Zahlreiche
Lyrik-Wettberwerbe im deutschen Sprachraum lehnen bis heute bereits
in ihrer Ausschreibung explizit die Einsendung von
„Befindlichkeitslyrik“ ab; dieser unscharfe Begriff, den man im
übrigen in kaum einem renommierten Literaturlexikon und nicht einmal
bei Wikipedia vorfindet, zielt vor allem darauf ab, die subjektiven
Erlebniswelten des einzelnen Individuums als literarisches Material
der Lyrik von vornherein zu diskreditieren.
Während man in einer
pluralistischen Gesellschaft gemeinhin größten Wert auf das
bereichernde Gesamtbild der unterschiedlichsten in ihr vorhandenen
Wahrnehmungen und Sinneseindrücke legt, soll dies ausgerechnet in
der sogenannten „Königsdisziplin“ der Literatur, der Poesie
nicht gelten? Die großen Poeten der Weltliteratur haben immer wieder
in ihren Werken aus ihrer individuellen Wahrnehmung heraus wichtige
Nadelstiche gegen den Zeitgeist gesetzt; selbst Günter Grass – der
sich selbst fern der Befindlichkeitslyrik sehen dürfte – stellt
sein misslungenes Pseudo-Gedicht „Was gesagt werden muss“ aus dem
vergangenen Jahr bewusst in diesen Zusammenhang.
Dieses eklatante
Missverhältnis lässt sich vermutlich nur durch den weitreichenden
Missbrauch der deutschen Sprache durch die Nationalsozialisten
erklären: eine ganze Generation begabter deutscher Lyriker hat nach
1945 gleichsam nur gegen diesen Sprachmissbrauch angeschrieben. Dabei
hat diese Generation teilweise unbewusst literaturferne Ideen
übernommen, die ihren Werken zwar eine anerkennenswerte politische
und literaturtheoretische Dimension aufprägte, diese aber
gleichzeitig für den gewöhnlichen Leser unattraktiv machte.
Nicht umsonst zählt die
Lyrik innerhalb des deutschen Literaturbetriebs heute zu den
unpopulärsten Genres überhaupt, während sie vor dem Zweiten
Weltkrieg noch zu den beliebtesten und am meisten gelesenen gehörte.
Lyrik ist manchem Leser so kostbar, dass er sie auswendig lernt, um
sie immer bei sich tragen zu können.
Der österreichische
Maler und prominente Vertreter des Phantastischen Realismus Arik Brauer (geboren 1929) schreibt in seinem Band „Museum und
Sammlung“(2011):
Die künstlerische
Substanz und Qualität eines Werkes ist aber völlig unabhängig von
seinem Verwendungszweck. Ein Kunstwerk ist gut, wenn es gut ist, auch
dann, wenn es dazu dient Menschen einzuschüchtern, zu beherrschen
und zu verführen. Ein Kunstwerk wird nicht besser und nicht
schlechter, wenn es mit der Absicht geschaffen wurde das Publikum zu
erfreuen, einzulullen, aufzurütteln, zu verstören oder als Neuerung
darzustellen. Die Wirkung, für die es geschaffen wurde, verliert mit
der Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen ihre Kraft, aber
der Wert bleibt erhalten. Kunst ist in ihrem Kern unabhängig von den
Entwicklungen und Veränderungen der Gesellschaft. Wir haben auch aus
diesem Grund überhaupt kein Problem, Jahrtausende alte Kunstwerke zu
verstehen und zu bewundern.
Davon, wie leicht und
unmittelbar zugänglich, wie humorvoll und geistreich, aber auch wie
tiefgründig und originell deutsche Lyrik sein kann, beweist derzeit
die im Herbst 2012 bei dtv erschienene vorbildlich erarbeitete
Gesamtausgabe von Mascha Kaleko (1907-1975), die wie kaum eine andere
deutsche Dichterin des Zwanzigsten Jahrhunderts das Schwere ganz
einfach auszudrücken vermochte.
Aber auch der
österreichische Romancier und meisterhafte Geschichtenerzähler
Michael Köhlmeier, für den das Erzählen von jeher einen Wert an
sich darstellt, zeigt in seinem in der Edition Lyrik Kabinett bei
Hanser erschienenen ersten Lyrikband „Der Liebhaber bald nach dem
Frühstück“, wie der sprichwörtliche „erste“, mitunter gar
kindlich-naive Blick des Dichters alles, was er beobachtet und
niederschreibt zu Poesie werden lassen kann:
Ihre
kleinen Füße mit den kleinen Zehen
Sind
nackt und sind fleckig vom Regen.
„Komm,
schau dir das an! Als wär er
Vom
Himmel gefallen!“ Ein Salamander
Mitten
in der Stadt, das Köpfchen erhoben,
Wie
wenn er neugierig wär. „Und wenn er's ist?“
Sie
hockt sich auf ihre Fersen, spreizt
Die
Schenkel und blickt zwischen ihnen
Hindurch
auf das kleine schwarze Tier.
Durch die Augen des mit
unverbrauchtem Enthusiasmus debütierenden Lyrikers Köhlmeier
erleben wir unverhofft zahlreiche uns bekannte alltägliche
Situationen scheinbar neu, mit wachen Sinnen und zärtlichem, ja
geradezu liebevoll-verständnisinnigem Blick. Und dieser Blick des
Wiedererkennens vermag uns tatsächlich innerlich zu stützen, da er
uns ermöglicht, gleichsam aus uns heraus zu schlüpfen und so eine neuartige, möglicherweise „heilsame“ Perspektive einzunehmen,
aus der wir uns auf geradezu meditative Art und Weise gleichsam „von
oben“ ganz unvoreingenommen selbst betrachten und den
Zauber des Augenblicks wiederentdecken können:
Auf
das Weiße
In
ihren Augen
Lässt
sie tätowieren:
Find Mich Im Wald
So entstehen zahlreiche
unverbrauchte, äußerst einprägsame poetische Bilder im Leser, die
nicht nur im Blick auf die Realität seine Imagination anregen,
sondern auch dazu ermutigen, sich die scheinbar banalen Dinge des
Alltags konsequent bewusst zu machen und diese dadurch für sich neu
zu definieren und auszugestalten. Dadurch entsteht Unterhaltung im
besten Sinne: nämlich ebenso anregende wie nachhaltige Beschäftigung
für Geist und Seele, die bewirkt, dass wir uns im sprichwörtlichen
Spiegel nicht nur angucken dürfen, sondern uns dabei sogar selber
zuzulächeln vermögen.
„Der Liebhaber bald nach dem Frühstück“, erschienen bei Hanser, 96 Seiten, € 14,90
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.