I.
Es ist
eine gute Nachricht, dass der Sprachwissenschaftler Klaus-Michael
Bogdal, geboren 1948 in Gelsenkirchen, den diesjährigen Leipziger
Buchpreis für europäische Verständigung erhalten wird. In seiner
bereits im Herbst 2011 erschienenen Studie „Europa erfindet die
Zigeuner“ zeigt der langjährige Inhaber des Bielefelder Lehrstuhls
für Germanistische Literaturwissenschaft auf ebenso frappante wie
fesselnde Art und Weise, in welchem Ausmaß die politische und
geistige Elite Europas ein Bild vom „Zigeuner“ im Laufe der
Jahrhunderte geschaffen und verfestigt hat, das bis heute in
zahlreichen Vorurteilen und Stereotypen präsent geblieben ist: ob in
seiner negativen Ausprägung im Bild vom „verschlagenen Dieb und
Messerstecher“ oder seiner positiven Variante vom „begnadeten
Teufelsgeiger“ und musikalischen Genie.
Bogdal
stützt sich bei seiner tiefgreifenden Analyse auf
verschiedenartigste schriftliche Quellen aus mehr als sechshundert
Jahren, die sowohl juristische Dokumente, politische Dekrete und
Amtschroniken umfassen als auch literarische oder philosophische
Äußerungen von bis heute anerkannten und bewunderten europäischen
Geistesgrößen, von denen sich allerdings die wenigsten durch
Offenheit, Empathie oder Toleranz auszeichnen.
In der
jahrhundertelangen europäischen Wahrnehmung der Roma als scheinbar
in Nationalgesellschaften nicht integrierbare Außenseiter drängt
sich unwillkürlich eine Parallele zwischen dem Antiziganismus und
dem historischen Antisemitismus auf: sowohl Angehörige des Volkes
der Roma als auch des Judentums bilden erfolgreiche kosmopolitische
Gemeinschaften, die die beschränkende Idee vom Nationalstaat bereits
seit Jahrhunderten überwunden zu haben scheinen. Bogdals Sicht auf
den Antisemitismus als kleinbürgerliche Reaktion auf vermeintlich
unerreichbare Güter wie Bildung und finanziellen Reichtum greift
dabei allerdings zu kurz, weil sie historisch zu jung ist. Ähnlich
wie das Volk der Roma galt auch die Mehrheit der bitterarmen
osteuropäischen Juden gerade den mit einem höheren Lebens- und
Bildungsstandard ausgestatteten Bürgern der mitteleuropäischen
Nationalstaaten als in besonderem Maße rückständig und primitiv
und somit als berechtigterweise hassenswert.
Besonders
angesichts des in manchen osteuropäischen Staaten heute wieder
beängstigende Ausmaße annehmenden Antiziganismus ist Bogdals
ungewöhnliches Buch eine absolute Bereicherung für den
gesellschaftlichen Diskurs, weil es zeigt, wie sehr selbst die
vermessensten unserer Ideen nachhaltigen Einfluss auf die Realität
zu nehmen vermögen.
II.
Unkraut nennt
ihr uns.
Dabei sind wir
eine andere Getreideart
die unter euch
wächst und blüht
und Samen für
die Zukunft bringt
wenn ihr zu wachsen ihm erlaubt.
Diese
eindringlichen Verse schrieb der im Dezember 2010 in Wien allzu früh
verstorbene Roma-Dichter Ilija Jovanović in einem für sein Werk
repräsentativen Text in seinem erst posthum erschienenen dritten
Gedichtband „Mein Nest in deinem Haar“. Nur wenige Wochen zuvor
war der für die Belange seiner Minderheit hoch engagierte
langjährige Obmann des Wiener Romano Centro mit dem im
deutschen Sprachraum jährlich vergebenen Exil-Lyrikpreis
ausgezeichnet worden.
Was Jovanović vor vielen
seiner Kollegen auszeichnet, ist die unmittelbare sprachliche und
emotionale Zugänglichkeit, die scheinbare „Volkstümlichkeit“,
die schwer zu erreichende Einfachheit seiner milde-nachdenklichen
unvergesslichen Verse; die fundamentalen Erfahrungen, von denen er
schreibt, sind absolut universeller Natur, seine Sprache stets
ungekünstelt und authentisch. Viele seiner meist kurzen Gedichte,
die das Ausgestoßensein und die Verfolgung der Roma auf
eindringliche Art und Weise thematisieren, scheinen immer wieder auch
in besonderem Maße die jüdische Erfahrung wiederzugeben, geradezu
unvermeidlich und unausweichlich scheint das Schicksal des
nicht-dazu-Gehörens, wenn auch in unverkennbar christlicher
Symbolik:
Die vielen Hände
die mich
peitschen wenn
ich mein Kreuz
trage
wissen nicht
warum sie es tun
aber sie tun es.
Seit
Jahrhunderten tun sie es
diese Hände.
Dennoch bekräftigt Jovanović immer
wieder stolz seine Wurzeln, erinnert sich voll Liebe an seine
Kindheit, an seine kindliche Liebe zur Mutter und zur Großmutter.
Komm ins Haus
Ilija
du wirst vom
Regen nass!
