Hilfe!! Die Clique Szpilman und Polanski will mich umbringen!
Hilfe!!
Dieser verstörend-paranoid anmutende Satz, wiedergegeben von der
Journalistin, Schriftstellerin und gefeierten Biografin Isaac
Bashevis Singers Agata Tuszyńska
in ihrem klugen, soeben erschienenen Buch „Die Sängerin aus
dem Ghetto“, stand in großen roten Lettern an der Flurwand
der letzten Wohnung der im Jahr 2007 im Alter von 91 Jahren in Paris
verstorbenen jüdisch-polnischen Sängerin Wiera Gran, einer
schillernden Protagonistin und Überlebenden des berüchtigten
Warschauer Ghettos, die sich seit der Befreiung Polens über zwei
Drittel ihres langen Lebens bei Auftritten rund um die Welt immer
wieder mit denselben haltlosen Vorwürfen anderer ehemaliger
Leidensgenossen konfrontiert fand und deshalb ihre vor dem Krieg viel
versprechende Karriere nie in dem Maße fortsetzen konnte, wie
es ihr angesichts ihres herausragenden und allgemein bewunderten
Talents vorherbestimmt zu sein schien.
„Ich will ein Buch über Sie schreiben“, erklärt die
Autorin der zu diesem Zeitpunkt bereits weit über
achtzigjährigen Wiera Gran, nachdem sie im Laufe zahlreicher
Besuche endlich das Vertrauen der überall Verrat und feindliche
Agenten witternden altersschwachen, jedoch immer noch
beeindruckend-kämpferischen, vollkommen isoliert lebenden Diva
gewonnen hat:
„Davor habe ich keine Angst. Man hat bereits so viele Lügen
über mich verbreitet, Sie müssen bedenken, ich bin dieser
Herr K. von Kafka.“
Es
kommt im weiten Feld der NS-Erinnerungsliteratur ausgesprochen selten
vor, dass in den Biografien von zwei verschiedenen miteinander
bekannten prominenten Opfern der Schoah ein und dasselbe Ereignis in
ihren jeweiligen Büchern aus unterschiedlicher Perspektive
geschildert wird. Die bereits 1946 erstmals erschienenen und 1998 in
modifizierter Form erneut aufgelegten Erinnerungen des Pianisten und
Komponisten Władysław Szpilman
sind insbesondere durch die Oscar-prämierte Verfilmung unter dem
Titel „Der Pianist“ durch Roman Polanski im Jahr 2001 einem
großen internationalen Publikum bekannt geworden.
Der langjährige Leiter der Musikabteilung des Polnischen
Rundfunks (bis 1963) hatte nach der Liquidierung des Ghettos in
seinem Warschauer Dachbodenversteck vor allem Dank der Hilfe eines
deutschen Offiziers überleben können, der ihn über
Wochen und bis kurz vor der endgültigen Befreiung durch
sowjetische Truppen mit Nahrungsmitteln und warmer Kleidung
versorgte.
Die zu Beginn des Krieges bereits bekannte Sängerin Wiera Gran
hingegen, die sich schon kurz nach dem deutschen Überfall auf
Polen in Sicherheit gebracht hatte und ihren Lebensunterhalt durchaus
erfolgreich als Mitglied einer staatlichen Varietétruppe in
der Sowjetunion bestritt, kehrte aus Sorge um ihre Mutter im Frühjahr
1941 freiwillig nach Warschau zurück, wo ihr Mann, ebenfalls
jüdischer Herkunft, dank seines polnischen Namens und seines
katholischen Glaubens eine Anstellung als Krankenhausarzt fand,
während sie aus freien Stücken ins neu geschaffene Ghetto
übersiedelte, um ausgerechnet dort weiterhin ihrer Berufung als
Sängerin nachgehen zu können.
Wo in dieser vom Typhus bedrohten Welt war Raum für Applaus,
Scheinwerfer, die Klänge von Klaviermusik? Ich sehe es nicht.
In jenem Moment begriff Wiera meiner Meinung nach nicht, dass sie
mit dem Singen hätte aufhören sollen. Der Gedanke kam ihr
gar nicht in den Sinn. Sie klammerte sich an ihre Arbeit. Singen war
ihr Ein und Alles. Applaus war ihr Leben, er bedeutete Zugehörigkeit
und Bewunderung. So sehe ich es. Aus allem, was sie tat, aus all
ihren Entscheidungen spricht: Ich will leben wie vorher, ich will
sein wie vorher – bewundert, außergewöhnlich,
allmächtig.
