Es gibt wohl
kaum intimere schriftliche Lebensäußerungen des sich selbst und seine Umwelt
reflektierenden Menschen als seine privaten Briefe und Tagebuchaufzeichnungen;
aus gutem Grund gelten diese in der Regel als „geheim“ und ihre Lektüre ist
selbst im engsten familiären Rahmen streng tabuisiert. Was also bewegt Menschen
immer wieder, diese hoch persönlichen Dokumente und oft ungewollten
Hinterlassenschaften verstorbener Angehöriger dennoch, etwa in Buchform, einer
allgemeinen breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, für die sie nicht nur
niemals vorgesehen waren, sondern deren mögliche öffentliche Kenntnis für den
jeweiligen Verfasser sogar mit großen Ängsten besetzt gewesen sein dürfte?
Die jeweiligen
Gründe für eine Veröffentlichung dürften individuell ausgesprochen
vielschichtig, mitunter gar für den jeweiligen Herausgeber wenig schmeichelhaft
sein; im Einzelfall jedoch spricht vermutlich gerade der intime subjektive
Rahmen des entsprechenden autobiografischen Materials für eine
Veröffentlichung: da der Verfasser im ursprünglichen Rahmen seiner
Niederschrift keine Öffentlichkeit fürchten muss, kann er sich vollkommen
ehrlich und unmittelbar im Sinne seiner ureigensten Lebenserfahrung, seiner
Gedanken, Träume und Gefühle äußern – ehrliche, treffende Worte aber sind immer
ein seltenes Ereignis, das, einmal gehört oder gelesen, nur schwer zu leugnen
oder wieder zu vergessen ist.
Dies gilt umso
mehr, wenn diese Lebensäußerungen noch dazu eine universelle Wahrheit
auszudrücken vermögen, die andere, öffentlich getätigte Äußerungen der jeweils
exponierteren Zeitgenossen im selben historischen und gesellschaftlichen
Kontext an Relevanz derart übertreffen, dass sie ohne Einschränkung als allgemeingültig
wahrgenommen werden können, möglicherweise sogar im Sinn einer kollektiven
Erfahrung.
Die Briefe ihres
älteren Bruders Peter Schwiefert (1917-1945) aus dem selbst gewählten
kämpferischen Exil als Mitglied der Forces Françaises Libres an die gemeinsame
Mutter Else, zu deren Herausgabe sich Angelika Schrobsdorff (geboren 1927) erst
vierzig Jahre nach deren erstem Erscheinen in französischer Sprache, damals
noch ausgewählt und veröffentlicht von ihrem damaligen Mann, dem
Dokumentarfilmer und Journalisten Claude Lanzmann, nun endlich entschließen
konnte, sind ein großer Glücksfall, nicht nur für den Kenner ihres eigenen
literarischen Werkes, sondern auch für den allgemein-interessierten Leser, da
sie die oben beschriebenen Kriterien auf vorbildliche Art und Weise erfüllen.
In ihren
autobiografischen Büchern kehrt Angelika Schrobsdorff immer wieder zu jenem
„magischen Moment“ zurück, in dem sie achtzehn Jahre nach dem Tod ihres Bruder
im Nachlass ihrer Mutter dessen Briefe entdeckte, deren intensive Lektüre ihrem
bis dahin unsteten Leben erstmals eine konkrete Richtung zu geben vermochte und
sie dazu bewog, in Israel auf Spurensuche zu gehen, dort womöglich noch
Menschen zu treffen, die ihren „unbekannten“ Bruder noch gekannt, ihn womöglich
sogar noch glücklich gesehen hatten.
Sie selbst hatte
den Krieg gemeinsam mit ihrer Mutter Else und der älteren Schwester Bettina in
Bulgarien überlebt, wohin sie dank einer Scheinehe gelangt waren. Else, die
ihre großbürgerlich-jüdische Herkunft stets auch vor sich selbst verleugnet
hatte, war vorher sogar zum bulgarisch-orthodoxen Christentum konvertiert und
bemühte sich jahrelang redlich, jedoch erfolglos einen Zugang zur christlichen
Religion zu finden.