Ich komme, sage
ich
aber das ist
kein Regen Oma es sind
die Tränen
unserer Vorfahren sie weinen
weil sie von uns
getrennt sind.
Du Narr, sagt
sie und lacht.
Als einer, der in einem
Romalager geboren, sich ohne höheren Schulabschluss in den
verschiedensten Berufen durchgeschlagen hat, die Erfahrung des
Ausgestoßenen, des Migranten durchlitten, die österreichische
Staatsbürgerschaft erworben und als Dichter in drei Sprachen sich
den höchsten künstlerischen Respekt erworben hat, weiß genau, was
der Migrant der Gesellschaft zu geben vermag.
So
wird in all seinen Versen eine absolut berührende, vorbehaltlose
Liebe zu allen belebten Dingen deutlich: Liebe als einzig wahrer
Lebensantrieb, die Liebe zum Mitmenschen ebenso wie die erotische
Liebe, die uns erst zu jeder anderen Liebe fähig macht, die
Selbstliebe, aber auch die Liebe zur Natur.
III.
Die
von Erri de Luca geförderte italienische Sozialwissenschaftlerin und
Schriftstellerin Milena Magnani verbrachte vor einigen Jahren zu
Recherchezwecken ein halbes Jahr in einem Romalager in Norditalien.
Diese aufrüttelnde Erfahrung verarbeitete sie zu ihrem von der
Literaturkritik zu Recht gefeierten und 2009 mit dem Riviera
Buchpreis ausgezeichneten dritten Roman „Der gerettete Zirkus“,
der seit Frühjahr 2011 auch in deutscher Sprache vorliegt.
Es ist
die Geschichte einer Blutrache, der archaischsten und radikalsten bis
heute erhaltenen Ausprägung der sprichwörtlichen biblischen
Rechtsauffassung, Gleiches mit Gleichem zu vergelten: „Auge um
Auge, Zahn um Zahn“. Der mit allen Attributen eines großen
Rhapsoden ausgestattete Erzähler des Buches wird bereits auf der
ersten Seite des Buches mit sieben wütend geführten Messerstichen
tödlich verletzt und zum Sterben am Rande eines vorwiegend von Roma
unterschiedlichster Herkunft bevölkerten Flüchtlingslagers in der
namenlosen italienischen Provinz liegen gelassen, wo auch er selbst
eine armselige Baracke bewohnte.
Hier
trifft sein sterbendes Auge ein letztes Mal auf das von ihm väterlich
geliebte und mit aller Macht geförderte Mädchen Senija. Und während
die schrecklichen Füchse des Todes schon an Branko schnuppern, den
alle nur den hungarez nennen, und mit ihren furchtbaren
buschigen Schwänzen über seine Augenlider streifen, nimmt dieser
die allerletzte, unermessliche Anstrengung auf sich, für die elenden
Kinder des Lagers seine Geschichte zu Ende zu erzählen:
Jetzt,
wo das Herz aufgegeben hat, entdecke ich, dass ich mich in einem
unermesslichen Raum befinde. Einem Raum, der immer noch weitergeht,
und wenn ich es recht bedenke, könnte ich ihn füllen, indem ich den
Gedanken freien Lauf lasse, damit ich es noch schaffe, alles zu
erklären. Jedenfalls werde ich es versuchen.
In
klaren, poetischen Worten erzählt Branko die Geschichte seines
Großvaters, eines ungarischen Roma, der zu Beginn der sich
abzeichnenden Verfolgung durch die Nazis die Utensilien seines
Wanderzirkus’ in der Scheune eines vermeintlichen Freundes
versteckt, welcher ihn und seine Familie jedoch bei den Deutschen
denunziert. Sein Sohn, Brankos Vater, ist der einzige, der die Hölle
von Auschwitz überlebt, und Branko kehrt viele Jahre später zurück,
um die Relikte des Zirkus auszulösen, und sich tödlich an dem
Verräter zu rächen.
Seine
Flucht vor der drohenden Blutrache führt ihn mit den sorgsam von ihm
gehüteten Zirkuskisten schließlich in das italienische
Flüchtlingslager, wo er mit seinen fantasievollen Geschichten die
hoffnungslosen Kinder fasziniert und langsam eine Saat in ihnen
aufgehen lässt, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu versprechen
vermag, welche auch ihre Eltern aus ihrer bleiernen Lethargie
herausreißt.
„Der
gerettete Zirkus“ ist mit seiner unaufdringlich-zarten,
lebensgesättigten Melancholie und seinem grenzenlosen Vertrauen in
die Macht der Poesie die eindringlichste und realistischste
Schilderung dessen, was die Identität eines Roma in der jüngeren
Vergangenheit ausgemacht hat und auch insbesondere heute noch
bedeutet.
„Europa erfindet die Zigeuner“, erschienen bei Suhrkamp, 590 Seiten, €
24,90
„Mein Nest in Deinem Haar - Moro kujbo ande cire bal “, erschienen bei
Drava, 132 Seiten, € 19,80
„Der gerettete Zirkus“, aus dem Italienischen von Maja Pflug, erschienen bei Edition Nautilus, 189
Seiten, € 18,90
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