Das
schöne an unverhofften Wiederentdeckungen aus längst vergangenen
Literaturepochen ist die höchst angenehme und bequeme Tatsache, dass
man sich als klassisch geschulter Leser über ein als gänzlich „neu”
(im Sinne von „unentdeckt”) empfundenes Meisterwerk freuen darf,
ohne bei der Lektüre möglicherweise störende formale Experimente
oder andere unerwartete Extravaganzen hinnehmen zu müssen, wie sie
bei einem tatsächlich „neuen” (im Sinne von „modernen”)
literarischen Werk nicht nur zu erwarten, sondern auch durchaus
wünschenswert wären.
Der
Politiker, Diplomat, Theaterdirektor, Maler und Schriftsteller Graf
Miklós Bánffy (1873-1950) entstammte einer der angesehensten und
traditionsreichsten Adelsfamilien Österreich-Ungarns, deren
hochherrschaftlicher Stammsitz, das von deutschen Truppen auf dem
Rückzug verwüstete und vom kommunistischen Regime Rumäniens dem
Verfall preisgegebene prächtige Barockschloß Bontida-Bánffy bei
Klausenburg bzw. Cluj-Napoca bzw. Kolozsvár, derzeit mit
finanzieller Unterstützung der EU aufwendig wiederhergestellt und zu
einem repräsentativen kulturellen Zentrum ausgebaut wird.
Graf
Bánffy, der 1926 für die rumänische Staatsbürgerschaft optiert
hatte, um den Familienbesitz halten zu können, verharrte aus Sorge
um das selbst als Ruine noch prächtige Schloss Bontida-Bánffy so
lange in seiner zwischen Rumänien und Ungarn von jeher umstrittenen
Heimat, bis eine Ausreise zu seiner bereits nach Budapest
geflüchteten Familie nicht mehr möglich war. Erst ein Jahr vor
seinem Tod durfte der schwer kranke ehemalige liberale ungarische
Außenminister (1921-22) nach Ungarn ausreisen, wo er völlig verarmt
starb.
Sein
in Ungarn erst 1982 im Zuge des sich langsam abzeichnenden
politischen Tauwetters wiederentdecktes literarisches Hauptwerk, die
„Siebenbürger Geschichte”, das er in den Jahren 1934 bis 1940
schuf, ist eine formal wie inhaltlich gleichermaßen bestechende,
epochale Romantrilogie als breit angelegte Chronik der im Verfall
befindlichen Gesellschaftsverhältnisse Ungarns in der Zeit zwischen
1904 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs.
Der
erste, knapp 800 Seiten umfassende Band seiner virtuosen Trilogie, "Die Schrift in Flammen",
erschien im vergangenen Jahr unter großer Beachtung der
Literaturkritik erstmals in deutscher Sprache. Aber auch der soeben
veröffentlichte und mit 576 Seiten nur unwesentlich weniger
umfangreiche zweite Band „Verschwundene Schätze“ darf ohne
jegliche Abstriche als großartige literarische Wiederentdeckung
allerersten Ranges und ebenbürtige Fortsetzung gewertet werden:
Bánffy erweist sich darin erneut als melancholischer Meister der
poetischen Weltdurchdringung.
Die
Geduld, die der Leser angesichts der zahlreichen handelnden Personen
mit unaussprechlich scheinenden Namen braucht, wird im Verlauf der
Lektüre allerdings reich belohnt. Ohnehin haben lediglich sechs
Personen für den Verlauf der Handlung entscheidende Bedeutung; die
beiden wesentlichen Protagonisten aber sind der liberale
Großgrundbesitzer Graf Bálint Abády mit einem großen Herz für
die arme Landbevölkerung (in dem sich der Autor unverhohlen und
deutlich erkennbar selbst porträtiert), ein
sympathisch-nachdenklicher Idealist, der eine ebenso unvernünftige
wie tiefe Liebesbeziehung zu der betörenden, jedoch leider bereits
verheirateten Adrienne unterhält, sowie sein antagonistisch
angelegter Cousin und Rivale László Gyeröffy, ein begnadeter
Musiker, charismatischer Unterhalter und charmanter Blender mit einer
fatalen Leidenschaft für das Glücksspiel.
Am
Ende des zweiten Bandes, der vom Zerbrechen der fragilen
nationalistischen Koalition gegen Ende des Jahres 1909 markiert wird,
lässt sich in Bánffys schonungsloser politischer Analyse bereits im
scheinbar unverbrüchlichen Frieden des Habsburgerreiches die
heraufziehende europäische Urkatastrophe in ihrer spezifisch
ungarischen Ausprägung erahnen:
Eine
Ära ging hier zu Ende. Ihre Bilanz kannte nur Negatives. Sie bestand
aus lauter Versäumnissen. Was man auf dem Gebiet der
Landesverteidigung vernachlässigt hatte, wog am schwersten. Das Land
hatte auf solche Art vier Jahre verloren. Vier unwiederbringliche
Jahre. Sowohl Italien als auch Serbien waren zu der Zeit auf einen
Krieg schon besser vorbereitet als die Doppelmonarchie. [...] Noch
eine halbe Stunde. Dann wird er aussteigen, sich in die wartende
Kalesche setzen. Eine weitere halbe Stunde, und er ist am Ziel, im
Schloss Szent-Györgyi. Er wird dort erwartet. Es wird sich erfüllen,
was er am Morgen als einzige Antwort auf Adriennes Brief ihr in einem
Telegramm geschrieben hat: „Heute Mittag reise ich nach Jablanka,
wie von Ihnen befohlen.“
So ist
die glänzend erzählte und kurzweilig zu lesende Trilogie der
„Siebenbürger Geschichte“ vor allem ein bitter-einmaliges
literarisches Dokument der politischen Sorg- und Ahnungslosigkeit
sowie eines umfassenden gesamtgesellschaftlichen Scheiterns. Nicht
umsonst klingen die ungarischen Originaltitel der einzelnen Bbände
an das berühmte alttestamentarische, in den abendländischen
Sprichwortschatz eingegangene „Menetekel“ an: „gezählt,
gewogen, für zu leicht befunden und zerteilt“, wie der kongeniale
Übersetzer Andreas Oplatka in seinem kenntnisreichen Nachwort
anmerkt.
Vor
dem farbenprächtig ausgemalten Hintergrund zahlreicher exklusiver
gesellschaftlicher Anlässe und politischer Intrigen breitet der
sprachmächtig-empathische Autor alle erdenklichen Facetten
menschlicher Lebensäußerungen auf so meisterhafte,
einfühlsam-nachsichtige und psychologisch ausgereifte Art vor uns
aus, dass man der Handlung bis zum Schluss atemlos folgen muss und
kaum anders kann, als selbst noch den miesesten Schuften mit größtem
Verständnis und Mitgefühl zu begegnen. Miklós Bánffy ist von
einem englischen Literaturkritiker zu Recht der „Tolstoi
Transsylvaniens“ genannt worden.
„Verschwundene Schätze“, aus dem Ungarischen von Andreas Oplatka, erschienen bei
Zsolnay, 576 Seiten, € 27,90
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