Jerusalem

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Mittwoch, 23. Januar 2013

„Der Vogel hat keine Flügel mehr“ von Angelika Schrobsdorff

Es gibt wohl kaum intimere schriftliche Lebensäußerungen des sich selbst und seine Umwelt reflektierenden Menschen als seine privaten Briefe und Tagebuchaufzeichnungen; aus gutem Grund gelten diese in der Regel als „geheim“ und ihre Lektüre ist selbst im engsten familiären Rahmen streng tabuisiert. Was also bewegt Menschen immer wieder, diese hoch persönlichen Dokumente und oft ungewollten Hinterlassenschaften verstorbener Angehöriger dennoch, etwa in Buchform, einer allgemeinen breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, für die sie nicht nur niemals vorgesehen waren, sondern deren mögliche öffentliche Kenntnis für den jeweiligen Verfasser sogar mit großen Ängsten besetzt gewesen sein dürfte?

Die jeweiligen Gründe für eine Veröffentlichung dürften individuell ausgesprochen vielschichtig, mitunter gar für den jeweiligen Herausgeber wenig schmeichelhaft sein; im Einzelfall jedoch spricht vermutlich gerade der intime subjektive Rahmen des entsprechenden autobiografischen Materials für eine Veröffentlichung: da der Verfasser im ursprünglichen Rahmen seiner Niederschrift keine Öffentlichkeit fürchten muss, kann er sich vollkommen ehrlich und unmittelbar im Sinne seiner ureigensten Lebenserfahrung, seiner Gedanken, Träume und Gefühle äußern – ehrliche, treffende Worte aber sind immer ein seltenes Ereignis, das, einmal gehört oder gelesen, nur schwer zu leugnen oder wieder zu vergessen ist.

Dies gilt umso mehr, wenn diese Lebensäußerungen noch dazu eine universelle Wahrheit auszudrücken vermögen, die andere, öffentlich getätigte Äußerungen der jeweils exponierteren Zeitgenossen im selben historischen und gesellschaftlichen Kontext an Relevanz derart übertreffen, dass sie ohne Einschränkung als allgemeingültig wahrgenommen werden können, möglicherweise sogar im Sinn einer kollektiven Erfahrung.

Die Briefe ihres älteren Bruders Peter Schwiefert (1917-1945) aus dem selbst gewählten kämpferischen Exil als Mitglied der Forces Françaises Libres an die gemeinsame Mutter Else, zu deren Herausgabe sich Angelika Schrobsdorff (geboren 1927) erst vierzig Jahre nach deren erstem Erscheinen in französischer Sprache, damals noch ausgewählt und veröffentlicht von ihrem damaligen Mann, dem Dokumentarfilmer und Journalisten Claude Lanzmann, nun endlich entschließen konnte, sind ein großer Glücksfall, nicht nur für den Kenner ihres eigenen literarischen Werkes, sondern auch für den allgemein-interessierten Leser, da sie die oben beschriebenen Kriterien auf vorbildliche Art und Weise erfüllen.



In ihren autobiografischen Büchern kehrt Angelika Schrobsdorff immer wieder zu jenem „magischen Moment“ zurück, in dem sie achtzehn Jahre nach dem Tod ihres Bruder im Nachlass ihrer Mutter dessen Briefe entdeckte, deren intensive Lektüre ihrem bis dahin unsteten Leben erstmals eine konkrete Richtung zu geben vermochte und sie dazu bewog, in Israel auf Spurensuche zu gehen, dort womöglich noch Menschen zu treffen, die ihren „unbekannten“ Bruder noch gekannt, ihn womöglich sogar noch glücklich gesehen hatten.

Sie selbst hatte den Krieg gemeinsam mit ihrer Mutter Else und der älteren Schwester Bettina in Bulgarien überlebt, wohin sie dank einer Scheinehe gelangt waren. Else, die ihre großbürgerlich-jüdische Herkunft stets auch vor sich selbst verleugnet hatte, war vorher sogar zum bulgarisch-orthodoxen Christentum konvertiert und bemühte sich jahrelang redlich, jedoch erfolglos einen Zugang zur christlichen Religion zu finden.

