Jerusalem

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Mittwoch, 16. Januar 2013

„Der Mann, der sich selbst besuchte“ von Hans Sahl



Mit dem nun endlich vorliegenden abschließenden vierten Band der ambitionierten Werkausgabe des heute leider wieder einmal nahezu vergessen scheinenden großartigen deutsch-jüdischen Lyrikers und Romanciers Hans Sahl (1902-1993) eröffnet sich dem Leser jetzt eine vierte hochwillkommene, dringend zu ergreifende Chance, die unverwechselbare Stimme eines höchst originellen, ebenso geistreichen wie tiefgründigen Schriftstellers und Zeit seines langen Lebens stets hellwachen Beobachters und absolut integren literarischen Chronisten seiner Umwelt wiederzuentdecken, bevor die allseits bekannten Mechanismen des auf vordergründige Aktualität im Sinne vorübergehender Trends zielenden gegenwärtigen Literaturbetriebs ihn wieder dem unvermeidlich scheinenden allmählichen Vergessen aussetzen mögen.

Besonders Sahls ausgefeilte, aussagekräftige Gedichte dürfen wir heute wieder verstreut in zahlreichen verdienstvollen Anthologien deutscher Lyrik des furchtbaren und wechselhaften Zwanzigsten Jahrhunderts wiederentdecken:

Manch ein Land hat mich in manch einer Nacht
Um den Schlaf gebracht,
den ich verdiene,
die aus Zeitersparnis erfundene Guillotine,
die chemische Judenausrottungsmaschine
und der Gulag Archipel,
nicht von Deutschen erdacht.
Denk ich an den Menschen in der Nacht,
bin ich um den Verstand gebracht.

Seine aufschlussreichen Erinnerungen „Memoiren eines Moralisten“ und „Das Exil im Exil“ sowie sein einziger Schlüsselroman „DieWenigen und die Vielen“ legen eindrucksvoll Zeugnis ab von einer universell gebildeten, freigeistigen, ebenso scharfsinnigen wie streitlustigen Künstlerpersönlichkeit, die angesichts der Machtübernahme der Nationalsozialisten den Weg des Exils zu gehen gezwungen war, auch dort nicht vor politischen Kämpfen zurückschreckte und darüber hinaus noch aus erster Hand bildreich davon berichten konnte, „wie Brecht gespuckt und Thomas Mann sich geräuspert hat“, wie er selber schreibt.



Der abschließende vierte Band „Der Mann der sich selbst besuchte – Die Erzählungen und Glossen“ bietet neben dem, was wir von Sahl bereits zu kennen glauben, zahlreiche literarische Kabinettstückchen und sonstige kunstvolle Überraschungen: so in der Titelgeschichte eine erfrischende Erzählung mit absurd-tiefgründigem Inhalt, die auf wohltuend-eigenständige Weise Anklänge an Franz Kafka und Daniil Charms ausgestaltet. In anderen konventionelleren Erzählungen erleben wir den als Sohn eines großbürgerlichen jüdischen Kaufmanns in Berlin aufgewachsenen Schriftsteller vor allem als nachsichtigen Menschenfreund, der seinen unzulänglichen Protagonisten seine ganze Sympathie und all sein Mitgefühl entgegenbringt und auch Tieftrauriges mit den unerwarteten Sonnenstrahlen seines empathischen Humors zu beleuchten vermag.

Besonders lesenswert allerdings sind Hans Sahls zahlreiche, seit 1926 in den Feuilletons der unterschiedlichsten Zeitungen und Zeitschriften erschienene Glossen, die von den Herausgebern Nils Kern und Klaus Siblewski unter der Prämisse eines deutlich erkennbaren erzählerischen Kerns ausgewählt wurden, um sie auf diese Weise von seinen unzähligen „gewöhnlichen“ Literatur- und Filmkritiken abgrenzen zu können, die im vorliegenden Band explizit nicht erscheinen.

Angesichts des weitgehend unwidersprochen bleibenden aktuellen schleichenden Rechtsrucks in unserer Gesellschaft wirkt insbesondere Hans Sahls ebenso sprachmächtiger wie scharfsinniger fünfunddreißigseitiger Essay „Klassiker der Leihbibliothek“ über Wegbereiter des Nationalsozialismus aus der Unterhaltungsliteratur sehr erhellend, da wir hier einerseits vergessene Namen wie Rudolf Herzog, Rudolf Stratz, Richard Skowronnek oder Fedor von Zobeltitz wiederhören, die im deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik zu den unangefochtenen Bestsellerautoren ihrer Generation gehörten und deren zweifelhafter Verdienst es ist, in ihren Abenteuerromanen und Liebesschmonzetten ihre Leser bereits frühzeitig auf die Machtübernahme Hitlers und dessen lebensfeindlich-menschenverachtende Ideologie eingeschworen zu haben:

Dieses skrupellose Vorbeisehen an jeder menschlichen und politischen Realität aber entfaltet in „Wieland, der Schmied“ eine quallige Gesinnungspampe aus Blut, Eisen, Brutalität und Familiensinn, deren literarischer Niederschlag einen fleißigen Besuch gewisser germanistischer Proseminare unschwer erkennen lässt.

Als dankbare Parallellektüre hierzu empfiehlt sich übrigens die soeben als griffige Taschenbuchausgabe erschienene wissenschaftliche Untersuchung „Lesen unter Hitler“ des Germanisten Christian Adam.

Als US-Kulturkorrespondent für renommierte Zeitungen wie die Süddeutsche, NZZ oder Die Zeit veröffentlichte Hans Sahl auch zahlreiche absolut lesenswerte Glossen über speziell-amerikanische Kunstformen, insbesondere den Film oder bekannte Schauspieler, schrieb aber auch immer wieder besonders plastisch über das Generationenschicksal des persönlichen und künstlerischen Exils sowie dessen prominente Protagonisten.

Laß mich noch leben, mein Ich,
warte, bis ich mich vollende.
Nimm nicht in deine Hände,
was noch mein ist: mein Ende.

Auch wenn der Schriftsteller und Dichter Hans Sahl nach Abschluss der nun kompletten Werkausgabe auf absehbare Zeit wieder aus dem Bewusstsein des deutschen Lesepublikums schwinden sollte, ist seine Bedeutung für die deutsche Literatur und das Geistesleben im Deutschland des Zwanzigsten Jahrhunderts so unbestreitbar groß, dass eine erneute „Wiederentdeckung“ zu einem späteren Zeitpunkt glücklicherweise unvermeidlich erscheinen muss.

„Der Mann, der sich selbst besuchte“, erschienen bei Luchterhand, 416 Seiten, €

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