In 2011 veröffentlichten
die beiden Journalisten Astrid Geisler und Christoph Schultheis unter
dem vielsagenden Titel “Heile Welten“ ein glänzend
recherchiertes Buch über die im Verborgenen stetig wachsende
gefährliche Parallelwelt der neuen Rechten in Deutschland mit ihren
zahlreichen, den gängigen Klischees vom brutalen Neonazi scheinbar
widersprechenden Äußerungsformen, die unter dem Anstrich zur Schau
gestellter angeblicher Seriosität mit nicht geringem Erfolg
zunehmend dazu beitragen, rechtsradikale Ideen wieder in der Mitte
der deutschen Gesellschaft zu verankern. Aus den Erkenntnissen dieses
wichtigen Buches sowie des gleichnamigen fortlaufenden Blogs der
beiden Autoren hat sich der gebürtige Hannoveraner Daniel Höra
(„Gedisst“, 2011) zu einem fesselnden Jugendroman inspirieren
lassen, der auf unterhaltsame Weise nicht nur umfassend und
beispielhaft aufklärt, sondern auch das Zeug dazu hat, in Zukunft
zur dankbaren Pflichtlektüre in deutschen Klassenzimmern zu werden.
Der fünzehnjährige
geistig aufgeweckte Ben wächst nach dem Tod beider Eltern bei der
Familie seiner Tante in einem trostlosen kleinen Dorf in
Mecklenburg-Vorpommern auf, das seit der politischen Wende von 1989
unter den üblichen strukturellen Problemen leidet: seit der
Auflösung der LPG gibt es kaum noch Arbeitsplätze und wer außer
den Alten und Kranken nicht abgewandert ist, steht ohne feste Arbeit
da:
Wer brauchte auch
schon Unmengen von Busfahrern? Ich hatte den Eindruck, dass jeder
zweite hier bei uns zum Busfahrer ausgebildet worden war. „Bütenow
– Das Dorf der Busfahrer“ Das hätten wir aufs Ortsschild
schreiben sollen, vielleicht wären dann Touristen gekommen.
Stattdessen kehrt
unverhofft schon bald neues Leben im baufälligen Herrenhaus ein:
„Fremde! Eine Frau, zwei Männer und drei Jugendliche“
haben das Haus gekauft und beginnen mit großem Elan nicht nur die
dringend notwendige Renovierung des Hauses, sondern auch die
heimliche ideologische Übernahme der in Lethargie gefangenen
Dorfbewohner, die sie mit scheinbar harmlosen Aktivitäten wie der
„uneigennütigen“ Instandsetzung des seit der Wende
brachliegenden Dorfgemeinschaftshauses, Volkstanz- und Bastelkursen,
Grillabenden sowie einer aufwendigen Sonnenwendfeier zu neuer
unverhoffter Tatkraft mobilisieren.
Aufgrund eines Zufalls
fungiert Ben von Anfang an als eine Art Kontaktmann zwischen den
Neuankömmlingen und der Dorgemeinschaft, die er für ihre
Teilnahmslosigkeit und Passivität kritisiert. Obwohl er
grundsätzlich ein feines soziales Gespür hat, versagt dieses
angesichts der zupackenden, und scheinbar herzlichen Art von Uta,
Reinhold und Hartmut sowie deren Kindern Freya, Konrad und Gunter,
die martialische Kapuzenjacken mit dem Aufdruck „Sommer, Sonne,
Widerstand – Wir wollen leben!“ tragen und schon bald gemeinsam
mit Ben den ehemaligen Truppenübungsplatz regelmäßig zu
Geländespielen und Schießübungen nutzen sowie das brachliegende
Gelände mit Metalldetektoren systematisch nach Patronenhülsen und
intakter Munition durchsuchen.
Auch Freya fühlt sich zu
Ben hingezogen und nimmt ihn zum heimlichen Fummeln mit auf ihr
Zimmer und spielt ihm Lieder des von ihr vergötterten völkischen
Liedermachers Oswald Morgenthau vor. Und während Ben unbewusst immer
tiefer in den Sumpf der mit scheinbarer elterlicher Fürsorge
kaschierten rechtsradikalen Ideologie hineinrutscht und gegenüber
seinen Mitschülern und Verwandten immer wieder zahlreiche ebenso
unwahrscheinliche wie unglaubwürdige Gründe erfinden muss, um die
immer deutlicher zutage tretende menschenverachtende Weltanschauung
der auf Naturheilkunde und Biokost schwörenden Neuankömmlinge zu
„entschuldigen“, werden jene augrund ihres Erfolgs bei der
Dorfbevölkerung und einer fehlenden Opposition immer mutiger und
frecher – eine Bürgerwehr wird unter lautem Beifall gegründet und
bald schon steht ein neues Schild an der Ortseinfahrt, das zwar nicht
jeder im Dorf gutheisst, aber gegen das auch niemand etwas
unternimmt:
Braunau 856 km,
Paris 1406 km, Stalingrad 2643 km.
Als sich Ben allmählich
bewusst zu werden beginnt, in welch gefährliche Gesellschaft er sich
begeben hat – gefährlich für andere, aber auch gefährlich für
ihn selbst – ist es schon fast zu spät und die Situation eskaliert
auf tödliche Art und Weise.
Daniel Höra bedient sich
für seinen hoch spannenden Jugendkrimi, der ohne Zweifel auch
Erwachsene begeistern wird, eines legitimen kleinen Kunstgriffs: um
dem Leser möglichst viele Aspekte aktueller rechtsradikaler
Strategien vor Augen zu führen, lässt er seinen sympathischen
Protagonisten die Phase des arglosen Mitläufertums und der
freundschaftlichen Schönfärberei länger durchlaufen als angesichts
der schon zu Beginn der Handlung sich nach und nach ergebenden
Indizien bei einem intellektuell halbwegs normal veranlagten
Jugendlichen unter normalen Umständen realistisch und logisch wäre.
Doch gerade der Zwiespalt zwischen scheinbar positiven Anstößen für
die Dorfgemeinschaft und der dahinter verborgenen brutalen und
menschenverachtenden Ideologie ist in Daniel Höras Buch hervorragend
eingefangen. Ach auf diese Weise wird klar: auch heute benötigen wir
klare Sinne und ungetrübte Urteilskraft, um extremen Positionen
wirkungsvoll zu begegnen.
„Braune Erde“,
erschienen bei Bloomsbury, 303 Seiten, € 8,99
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