Ihr Sohn aus erster Ehe, Peter Schwiefert, von den Nazis als sogenannter „Halbjude“ gebrandmarkt, wählte einen radikal anderen Weg: ausgerechnet er, der künstlerisch und literarisch hoch Begabte, der Bonvivant und Frauenschwarm, der sich nie für Politik interessiert hatte und dem scheinbar stets das Glück in den Schoß gefallen war, bekannte sich 1938 ohne jeden Vorbehalt zu seiner jüdischen Herkunft und reiste mit äußerst bescheidenen finanziellen Mittel zur großen Sorge seiner Angehörigen ins damals neutrale Portugal, von wo er nach Südamerika emigrieren zu können hoffte. Diese Hoffnung erfüllte sich jedoch nicht, was seiner politischen Position nur umso heftiger eine unverkennbare und entschiedene Richtung gab. Mit wachen Sinnen und prophetisch-klarem Verstand hatte Peter Schwiefert bei Kriegsbeginn erkannt, dass sein Platz im bewaffneten Kampf gegen Hitler-Deutschland sein müsse und so hatte er sich 1940 als Soldat für die unter dem Befehl der britischen Armee agierende französische militärische Freiheitsbewegung verpflichtet.

Wechselnde Kriegsschauplätze führten ihn nach Ägypten, Syrien, Libyen, Tunesien und Italien, gegen Kriegsende schließlich nach Frankreich, wo er zwei Tage nach seinem siebenundzwanzigsten Geburtstag im Verlauf einer letzten deutschen Offensive getötet wurde. In den sieben Jahren seit seiner Flucht hatte er seiner Mutter regelmäßig lange Briefe geschrieben, in denen er seine Position ausführlich erläutert und auch auf zärtlichste Art und Weise die gegenseitige Beziehung samt aller gegenseitigen Missverständnisse zu erkunden und zu heilen versuchte. Sein sehnlichster Wunsch in all diesen Jahren war ein Wiedersehen mit seiner Familie in Frieden und Freiheit, für die er unbeirrt sein Leben einsetzte.

Ein halbes Jahr später, ausgerechnet an ihrem Geburtstag, erhielt Else einen letzten langen versöhnlich-aufgeräumten Brief von ihrem Sohn, der es ihr erstmals seit Jahren ermöglichte sich voll und ganz zu öffnen. Doch dann, nur zwei Wochen später, der große Schock, von dem sich Else nie wieder erholen sollte – die niederschmetternde Nachricht von Peters Tod:

In meiner Antwort auf seinen langen, schönen Brief konnte ich ihm zum ersten Mal sagen, wie sehr ich ihn liebe, achte und bewundere; dass ich ihm danke und um Verzeihung bitte. Und all das wird er nun nie erfahren. Für mich ist er gestorben, und er hat nicht gewusst, wie lieb ich ihn habe.

Die Briefe von Peter Schwiefert sind in der Tat ein großes Geschenk: sie zeigen nicht nur auf vorbildliche Art und Weise, wie mutig sich jemand in finsteren Zeiten entschieden hat, der eigentlich nach dem Willen der vermessenen Machthaber keine Wahl hatte; sie sind auch großartige Dokumente eines mutigen, vorwärtsgewandten Lebens und ein überzeugender Appell an uns alle, unsere aus persönlicher Einsicht gewonnenen Ideale niemals preiszugeben. Es war allerhöchste Zeit, diese von klaren Gedanken, integrer Urteilskraft und zärtlicher Liebe getragenen unvergesslichen Briefe auch dem deutschen Publikum endlich zugänglich zu machen.

„Der Vogel hat keine Flügel mehr“, mit Kommentaren von Angelika Schrobsdorff und Claude Lanzmann, erschienen bei dtv, 294 Seiten, €19,90

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