„Wie hätte ich denn wissen können, was passieren
würde?“
In der Tat dauerte es nicht lange, bis Wiera Gran sich zu einer
festen Größe in der aus heutiger Sicht überraschend
komplexen und breit gefächerten Kulturszene des Ghettos
entwickelt hatte, die Dank ihrer exorbitanten Gagen laut eigenen
Aussagen – wofür sich allerdings keine Belege finden lassen –
ein privates Waisenheim eröffnen konnte und allabendlich im
teuersten Lokal des polizeilich abgeriegelten Judenbezirks, dem
Sztuka, auftreten konnte: um sie zu sehen, seien regelmäßig
sogar Nichtjuden verbotenerweise von der so genannten „arischen
Seite“ ins Ghetto gekommen:
Für seine Stammgäste war es das eleganteste Lokal und
die Zuflucht der Intellektuellen. Professor Ludwig Hirszfeld, Jerzy
Jurandot und der junge Reich-Ranicki, Kritiker der Jüdischen
Zeitung verkehrten dort. Für seine Feinde war es ein Tummelplatz
hoher Tiere mit dicken Brieftaschen. [...] Irena Sendler, Mitglied
der legendären Untergrundorganisation Żegota
(Rat für die Unterstützung der Juden), die viele jüdische
Kinder rettete, verbrachte zwei Abende im abgeriegelten Viertel. Man
wollte ihr zeigen, dass das Leben hinter der Mauer nicht nur Hunger
und Tod bedeutete, und lud sie ins Sztuka ein. Sie traute ihren Augen
nicht. Elegant gekleidete Gäste, auf den Tischen Lachs, Gebäck,
Champagner. Dem Publikum standen Tränen in den Augen, wenn Wiera
Gran sang. Sendler schwört, dass alle weinten.
Hier besorgte die Diva dem Pianisten Władysław
Szpilman, der sie schon vor dem Krieg gelegentlich am Klavier
begleitet hatte, auf seine explizite Bitte hin ein festes Engagement
als einer ihrer beiden festen musikalischen Begleiter. Als sich die
Anzeichen mehrten, dass die Deutschen das Ghetto auflösen und
bald mit Deporationen in den sicheren Tod beginnen würden,
gelang es Wiera Gran abermals mit der Hilfe ihres Mannes, das Ghetto
zu verlassen und ein vergleichsweise sicheres Versteck in einem
kleinen Dorf in der unmittelbaren Nähe der polnischen Hauptstadt
zu beziehen, wo sie den Krieg, anders als so viele Warschauer Juden,
wohlbehalten überstand.
Als sie bald nach der Befreiung den ebenfalls unversehrten Władysław
Szpilman aufsuchte, der mittlerweile eine verantwortungsvolle
Position im neu organisierten Polnischen Rundfunk innehatte, um ihn
um Vermittlung eines Engagements zu bitten, verweigerte er ihr dies
wiederholt mit dem Verweis auf angeblich kursierende Gerüchte,
sie habe während der Zeit der deutschen Besatzung aktiv mit der
Gestapo zusammengearbeitet. Und so begann für Wiera Gran zu
einem Zeitpunkt, an dem sie eigentlich hoffen durfte, die schlimmste
Zeit ihres Lebens glücklich überstanden zu haben, eine neue
unendlich scheinende Leidenszeit, die sich schließlich – von
wenigen unbeschwert-erfolgreichen Phasen abgesehen – bis zu ihrem
Tod erstrecken sollte.
Zwar wurde sie im Verlauf der Jahre von allen maßgeblichen
juristischen Instanzen von diesem schrecklichen Verdacht
freigesprochen, und selbst der berühmte „Nazijäger“
Simon Wiesenthal bescheinigte ihr 1972, dass ihr Name nicht „auf
der Liste derjenigen stehe, die mit den Deutschen kollaboriert
haben“, dennoch gab es während all ihrer Stationen rund um
die Welt auf der rastlosen Suche nach Anerkennung immer wieder
einflussreiche Weggefährten von früher, die diese Gerüchte
aus heute kaum noch eindeutig zu klärenden Gründen
bereitwillig aufwärmten, so etwa im Vorfeld einer geplanten
umfangreichen Israel-Tournee im Frühjahr 1956:
„Die Wahrheit kommt ans Licht.“
Flugblätter mit dieser versteckten Warnung, bei der auch der
Wunsch nach Lynchjustiz mitschwang, wurden auf Polnisch, Hebräisch,
Französisch und Russisch von Kindern verteilt, auf der Straße,
in Cafés und am Eingang des Lokals, wo sie singen sollte. Ein
Aufruf zum Boykott der „Nazihure“.
