Jerusalem

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Samstag, 23. März 2013

„Die Sängerin aus dem Ghetto“ von Agata Tuszyńska

Hilfe!! Die Clique Szpilman und Polanski will mich umbringen! Hilfe!!

Dieser verstörend-paranoid anmutende Satz, wiedergegeben von der Journalistin, Schriftstellerin und gefeierten Biografin Isaac Bashevis Singers Agata Tuszyńska in ihrem klugen, soeben erschienenen Buch „Die Sängerin aus dem Ghetto“, stand in großen roten Lettern an der Flurwand der letzten Wohnung der im Jahr 2007 im Alter von 91 Jahren in Paris verstorbenen jüdisch-polnischen Sängerin Wiera Gran, einer schillernden Protagonistin und Überlebenden des berüchtigten Warschauer Ghettos, die sich seit der Befreiung Polens über zwei Drittel ihres langen Lebens bei Auftritten rund um die Welt immer wieder mit denselben haltlosen Vorwürfen anderer ehemaliger Leidensgenossen konfrontiert fand und deshalb ihre vor dem Krieg viel versprechende Karriere nie in dem Maße fortsetzen konnte, wie es ihr angesichts ihres herausragenden und allgemein bewunderten Talents vorherbestimmt zu sein schien.

„Ich will ein Buch über Sie schreiben“, erklärt die Autorin der zu diesem Zeitpunkt bereits weit über achtzigjährigen Wiera Gran, nachdem sie im Laufe zahlreicher Besuche endlich das Vertrauen der überall Verrat und feindliche Agenten witternden altersschwachen, jedoch immer noch beeindruckend-kämpferischen, vollkommen isoliert lebenden Diva gewonnen hat:

Davor habe ich keine Angst. Man hat bereits so viele Lügen über mich verbreitet, Sie müssen bedenken, ich bin dieser Herr K. von Kafka.“



Es kommt im weiten Feld der NS-Erinnerungsliteratur ausgesprochen selten vor, dass in den Biografien von zwei verschiedenen miteinander bekannten prominenten Opfern der Schoah ein und dasselbe Ereignis in ihren jeweiligen Büchern aus unterschiedlicher Perspektive geschildert wird. Die bereits 1946 erstmals erschienenen und 1998 in modifizierter Form erneut aufgelegten Erinnerungen des Pianisten und Komponisten Władysław Szpilman sind insbesondere durch die Oscar-prämierte Verfilmung unter dem Titel „Der Pianist“ durch Roman Polanski im Jahr 2001 einem großen internationalen Publikum bekannt geworden.

Der langjährige Leiter der Musikabteilung des Polnischen Rundfunks (bis 1963) hatte nach der Liquidierung des Ghettos in seinem Warschauer Dachbodenversteck vor allem Dank der Hilfe eines deutschen Offiziers überleben können, der ihn über Wochen und bis kurz vor der endgültigen Befreiung durch sowjetische Truppen mit Nahrungsmitteln und warmer Kleidung versorgte.

Die zu Beginn des Krieges bereits bekannte Sängerin Wiera Gran hingegen, die sich schon kurz nach dem deutschen Überfall auf Polen in Sicherheit gebracht hatte und ihren Lebensunterhalt durchaus erfolgreich als Mitglied einer staatlichen Varietétruppe in der Sowjetunion bestritt, kehrte aus Sorge um ihre Mutter im Frühjahr 1941 freiwillig nach Warschau zurück, wo ihr Mann, ebenfalls jüdischer Herkunft, dank seines polnischen Namens und seines katholischen Glaubens eine Anstellung als Krankenhausarzt fand, während sie aus freien Stücken ins neu geschaffene Ghetto übersiedelte, um ausgerechnet dort weiterhin ihrer Berufung als Sängerin nachgehen zu können.

Wo in dieser vom Typhus bedrohten Welt war Raum für Applaus, Scheinwerfer, die Klänge von Klaviermusik? Ich sehe es nicht.
In jenem Moment begriff Wiera meiner Meinung nach nicht, dass sie mit dem Singen hätte aufhören sollen. Der Gedanke kam ihr gar nicht in den Sinn. Sie klammerte sich an ihre Arbeit. Singen war ihr Ein und Alles. Applaus war ihr Leben, er bedeutete Zugehörigkeit und Bewunderung. So sehe ich es. Aus allem, was sie tat, aus all ihren Entscheidungen spricht: Ich will leben wie vorher, ich will sein wie vorher – bewundert, außergewöhnlich, allmächtig.
Wie hätte ich denn wissen können, was passieren würde?“