Ihr Sohn aus
erster Ehe, Peter Schwiefert, von den Nazis als sogenannter „Halbjude“
gebrandmarkt, wählte einen radikal anderen Weg: ausgerechnet er, der
künstlerisch und literarisch hoch Begabte, der Bonvivant und Frauenschwarm, der
sich nie für Politik interessiert hatte und dem scheinbar stets das Glück in
den Schoß gefallen war, bekannte sich 1938 ohne jeden Vorbehalt zu seiner
jüdischen Herkunft und reiste mit äußerst bescheidenen finanziellen Mittel zur
großen Sorge seiner Angehörigen ins damals neutrale Portugal, von wo er nach
Südamerika emigrieren zu können hoffte. Diese Hoffnung erfüllte sich jedoch
nicht, was seiner politischen Position nur umso heftiger eine unverkennbare und
entschiedene Richtung gab. Mit wachen Sinnen und prophetisch-klarem Verstand
hatte Peter Schwiefert bei Kriegsbeginn erkannt, dass sein Platz im bewaffneten
Kampf gegen Hitler-Deutschland sein müsse und so hatte er sich 1940 als Soldat
für die unter dem Befehl der britischen Armee agierende französische
militärische Freiheitsbewegung verpflichtet.
Wechselnde
Kriegsschauplätze führten ihn nach Ägypten, Syrien, Libyen, Tunesien und
Italien, gegen Kriegsende schließlich nach Frankreich, wo er zwei Tage nach
seinem siebenundzwanzigsten Geburtstag im Verlauf einer letzten deutschen
Offensive getötet wurde. In den sieben Jahren seit seiner Flucht hatte er seiner
Mutter regelmäßig lange Briefe geschrieben, in denen er seine Position
ausführlich erläutert und auch auf zärtlichste Art und Weise die gegenseitige
Beziehung samt aller gegenseitigen Missverständnisse zu erkunden und zu heilen versuchte.
Sein sehnlichster Wunsch in all diesen Jahren war ein Wiedersehen mit seiner
Familie in Frieden und Freiheit, für die er unbeirrt sein Leben einsetzte.
Ein halbes Jahr
später, ausgerechnet an ihrem Geburtstag, erhielt Else einen letzten langen versöhnlich-aufgeräumten
Brief von ihrem Sohn, der es ihr erstmals seit Jahren ermöglichte sich voll und
ganz zu öffnen. Doch dann, nur zwei Wochen später, der große Schock, von dem
sich Else nie wieder erholen sollte – die niederschmetternde Nachricht von
Peters Tod:
In meiner Antwort auf seinen langen, schönen Brief konnte
ich ihm zum ersten Mal sagen, wie sehr ich ihn liebe, achte und bewundere; dass
ich ihm danke und um Verzeihung bitte. Und all das wird er nun nie erfahren.
Für mich ist er gestorben, und er hat nicht gewusst, wie lieb ich ihn habe.
Die Briefe von
Peter Schwiefert sind in der Tat ein großes Geschenk: sie zeigen nicht nur auf
vorbildliche Art und Weise, wie mutig sich jemand in finsteren Zeiten
entschieden hat, der eigentlich nach dem Willen der vermessenen Machthaber
keine Wahl hatte; sie sind auch großartige Dokumente eines mutigen, vorwärtsgewandten
Lebens und ein überzeugender Appell an uns alle, unsere aus persönlicher
Einsicht gewonnenen Ideale niemals preiszugeben. Es war allerhöchste Zeit,
diese von klaren Gedanken, integrer Urteilskraft und zärtlicher Liebe
getragenen unvergesslichen Briefe auch dem deutschen Publikum endlich
zugänglich zu machen.
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