Jerusalem

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Dienstag, 8. Januar 2013

„Der Liebhaber bald nach dem Frühstück“ von Michael Köhlmeier


Zahlreiche Lyrik-Wettberwerbe im deutschen Sprachraum lehnen bis heute bereits in ihrer Ausschreibung explizit die Einsendung von „Befindlichkeitslyrik“ ab; dieser unscharfe Begriff, den man im übrigen in kaum einem renommierten Literaturlexikon und nicht einmal bei Wikipedia vorfindet, zielt vor allem darauf ab, die subjektiven Erlebniswelten des einzelnen Individuums als literarisches Material der Lyrik von vornherein zu diskreditieren.

Während man in einer pluralistischen Gesellschaft gemeinhin größten Wert auf das bereichernde Gesamtbild der unterschiedlichsten in ihr vorhandenen Wahrnehmungen und Sinneseindrücke legt, soll dies ausgerechnet in der sogenannten „Königsdisziplin“ der Literatur, der Poesie nicht gelten? Die großen Poeten der Weltliteratur haben immer wieder in ihren Werken aus ihrer individuellen Wahrnehmung heraus wichtige Nadelstiche gegen den Zeitgeist gesetzt; selbst Günter Grass – der sich selbst fern der Befindlichkeitslyrik sehen dürfte – stellt sein misslungenes Pseudo-Gedicht „Was gesagt werden muss“ aus dem vergangenen Jahr bewusst in diesen Zusammenhang.

Dieses eklatante Missverhältnis lässt sich vermutlich nur durch den weitreichenden Missbrauch der deutschen Sprache durch die Nationalsozialisten erklären: eine ganze Generation begabter deutscher Lyriker hat nach 1945 gleichsam nur gegen diesen Sprachmissbrauch angeschrieben. Dabei hat diese Generation teilweise unbewusst literaturferne Ideen übernommen, die ihren Werken zwar eine anerkennenswerte politische und literaturtheoretische Dimension aufprägte, diese aber gleichzeitig für den gewöhnlichen Leser unattraktiv machte.


Nicht umsonst zählt die Lyrik innerhalb des deutschen Literaturbetriebs heute zu den unpopulärsten Genres überhaupt, während sie vor dem Zweiten Weltkrieg noch zu den beliebtesten und am meisten gelesenen gehörte. Lyrik ist manchem Leser so kostbar, dass er sie auswendig lernt, um sie immer bei sich tragen zu können.

Der österreichische Maler und prominente Vertreter des Phantastischen Realismus Arik Brauer (geboren 1929) schreibt in seinem Band „Museum und Sammlung“(2011):

Die künstlerische Substanz und Qualität eines Werkes ist aber völlig unabhängig von seinem Verwendungszweck. Ein Kunstwerk ist gut, wenn es gut ist, auch dann, wenn es dazu dient Menschen einzuschüchtern, zu beherrschen und zu verführen. Ein Kunstwerk wird nicht besser und nicht schlechter, wenn es mit der Absicht geschaffen wurde das Publikum zu erfreuen, einzulullen, aufzurütteln, zu verstören oder als Neuerung darzustellen. Die Wirkung, für die es geschaffen wurde, verliert mit der Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen ihre Kraft, aber der Wert bleibt erhalten. Kunst ist in ihrem Kern unabhängig von den Entwicklungen und Veränderungen der Gesellschaft. Wir haben auch aus diesem Grund überhaupt kein Problem, Jahrtausende alte Kunstwerke zu verstehen und zu bewundern.

Davon, wie leicht und unmittelbar zugänglich, wie humorvoll und geistreich, aber auch wie tiefgründig und originell deutsche Lyrik sein kann, beweist derzeit die im Herbst 2012 bei dtv erschienene vorbildlich erarbeitete Gesamtausgabe von Mascha Kaleko (1907-1975), die wie kaum eine andere deutsche Dichterin des Zwanzigsten Jahrhunderts das Schwere ganz einfach auszudrücken vermochte.

Aber auch der österreichische Romancier und meisterhafte Geschichtenerzähler Michael Köhlmeier, für den das Erzählen von jeher einen Wert an sich darstellt, zeigt in seinem in der Edition Lyrik Kabinett bei Hanser erschienenen ersten Lyrikband „Der Liebhaber bald nach dem Frühstück“, wie der sprichwörtliche „erste“, mitunter gar kindlich-naive Blick des Dichters alles, was er beobachtet und niederschreibt zu Poesie werden lassen kann:

Ihre kleinen Füße mit den kleinen Zehen
Sind nackt und sind fleckig vom Regen.
Komm, schau dir das an! Als wär er

Vom Himmel gefallen!“ Ein Salamander
Mitten in der Stadt, das Köpfchen erhoben,
Wie wenn er neugierig wär. „Und wenn er's ist?“

Sie hockt sich auf ihre Fersen, spreizt
Die Schenkel und blickt zwischen ihnen
Hindurch auf das kleine schwarze Tier.

Durch die Augen des mit unverbrauchtem Enthusiasmus debütierenden Lyrikers Köhlmeier erleben wir unverhofft zahlreiche uns bekannte alltägliche Situationen scheinbar neu, mit wachen Sinnen und zärtlichem, ja geradezu liebevoll-verständnisinnigem Blick. Und dieser Blick des Wiedererkennens vermag uns tatsächlich innerlich zu stützen, da er uns ermöglicht, gleichsam aus uns heraus zu schlüpfen und so eine neuartige, möglicherweise „heilsame“ Perspektive einzunehmen, aus der wir uns auf geradezu meditative Art und Weise gleichsam „von oben“ ganz unvoreingenommen selbst betrachten und den Zauber des Augenblicks wiederentdecken können:

Auf das Weiße
In ihren Augen
Lässt sie tätowieren:
Find Mich Im Wald

So entstehen zahlreiche unverbrauchte, äußerst einprägsame poetische Bilder im Leser, die nicht nur im Blick auf die Realität seine Imagination anregen, sondern auch dazu ermutigen, sich die scheinbar banalen Dinge des Alltags konsequent bewusst zu machen und diese dadurch für sich neu zu definieren und auszugestalten. Dadurch entsteht Unterhaltung im besten Sinne: nämlich ebenso anregende wie nachhaltige Beschäftigung für Geist und Seele, die bewirkt, dass wir uns im sprichwörtlichen Spiegel nicht nur angucken dürfen, sondern uns dabei sogar selber zuzulächeln vermögen.

„Der Liebhaber bald nach dem Frühstück“, erschienen bei Hanser, 96 Seiten, € 14,90

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