In der Tat dauerte es nicht lange, bis Wiera Gran sich zu einer festen Größe in der aus heutiger Sicht überraschend komplexen und breit gefächerten Kulturszene des Ghettos entwickelt hatte, die Dank ihrer exorbitanten Gagen laut eigenen Aussagen – wofür sich allerdings keine Belege finden lassen – ein privates Waisenheim eröffnen konnte und allabendlich im teuersten Lokal des polizeilich abgeriegelten Judenbezirks, dem Sztuka, auftreten konnte: um sie zu sehen, seien regelmäßig sogar Nichtjuden verbotenerweise von der so genannten „arischen Seite“ ins Ghetto gekommen:

Für seine Stammgäste war es das eleganteste Lokal und die Zuflucht der Intellektuellen. Professor Ludwig Hirszfeld, Jerzy Jurandot und der junge Reich-Ranicki, Kritiker der Jüdischen Zeitung verkehrten dort. Für seine Feinde war es ein Tummelplatz hoher Tiere mit dicken Brieftaschen. [...] Irena Sendler, Mitglied der legendären Untergrundorganisation Żegota (Rat für die Unterstützung der Juden), die viele jüdische Kinder rettete, verbrachte zwei Abende im abgeriegelten Viertel. Man wollte ihr zeigen, dass das Leben hinter der Mauer nicht nur Hunger und Tod bedeutete, und lud sie ins Sztuka ein. Sie traute ihren Augen nicht. Elegant gekleidete Gäste, auf den Tischen Lachs, Gebäck, Champagner. Dem Publikum standen Tränen in den Augen, wenn Wiera Gran sang. Sendler schwört, dass alle weinten.

Hier besorgte die Diva dem Pianisten Władysław Szpilman, der sie schon vor dem Krieg gelegentlich am Klavier begleitet hatte, auf seine explizite Bitte hin ein festes Engagement als einer ihrer beiden festen musikalischen Begleiter. Als sich die Anzeichen mehrten, dass die Deutschen das Ghetto auflösen und bald mit Deporationen in den sicheren Tod beginnen würden, gelang es Wiera Gran abermals mit der Hilfe ihres Mannes, das Ghetto zu verlassen und ein vergleichsweise sicheres Versteck in einem kleinen Dorf in der unmittelbaren Nähe der polnischen Hauptstadt zu beziehen, wo sie den Krieg, anders als so viele Warschauer Juden, wohlbehalten überstand.

Als sie bald nach der Befreiung den ebenfalls unversehrten Władysław Szpilman aufsuchte, der mittlerweile eine verantwortungsvolle Position im neu organisierten Polnischen Rundfunk innehatte, um ihn um Vermittlung eines Engagements zu bitten, verweigerte er ihr dies wiederholt mit dem Verweis auf angeblich kursierende Gerüchte, sie habe während der Zeit der deutschen Besatzung aktiv mit der Gestapo zusammengearbeitet. Und so begann für Wiera Gran zu einem Zeitpunkt, an dem sie eigentlich hoffen durfte, die schlimmste Zeit ihres Lebens glücklich überstanden zu haben, eine neue unendlich scheinende Leidenszeit, die sich schließlich – von wenigen unbeschwert-erfolgreichen Phasen abgesehen – bis zu ihrem Tod erstrecken sollte.

Zwar wurde sie im Verlauf der Jahre von allen maßgeblichen juristischen Instanzen von diesem schrecklichen Verdacht freigesprochen, und selbst der berühmte „Nazijäger“ Simon Wiesenthal bescheinigte ihr 1972, dass ihr Name nicht „auf der Liste derjenigen stehe, die mit den Deutschen kollaboriert haben“, dennoch gab es während all ihrer Stationen rund um die Welt auf der rastlosen Suche nach Anerkennung immer wieder einflussreiche Weggefährten von früher, die diese Gerüchte aus heute kaum noch eindeutig zu klärenden Gründen bereitwillig aufwärmten, so etwa im Vorfeld einer geplanten umfangreichen Israel-Tournee im Frühjahr 1956:

Die Wahrheit kommt ans Licht.“
Flugblätter mit dieser versteckten Warnung, bei der auch der Wunsch nach Lynchjustiz mitschwang, wurden auf Polnisch, Hebräisch, Französisch und Russisch von Kindern verteilt, auf der Straße, in Cafés und am Eingang des Lokals, wo sie singen sollte. Ein Aufruf zum Boykott der „Nazihure“.

