Die Aussage, dass gute
Literatur ebenso zeitlos sei wie ihr vielfältiges, dem realen Leben
abgerungenes Material, kann absolut nicht als leere Phrase gelten,
wenn man sich vor Augen führt, dass auch außerhalb des
fragwürdigen, geradezu unveränderlich scheinenden Kanons der
klassischen deutschen Schullektüre bis heute zum Teil
jahrhundertealte Werke immer noch gern und mit großem innerem Gewinn
– und vor allem freiwillig – gelesen werden, obwohl sie
sprachlich für heutige Leser meist eine große Herausforderung
darstellen.
Umso schöner, wenn die
Sprache eines älteren literarischen Werks der heute gesprochenen
immer noch so sehr entspricht, dass man beim Blick ins Impressum umso
ernstaunter zurückbleibt über die Aktualität des Stoffes sowie der
beschriebenen Charaktere samt all ihrer Motive und Affekte, die ohne
wenn und aber der Gefühlswelt eines heutigen, modernen Menschen zu
entsprechen scheinen. Der Maigret-Erfinder Georges Simenon
(1903-1989) zählt ohne Zweifel nicht nur zu den produktivsten,
sondern auch zu den bedeutendsten Schriftstellern des Zwanzigsten
Jahrhunderts; seine Kriminalromane, in noch stärkerem Maße aber
seine „konventionellen“ Romane verraten einen psychologisch
äußerst versierten Autor, der die inneren und äußeren Konflikte
seiner Protagonisten auf ebenso anschauliche-mitreissende wie
ergreifende Art und Weise in einem kurzweilig-spannenden Text zu
formulieren verstand wie kaum ein anderer Schriftsteller seiner
Generation.
In der derzeit bei
Diogenes verlegten Edition „Simenon – Ausgewählte Romane in 50
Bänden“ ist nun als Band 38 der herzzerreißende kleine Roman „Der
Buchhändler von Archangelsk“ aus dem Jahr 1956 erschienen, der
diese Einschätzung exemplarisch zu belegen scheint:
Der vierzigjährige
Buchhändler und Antiquar Jonas Milk, in Frankreich aufgewachsener
Sohn von russisch-jüdischen Revolutionsflüchtlinge, betreibt seit
vielen Jahren mit nicht geringem Erfolg eine kleine Buchhandlung mit
Leihbücherei am dreimal wöchentlich lebhaften Marktplatz einer
französischen Kleinstadt. Er ist zwar als kurzsichtiger Kauz und
schrulliger Briefmarkensammler bekannt, meint sich allerdings unter
seinen Nachbarn, die fast allesamt Marktstände oder sonstiges
traditionelles Kleingewerbe betreiben, bestens integriert, denn man
grüßt sich ebenso herzlich wie freundschaftlich und vermeint alles
über den anderen zu wissen.
Außer Büchern und
Briefmarken liebt Jonas bedingungs- und vorbehaltlos seine beinahe
zwanzig Jahre jüngere, notorisch untreue Ehefrau Gina, seine
ehemalige Haushälterin, die ihm vor zwei Jahren auf Betreiben ihrer
besorgten Mutter ganz unverhofft das Jawort gegeben hat; er war sich
von Anfang an bewusst, dass er dieser bildschönen, verführerischen
jungen Frau, die im Städtchen seit Jugendtagen für ihren
ausschweifenden Lebenswandel bekannt ist, nichts weiter bieten kann
als materielle und „bürgerliche“ Sicherheit.
Ihre zahlreichen Affären
erträgt er daher mit bewundernswerter Langmut, wohl wissend, dass
eine als „easy lover“ bekannte Frau wie sie immer zu ihm
zurückkommen würde. Umso zärtlicher und liebevoller nimmt er sie
jedesmal aufs Neue wieder auf, wenn sie – manchmal erst nach Tagen
– wortlos zu ihm zurückkehrt. So entsteht im Verlauf der Lektüre
das stimmig-zeitlose Bild einer ebenso
unkonventionell-vielschichtigen wie widersprüchlichen, liebenswerten
Persönlichkeit, der wir als Leser unsere ganze Sympathie
entgegenbringen.
Als Gina eines Tages
erneut verschwindet, begeht Jonas jedoch einen folgenschweren Fehler:
Er log, und das war
ein Fehler. Es wurde ihm in dem Augenblick klar, als er den Mund
öffnete, um Fernand Le Bouc zu antworten; und aus Schüchternheit,
letztlich aus einem Mangel an Kaltblütigkeit ließ er die Worte
unverändert, die ihm über die Lippen kamen.
Und so sagte er: „Sie
ist nach Bourges gefahren.“
Diese harmlos scheinende
Notlüge, die er unbedacht und sorglos verwendet, um seine Frau und
sich selbst vor übler Nachrede zu schützen, erweist sich jedoch im
weiteren Verlauf der Handlung als fataler, nicht wieder gut zu
machender Fehler, denn anders als all die anderen Male zuvor, kehrt
Gina diesmal nicht zu ihm zurück und bleibt spurlos verschwunden,
was zu zahllosen Verdächtigungen führt und den
sympathisch-widersprüchlichen jüdischen Buchhändler in den Augen
der bürgerlich-konventionell denkenden Marktleute sowie der sich
schließlich ebenfalls einschaltenden Polizei in den Verdacht rückt,
seine Frau ermordet und beseitigt zu haben.
Hier dürfen wir die
Meisterschaft des an zahlreichen Kriminalromanen geschärften
brillanten Romanciers miterleben, dessen Mittel man allzu leicht zu
unterschätzen gewogen ist. Beeindruckend, wie mühelos er
Stimmungen, Charakterzeichnungen mit nur wenigen Sätzen und
gelungenen Bildern anzudeuten vermag, wofür andere begabte
Schriftsteller oft Hunderte von Seiten benötigen. Die
Familiengeschichte seines Protagonisten etwa skizziert er in
meisterhafter Kürze auf nur einer Seite anhand von dessen
lückenloser Sammlung historischer russischer Briefmarken.
Am bitteren Ende bleiben
wir ratlos-staunend zurück:
Man hatte ihn nicht
verstanden, oder er hatte die andern nicht verstanden, und dieses
Missverständnis würde nun wohl nie mehr geklärt werden.
Es ist absolut
beeindruckend, wie der Autor auf nicht mehr als 200 Seiten ein
Panorama des prallen Lebens auszubreiten vermag – Georges Simenon
ist ein großartiger Kenner der menschlichen Gefühls- und
Gedankenwelten und bleibt immer wieder eine Entdeckung wert!
„Der Buchhändler von Archangelsk“, aus dem Französischen von Alfred Kuoni, erschienen
bei Diogenes, 207 Seiten, € 9,-
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