Agata Tuszyńska wartet in
ihrer blitzgescheiten und auch politisch höchst scharfsinnigen
Recherche über das unruhig-bewegte Leben einer mit großer
Wahrscheinlichkeit lebenslang zu Unrecht beschuldigten, ebenso
charismatischen wie begabten, aber leider moralisch kurzsichtigen
Künstlerin aus gutem Grund nicht mit den hinlänglich
bekannten grauenhaften Details der Schoah auf, welche sie mit einigem
Recht als allgemein bekannt voraussetzen darf; ihr mit nachhaltig
ernüchternder Faszination zu lesendes Buch über die
Unmöglichkeit der Aufrechterhaltung einer autonomen
künstlerischen Identität in Zeiten von Tyrannei, totalem
Krieg und den üblichen Kategorien von Moral entzogenem Kampf des
Einzelnen ums blanke Überleben ist ein umso erschreckenderes
Beispiel dafür, wie nahezu unmöglich es für die mit
diesen ihnen von den Besatzern mit Gewalt aufgezwungenen, vollkommen
entgrenzten Kategorien in Berührung Gekommenen ist, sich in
ihrem „Nachleben“ nicht nur vollkommen von ihren bitteren
Erinnerungen zu befreien, sondern auch das unsichtbar in ihrer Psyche
nachwirkende Krebsgeschwür der vollkommen amoralischen
nationalsozialistischen „Ordnung“ gedanklich loszulassen.
Für die ewig gleichförmigen in ihrem Buch beschriebenen
Ereignisse, die man als unabwendbaren Kreislauf aus verzweifeltem
Streben nach erneuertem künstlerischen Ausdruck und den damit
verbundenen an- und abschwellenden Wellen von Kollaborationsvorwürfen
beschreiben könnte, findet die unermüdliche Autorin
zahlreiche mögliche plausible Gründe, die größtenteils
jedoch daran kranken, heute weder auf überzeugende Art und Weise
bewiesen noch widerlegt werden zu können. Am Ende bleiben als
überzeugendste Hintergründe nur zahlreiche irrationale
persönliche Verletzungen, Eitelkeiten, Eifersucht sowie
enttäuschte Liebe – so banal und so furchtbar kann das Leben
sein.
Jahre später revanchierte sich Wiera Gran an Władysław
Szpilman, der in ihren Augen treibenden Kraft hinter der lebenslangen
beispiellos-niederträchtigen Schmutzkampagne gegen ihre Person,
indem sie wiederholt aussagte, zuletzt 1996 vor der amerikanischen
Stiftung „Shoah Visual History“, sie habe ihren Klavierbegleiter
während einer von ihr vom Fenster aus beobachteten
Deportationsaktion der Nationalsozialisten zweifelsfrei als jüdischen
Kapo mit Polizistenmütze identifiziert, wie er mit einem
Holzknüppel auf eine abzutransportierende Frau einprügelte:
„Es waren die Hände des – Pianisten, die diese
schändliche Tat begingen! Ich habe ihn gesehen, mit meinen
eigenen Augen. Er hat den Krieg überlebt. Er soll wissen, dass
ich ihn gesehen habe.“
Ein weiterer über jeden Zweifel erhabene Zeitzeuge, der im Buch
detailliert zu Wort kommt, weil er regelmäßig im Sztuka
verkehrte, der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, hält
beide im Buch aufgestellten Verdächtigungen jedoch für
vollkommen abwegig:
Man darf die Musiker, die im Ghetto spielten nicht als
Kollaborateure bezeichnen. Keinen. Was Wiera Gran betrifft, kann ich
Ihnen nichts garantieren. Ich halte es für sehr wahrscheinlich,
dass sie nicht kollaborierte, trotz gegenteiliger Gerüchte. Im
Ghetto zählte vor allem die Musik. Was sich dort abspielte, ließ
sich nicht in Worte fassen. Aber anders als die Musik enthielten die
Worte Urteile, sie fabrizierten Legenden.
Es ist Agata Tuszyńskas
großes, kaum hoch genug einzuschätzendes Verdienst,
überzeugende Worte für den bitteren Lebensweg einer
begabten Sängerin und Verführerin, ihrer zahlreichen
Triumphe und noch zahlreicheren Irrtümer sowie für ihre
fehlgeleitete Wirkung auf ihre Zeitgenossen in einer in jeder
Hinsicht verrückten, aus dem Takt geratenen Geschichtsepoche
gefunden zu haben. Im verdienstvollen Bemühen der Autorin, für
sich und ihre Leser ein umfangreiches Begreifen zu schaffen, entsteht
dabei das Bild einer trotz aller Schicksalsschläge mutigen,
selbstbewussten und kämpferisch-unbeugsamen, beeindruckenden
Frau, deren von Widersprüchen geprägte Geschichte die
Autorin mit großer Sympathie erzählt, aber ohne sie oder
ihre Gegner jemals zu verurteilen.
„Die Sängerin aus dem Ghetto – Das Leben der Wiera Gran“,
aus dem Französischen von Xenia Osthelder, erschienen bei Insel,
373 Seiten, € 26,95
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