Agata Tuszyńska wartet in ihrer blitzgescheiten und auch politisch höchst scharfsinnigen Recherche über das unruhig-bewegte Leben einer mit großer Wahrscheinlichkeit lebenslang zu Unrecht beschuldigten, ebenso charismatischen wie begabten, aber leider moralisch kurzsichtigen Künstlerin aus gutem Grund nicht mit den hinlänglich bekannten grauenhaften Details der Schoah auf, welche sie mit einigem Recht als allgemein bekannt voraussetzen darf; ihr mit nachhaltig ernüchternder Faszination zu lesendes Buch über die Unmöglichkeit der Aufrechterhaltung einer autonomen künstlerischen Identität in Zeiten von Tyrannei, totalem Krieg und den üblichen Kategorien von Moral entzogenem Kampf des Einzelnen ums blanke Überleben ist ein umso erschreckenderes Beispiel dafür, wie nahezu unmöglich es für die mit diesen ihnen von den Besatzern mit Gewalt aufgezwungenen, vollkommen entgrenzten Kategorien in Berührung Gekommenen ist, sich in ihrem „Nachleben“ nicht nur vollkommen von ihren bitteren Erinnerungen zu befreien, sondern auch das unsichtbar in ihrer Psyche nachwirkende Krebsgeschwür der vollkommen amoralischen nationalsozialistischen „Ordnung“ gedanklich loszulassen.

Für die ewig gleichförmigen in ihrem Buch beschriebenen Ereignisse, die man als unabwendbaren Kreislauf aus verzweifeltem Streben nach erneuertem künstlerischen Ausdruck und den damit verbundenen an- und abschwellenden Wellen von Kollaborationsvorwürfen beschreiben könnte, findet die unermüdliche Autorin zahlreiche mögliche plausible Gründe, die größtenteils jedoch daran kranken, heute weder auf überzeugende Art und Weise bewiesen noch widerlegt werden zu können. Am Ende bleiben als überzeugendste Hintergründe nur zahlreiche irrationale persönliche Verletzungen, Eitelkeiten, Eifersucht sowie enttäuschte Liebe – so banal und so furchtbar kann das Leben sein.

Jahre später revanchierte sich Wiera Gran an Władysław Szpilman, der in ihren Augen treibenden Kraft hinter der lebenslangen beispiellos-niederträchtigen Schmutzkampagne gegen ihre Person, indem sie wiederholt aussagte, zuletzt 1996 vor der amerikanischen Stiftung „Shoah Visual History“, sie habe ihren Klavierbegleiter während einer von ihr vom Fenster aus beobachteten Deportationsaktion der Nationalsozialisten zweifelsfrei als jüdischen Kapo mit Polizistenmütze identifiziert, wie er mit einem Holzknüppel auf eine abzutransportierende Frau einprügelte:

Es waren die Hände des – Pianisten, die diese schändliche Tat begingen! Ich habe ihn gesehen, mit meinen eigenen Augen. Er hat den Krieg überlebt. Er soll wissen, dass ich ihn gesehen habe.“

Ein weiterer über jeden Zweifel erhabene Zeitzeuge, der im Buch detailliert zu Wort kommt, weil er regelmäßig im Sztuka verkehrte, der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, hält beide im Buch aufgestellten Verdächtigungen jedoch für vollkommen abwegig:

Man darf die Musiker, die im Ghetto spielten nicht als Kollaborateure bezeichnen. Keinen. Was Wiera Gran betrifft, kann ich Ihnen nichts garantieren. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass sie nicht kollaborierte, trotz gegenteiliger Gerüchte. Im Ghetto zählte vor allem die Musik. Was sich dort abspielte, ließ sich nicht in Worte fassen. Aber anders als die Musik enthielten die Worte Urteile, sie fabrizierten Legenden.

Es ist Agata Tuszyńskas großes, kaum hoch genug einzuschätzendes Verdienst, überzeugende Worte für den bitteren Lebensweg einer begabten Sängerin und Verführerin, ihrer zahlreichen Triumphe und noch zahlreicheren Irrtümer sowie für ihre fehlgeleitete Wirkung auf ihre Zeitgenossen in einer in jeder Hinsicht verrückten, aus dem Takt geratenen Geschichtsepoche gefunden zu haben. Im verdienstvollen Bemühen der Autorin, für sich und ihre Leser ein umfangreiches Begreifen zu schaffen, entsteht dabei das Bild einer trotz aller Schicksalsschläge mutigen, selbstbewussten und kämpferisch-unbeugsamen, beeindruckenden Frau, deren von Widersprüchen geprägte Geschichte die Autorin mit großer Sympathie erzählt, aber ohne sie oder ihre Gegner jemals zu verurteilen.

„Die Sängerin aus dem Ghetto – Das Leben der Wiera Gran“, aus dem Französischen von Xenia Osthelder, erschienen bei Insel, 373 Seiten, € 26,95

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