Mit
dem neuerlichen, von ihren Bewohnern lang ersehnten organischen
Zusammenwachsen von über lange Zeit durch willkürliche
Grenzziehung voneinander isolierten geschichtlich-homogenen Regionen
im Herzen Europas hat seit dem Zusammenbruch der kommunistischen
Diktaturen in Osteuropa auch die von ihrer prächtigen
habsburgischen Architektur nostalgisch geschmückte Stadt Triest
an der norditalienischen Adriaküste im Dreiländereck mit
Slowenien und Kroatien wieder einen wunderbaren wirtschaftlichen und
kulturellen Aufschwung genommen, der ihrer historischen Bedeutung als
wichtigste Hafenstadt Österreich-Ungarns sowie als Mittelpunkt
des künstlerischen Schaffens von so bedeutenden Literaten wie
Italo Svevo, Umberto Saba, den Brüdern James und Stanislaus
Joyce oder Claudio Magris vollkommen gerecht zu werden scheint.
Der
ebenfalls in Triest lebende deutsche Schriftsteller, Verleger und
Mitbegründer des Berlin-Verlags Veit Heinichen hat seine
schwungvoll-florierende Wahlheimat zum Schauplatz einer populären
Reihe von Kriminalromanen um den umsichtigen Commissario Proteo
Laurenti gemacht, die auch in ihrer über Jahre fortgeführten
Verfilmungen durch die ARD ein munter-vielschichtiges Porträt
dieser faszinierenden multikulturellen Metropole zeichnet.
Die
wunderbarste, möglicherweise bedeutendste, vor allem aber
aufgrund ihrer universellen Aussagekraft mit Sicherheit nachhaltigste
literarische Entdeckung, die im Zuge des kulturellen Aufschwungs von
Triest für den deutschen Leser dringend noch zu machen war, darf
sich der kleine Klagenfurter Drava-Verlag auf seine Fahnen schreiben,
der für seine besondere Zielsetzung, vor allem Literatur der
slowenischen Minderheit in Kärnten sowie der Nachbarregionen ein
qualifiziertes Forum zu bieten, eine überaus passende
Namenspatin mit dem diese Länder durchströmenden Fluss
Drau/Drava gefunden hat.
Denn
der nun erstmals in deutscher Sprache und für sein Werk
repräsentativer Auswahl vorgestellte Triestiner Dichter und
Lyriker Virgilio Giotti (1885-1957) war eine absolute
Ausnahmeerscheinung in der zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts
blühenden Literatur- und Kunstszene seiner Heimatstadt. Dort als
Virgilio Schönbeck geboren, floh der Sohn eines Österreichers
und einer Italienerin im Jahr 1907 nach Florenz, um dem
österreichischen Militärdienst zu entgehen und kehrte erst
zwölf Jahre später mit seiner russischen Frau und drei
Kindern nach Triest zurück.
Dort
nahm er als gern gesehener Gast aktiv teil an den literarischen
Zirkeln um Italo Svevo, Scipio Slapater, Giorgio Voghera, Bobi
Bazlen, Biagio Marin, Giani Stuparich und Umberto Saba, während
er gleichzeitig seinen kargen Lebensunterhalt als Handelsvertreter
für Spielzeug, Zeitungs- und Buchhändler sowie zuletzt als
Krankenhausangestellter verdienen musste.
Ich bin hinaus auf den Balkon.
Nur dort bin ich jetzt nicht
mehr der, der ich da drinnen
war: der Papa, der Gatte,
der Angestellte und der Dichter.
Im Finstern singen Grillen,
und überall sind Sterne.
Ein Lüftchen aus dem Osten
in dieser Sommernacht
weht vorüber wie ein frischer Hauch.
Oh, wenn der Balkon jäh
niederbrechen würde! Ein Flug,
ein Aufprall. Dort mitten auf dem Gras
zu sterben, ich mit mir allein,
in dieser Sommernacht.
In den
scheinbar engen Grenzen von bürgerlichem Beruf, Familie und
literarischen Ambitionen schuf Giotti ein außerordentlich
reiches lyrisches Werk, das nicht nur seine Zeitgenossen begeisterte,
sondern auch etwa Pier Paolo Pasolini in einem Essay über dessen
Werk zu einem überraschend eindeutigen und bestimmten Urteil
bewog, dem man sich nach der Lektüre nur weniger seiner Verse
ganz ohne Vorbehalt anschließen muss: er kenne nirgendwo in der
italienischen Literatur des Zwanzigsten Jahrhunderts eine Dimension
des Schmerzes, die der vergleichbar wäre, die aus den Appunti
inutili des alten Giotti und aus so vielen seiner Gedichte
spreche.
Giotti hat wie kein anderer bedeutender Lyriker begriffen, dass Glück
aus einzelnen Momenten besteht, die immer wieder unwiderruflich
vorübergehen müssen:
So wie unsere Liebe,
die eigentlich ein Nichts nur ist,
ein blasses, doch ein leuchtend, brennend
blasses, und ein Wohlgeruch und eine Hoffnung,
die mein Herz erfüllt, wenn ich sie spüre:
ein Zuhause von dir und mir,
wir breiten miteinander, ich und du,
das Tischtuch auf dem Tisch auf,
und einer, der sich auf die Spitzen
seiner kleinen Füße stellt
und sich anstrengt zu erspähen, was wir vorbereiten.
