Jerusalem

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Freitag, 28. Dezember 2012

„Braune Erde“ von Daniel Höra


In 2011 veröffentlichten die beiden Journalisten Astrid Geisler und Christoph Schultheis unter dem vielsagenden Titel “Heile Welten“ ein glänzend recherchiertes Buch über die im Verborgenen stetig wachsende gefährliche Parallelwelt der neuen Rechten in Deutschland mit ihren zahlreichen, den gängigen Klischees vom brutalen Neonazi scheinbar widersprechenden Äußerungsformen, die unter dem Anstrich zur Schau gestellter angeblicher Seriosität mit nicht geringem Erfolg zunehmend dazu beitragen, rechtsradikale Ideen wieder in der Mitte der deutschen Gesellschaft zu verankern. Aus den Erkenntnissen dieses wichtigen Buches sowie des gleichnamigen fortlaufenden Blogs der beiden Autoren hat sich der gebürtige Hannoveraner Daniel Höra („Gedisst“, 2011) zu einem fesselnden Jugendroman inspirieren lassen, der auf unterhaltsame Weise nicht nur umfassend und beispielhaft aufklärt, sondern auch das Zeug dazu hat, in Zukunft zur dankbaren Pflichtlektüre in deutschen Klassenzimmern zu werden.



Der fünzehnjährige geistig aufgeweckte Ben wächst nach dem Tod beider Eltern bei der Familie seiner Tante in einem trostlosen kleinen Dorf in Mecklenburg-Vorpommern auf, das seit der politischen Wende von 1989 unter den üblichen strukturellen Problemen leidet: seit der Auflösung der LPG gibt es kaum noch Arbeitsplätze und wer außer den Alten und Kranken nicht abgewandert ist, steht ohne feste Arbeit da:

Wer brauchte auch schon Unmengen von Busfahrern? Ich hatte den Eindruck, dass jeder zweite hier bei uns zum Busfahrer ausgebildet worden war. „Bütenow – Das Dorf der Busfahrer“ Das hätten wir aufs Ortsschild schreiben sollen, vielleicht wären dann Touristen gekommen.

Stattdessen kehrt unverhofft schon bald neues Leben im baufälligen Herrenhaus ein: „Fremde! Eine Frau, zwei Männer und drei Jugendliche“ haben das Haus gekauft und beginnen mit großem Elan nicht nur die dringend notwendige Renovierung des Hauses, sondern auch die heimliche ideologische Übernahme der in Lethargie gefangenen Dorfbewohner, die sie mit scheinbar harmlosen Aktivitäten wie der „uneigennütigen“ Instandsetzung des seit der Wende brachliegenden Dorfgemeinschaftshauses, Volkstanz- und Bastelkursen, Grillabenden sowie einer aufwendigen Sonnenwendfeier zu neuer unverhoffter Tatkraft mobilisieren.

Aufgrund eines Zufalls fungiert Ben von Anfang an als eine Art Kontaktmann zwischen den Neuankömmlingen und der Dorgemeinschaft, die er für ihre Teilnahmslosigkeit und Passivität kritisiert. Obwohl er grundsätzlich ein feines soziales Gespür hat, versagt dieses angesichts der zupackenden, und scheinbar herzlichen Art von Uta, Reinhold und Hartmut sowie deren Kindern Freya, Konrad und Gunter, die martialische Kapuzenjacken mit dem Aufdruck „Sommer, Sonne, Widerstand – Wir wollen leben!“ tragen und schon bald gemeinsam mit Ben den ehemaligen Truppenübungsplatz regelmäßig zu Geländespielen und Schießübungen nutzen sowie das brachliegende Gelände mit Metalldetektoren systematisch nach Patronenhülsen und intakter Munition durchsuchen.

Auch Freya fühlt sich zu Ben hingezogen und nimmt ihn zum heimlichen Fummeln mit auf ihr Zimmer und spielt ihm Lieder des von ihr vergötterten völkischen Liedermachers Oswald Morgenthau vor. Und während Ben unbewusst immer tiefer in den Sumpf der mit scheinbarer elterlicher Fürsorge kaschierten rechtsradikalen Ideologie hineinrutscht und gegenüber seinen Mitschülern und Verwandten immer wieder zahlreiche ebenso unwahrscheinliche wie unglaubwürdige Gründe erfinden muss, um die immer deutlicher zutage tretende menschenverachtende Weltanschauung der auf Naturheilkunde und Biokost schwörenden Neuankömmlinge zu „entschuldigen“, werden jene augrund ihres Erfolgs bei der Dorfbevölkerung und einer fehlenden Opposition immer mutiger und frecher – eine Bürgerwehr wird unter lautem Beifall gegründet und bald schon steht ein neues Schild an der Ortseinfahrt, das zwar nicht jeder im Dorf gutheisst, aber gegen das auch niemand etwas unternimmt:

Braunau 856 km, Paris 1406 km, Stalingrad 2643 km.

Als sich Ben allmählich bewusst zu werden beginnt, in welch gefährliche Gesellschaft er sich begeben hat – gefährlich für andere, aber auch gefährlich für ihn selbst – ist es schon fast zu spät und die Situation eskaliert auf tödliche Art und Weise.

Daniel Höra bedient sich für seinen hoch spannenden Jugendkrimi, der ohne Zweifel auch Erwachsene begeistern wird, eines legitimen kleinen Kunstgriffs: um dem Leser möglichst viele Aspekte aktueller rechtsradikaler Strategien vor Augen zu führen, lässt er seinen sympathischen Protagonisten die Phase des arglosen Mitläufertums und der freundschaftlichen Schönfärberei länger durchlaufen als angesichts der schon zu Beginn der Handlung sich nach und nach ergebenden Indizien bei einem intellektuell halbwegs normal veranlagten Jugendlichen unter normalen Umständen realistisch und logisch wäre. Doch gerade der Zwiespalt zwischen scheinbar positiven Anstößen für die Dorfgemeinschaft und der dahinter verborgenen brutalen und menschenverachtenden Ideologie ist in Daniel Höras Buch hervorragend eingefangen. Ach auf diese Weise wird klar: auch heute benötigen wir klare Sinne und ungetrübte Urteilskraft, um extremen Positionen wirkungsvoll zu begegnen.

„Braune Erde“, erschienen bei Bloomsbury, 303 Seiten, € 8,99

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