der betörenden, jedoch leider bereits verheirateten Adrienne unterhält, sowie sein antagonistisch angelegter Cousin und Rivale László Gyeröffy, ein begnadeter Musiker, charismatischer Unterhalter und charmanter Blender mit einer fatalen Leidenschaft für das Glücksspiel.

Am Ende des zweiten Bandes, der vom Zerbrechen der fragilen nationalistischen Koalition gegen Ende des Jahres 1909 markiert wird, lässt sich in Bánffys schonungsloser politischer Analyse bereits im scheinbar unverbrüchlichen Frieden des Habsburgerreiches die heraufziehende europäische Urkatastrophe in ihrer spezifisch ungarischen Ausprägung erahnen:

Eine Ära ging hier zu Ende. Ihre Bilanz kannte nur Negatives. Sie bestand aus lauter Versäumnissen. Was man auf dem Gebiet der Landesverteidigung vernachlässigt hatte, wog am schwersten. Das Land hatte auf solche Art vier Jahre verloren. Vier unwiederbringliche Jahre. Sowohl Italien als auch Serbien waren zu der Zeit auf einen Krieg schon besser vorbereitet als die Doppelmonarchie. [...] Noch eine halbe Stunde. Dann wird er aussteigen, sich in die wartende Kalesche setzen. Eine weitere halbe Stunde, und er ist am Ziel, im Schloss Szent-Györgyi. Er wird dort erwartet. Es wird sich erfüllen, was er am Morgen als einzige Antwort auf Adriennes Brief ihr in einem Telegramm geschrieben hat: „Heute Mittag reise ich nach Jablanka, wie von Ihnen befohlen.“

So ist die glänzend erzählte und kurzweilig zu lesende Trilogie der „Siebenbürger Geschichte“ vor allem ein bitter-einmaliges literarisches Dokument der politischen Sorg- und Ahnungslosigkeit sowie eines umfassenden gesamtgesellschaftlichen Scheiterns. Nicht umsonst klingen die ungarischen Originaltitel der einzelnen Bbände an das berühmte alttestamentarische, in den abendländischen Sprichwortschatz eingegangene „Menetekel“ an: „gezählt, gewogen, für zu leicht befunden und zerteilt“, wie der kongeniale Übersetzer Andreas Oplatka in seinem kenntnisreichen Nachwort anmerkt.

Vor dem farbenprächtig ausgemalten Hintergrund zahlreicher exklusiver gesellschaftlicher Anlässe und politischer Intrigen breitet der sprachmächtig-empathische Autor alle erdenklichen Facetten menschlicher Lebensäußerungen auf so meisterhafte, einfühlsam-nachsichtige und psychologisch ausgereifte Art vor uns aus, dass man der Handlung bis zum Schluss atemlos folgen muss und kaum anders kann, als selbst noch den miesesten Schuften mit größtem Verständnis und Mitgefühl zu begegnen. Miklós Bánffy ist von einem englischen Literaturkritiker zu Recht der „Tolstoi Transsylvaniens“ genannt worden.

„Verschwundene Schätze“, aus dem Ungarischen von Andreas Oplatka, erschienen bei Zsolnay, 576 Seiten, € 27,90

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