Giottis unaufdringliche Sensibilität eines still-vertrauten
intimen Beobachters sowie seine wahrhaftige Gefühlstiefe, die es
ihm auf immer wieder neue Art und Weise erlauben, tief in den
scheinbar alltäglichen Augenblick einzutauchen, das darin
Verborgene ans Licht zu holen und in Poesie zu verwandeln, sind
ebenso einzigartig wie unvergesslich. Es sind die wesentlichen
„kleinen“ Dinge des Lebens, die er immer wieder energisch
benennt, menschliche Beziehungen, Grundbedürfnisse, die Natur
mit all ihren Erscheinungen, aber auch die städtische Landschaft
seiner pittoresken Heimatstadt Triest sowie auf ganz unscheinbare Art
auch wesentliche Theorien der bildenden Kunst.
Was bisher maßgeblich verhinderte, dass Giotti auch über
die Grenzen Italiens hinaus bekannt werden konnte, war die für
sein Werk höchst charakteristische Tatsache, dass der
überwiegende Teil davon im Triestiner Dialekt verfasst ist.
Dabei wagte der Dichter es erstmals, die heimische Mundart nicht zum
Schauplatz des Komischen zu machen, sondern auf deren Grundlage eine
ganz und gar individuelle und höchst originäre Art
hochsprachlicher Variante zu erschaffen, mit der er auf noch
unverwechselbarere Art und Weise seine Gedanken und Gefühle
auszudrücken vermochte.
Zwar beklagt der kongeniale Übersetzer Hans Raimund in seinem
kenntnisreichen Vorwort, dass er wegen des offensichtlichen Fehlens
eines in seiner spezifischen Mentalität gleichwertigen
deutschsprachigen Idioms Giottis Verse nicht in ihrer ganzen
sprachlichen Vollkommenheit und charakteristischen Musikalität
habe wiedergeben können, so bleibt dennoch zu bemerken, dass
auch in der vorliegenden Übersetzung vorbildlich deutlich wird,
wie sehr gute Lyrik jenseits ihrer sprachlichen Form immer auch eine
gleichsam unsichtbare poetische Gestalt zu entwerfen vermag, die sich
aus ihrer reinen Bedeutungsebene ergibt, wie sie vom Dichter
gedanklich vorgebracht wird.
Die anhaltende Wehmut über die Flüchtigkeit des Glücks
durchzieht alle seiner Verse mit einer durchaus heiteren Melancholie,
einer umfassenden Annahme des Leids, das sich aus den Zeitumständen
ebenso ergibt wie aus den zahlreichen persönlichen Verlusten,
die Giotti im Laufe seines Lebens zu beklagen hatte, wie er nicht nur
in seinen Gedichten, sondern auch in den ebenfalls im vorliegenden
Band enthaltenen, erst posthum erschienenen Tagebuchaufzeichnungen
seiner an Fernando Pessoas „Buch der Unruhe“ erinnernden
„Unnötigen Notizen“ bekräftigt:
Wie viele Tote in meinem Leben! Es ist mir früher nie
eingefallen, darüber nachzudenken. Als ich ein Bub war, war die
Großmutter noch jung. Dann mein Vater, dann, eine nach der
anderen, meine drei Schwestern, dann ein Freund, Bolaffio, dann eine
liebe Freundin, dann meine Mutter, dann ein anderer Freund,
Romannelis, dann meine Söhne.
Mit der um drei Jahre verspäteten Todesnachricht des ersten
Sohnes, Paolo, der wie sein Bruder Franco im Rahmen von Hitlers
unseligem Feldzug gegen die Humanität, ja das Leben selbst in
der Heimat ihrer Mutter gefallen war, setzen am 1. Februar 1946 seine
denkwürdigen hochliterarisch-privaten Notizen ein:
Diese [...] sollten mir helfen weiterzuleben. Sie sollten mir den
Trost eines Gesprächs zwischen mir und mir geben, über
Themen, die nicht Stoff von Gesprächen sein können zwischen
mir und anderen.
Es gibt vermutlich keinen anderen bedeutenden Dichter des Zwanzigsten
Jahrhunderts, der in all seinen Versen bereits in den Jahren seiner
Jugend in einem so beträchtlichen Maße den unvermeidlichen
eigenen Tod umarmt und willkommen geheißen hat wie Virgilio
Giotti, ohne an dieser wesentlichen Erkenntnis zu verzweifeln und
sich dem störrischen Zauber des Lebens zu entziehen.
Schatten meiner Söhne,
bevor auch ich verschwinde,
bleiben eine Weile wir
noch ein Mal zusammen,
plaudern wir und lachen wir.
Wenn ihr geweint habt, dann weint
jetzt nicht mehr. Wir trocknen
alle uns die Augen. Geht,
seid lieb zu eurer Mutter.
Weinen nützt nichts.
So viele, viele sind gestorben;
und Väter, Mütter, Kinder
haben geweint und weinen.
Das passiert auf dieser Welt:
es passiert, ist immer schon passiert.
Wenn ich euch nicht alles geben
konnte, was ich tief im Herzen
so sehr wünschte, vergebt mir!
Für das Gute, welches ich von euch
gehabt hab, dafür danke ich euch
jetzt, so kommt, damit wir
noch ein Mal eine Weile
beisammen sind, wie
in unsren schönen Jahren
miteinander plaudern, lachen.
Dieser äußerst verdienstvolle erste Auswahlband in
deutscher Sprache der elementar-eigenständigen, urtümlichen,
unvergesslichen Lyrik Virgilio Giottis gehört zu jenen überaus
seltenen, kostbaren Generationen-Lieblingsbüchern, die man
unbedingt immer bei sich tragen möchte, weil man sich seiner
universeller Aussage und tief empfundenen Menschlichkeit immer und
immer wieder versichern will.
„Kleine Töne, meine Töne“ aus dem Triestiner
Italienisch von Hans Raimund, erschienen bei Drava, 166 Seiten, €
19,80
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