Mit dem nun endlich vorliegenden abschließenden vierten
Band der ambitionierten Werkausgabe des heute leider wieder einmal nahezu
vergessen scheinenden großartigen deutsch-jüdischen Lyrikers und Romanciers
Hans Sahl (1902-1993) eröffnet sich dem Leser jetzt eine vierte
hochwillkommene, dringend zu ergreifende Chance, die unverwechselbare Stimme
eines höchst originellen, ebenso geistreichen wie tiefgründigen Schriftstellers
und Zeit seines langen Lebens stets hellwachen Beobachters und absolut integren
literarischen Chronisten seiner Umwelt wiederzuentdecken, bevor die allseits
bekannten Mechanismen des auf vordergründige Aktualität im Sinne
vorübergehender Trends zielenden gegenwärtigen Literaturbetriebs ihn wieder dem
unvermeidlich scheinenden allmählichen Vergessen aussetzen mögen.
Besonders Sahls ausgefeilte, aussagekräftige Gedichte
dürfen wir heute wieder verstreut in zahlreichen verdienstvollen Anthologien
deutscher Lyrik des furchtbaren und wechselhaften Zwanzigsten Jahrhunderts
wiederentdecken:
Manch ein Land hat mich in
manch einer Nacht
Um den Schlaf gebracht,
den ich verdiene,
die aus Zeitersparnis
erfundene Guillotine,
die chemische
Judenausrottungsmaschine
und der Gulag Archipel,
nicht von Deutschen
erdacht.
Denk ich an den Menschen in
der Nacht,
bin ich um den Verstand
gebracht.
Seine aufschlussreichen Erinnerungen „Memoiren eines Moralisten“ und „Das Exil im Exil“ sowie sein einziger Schlüsselroman „DieWenigen und die Vielen“ legen eindrucksvoll Zeugnis ab von einer universell
gebildeten, freigeistigen, ebenso scharfsinnigen wie streitlustigen
Künstlerpersönlichkeit, die angesichts der Machtübernahme der
Nationalsozialisten den Weg des Exils zu gehen gezwungen war, auch dort nicht
vor politischen Kämpfen zurückschreckte und darüber hinaus noch aus erster Hand
bildreich davon berichten konnte, „wie Brecht gespuckt und Thomas Mann sich
geräuspert hat“, wie er selber schreibt.
Der
abschließende vierte Band „Der Mann der sich selbst besuchte – Die Erzählungen
und Glossen“ bietet neben dem, was wir von Sahl bereits zu kennen glauben,
zahlreiche literarische Kabinettstückchen und sonstige kunstvolle
Überraschungen: so in der Titelgeschichte eine erfrischende Erzählung mit
absurd-tiefgründigem Inhalt, die auf wohltuend-eigenständige Weise Anklänge an
Franz Kafka und Daniil Charms ausgestaltet. In anderen konventionelleren
Erzählungen erleben wir den als Sohn eines großbürgerlichen jüdischen Kaufmanns
in Berlin aufgewachsenen Schriftsteller vor allem als nachsichtigen Menschenfreund,
der seinen unzulänglichen Protagonisten seine ganze Sympathie und all sein
Mitgefühl entgegenbringt und auch Tieftrauriges mit den unerwarteten
Sonnenstrahlen seines empathischen Humors zu beleuchten vermag.
Besonders
lesenswert allerdings sind Hans Sahls zahlreiche, seit 1926 in den Feuilletons
der unterschiedlichsten Zeitungen und Zeitschriften erschienene Glossen, die
von den Herausgebern Nils Kern und Klaus Siblewski unter der Prämisse eines
deutlich erkennbaren erzählerischen Kerns ausgewählt wurden, um sie auf diese
Weise von seinen unzähligen „gewöhnlichen“ Literatur- und Filmkritiken
abgrenzen zu können, die im vorliegenden Band explizit nicht erscheinen.
Angesichts des
weitgehend unwidersprochen bleibenden aktuellen schleichenden Rechtsrucks in
unserer Gesellschaft wirkt insbesondere Hans Sahls ebenso sprachmächtiger wie
scharfsinniger fünfunddreißigseitiger Essay „Klassiker der Leihbibliothek“ über
Wegbereiter des Nationalsozialismus aus der Unterhaltungsliteratur sehr
erhellend, da wir hier einerseits vergessene Namen wie Rudolf Herzog, Rudolf
Stratz, Richard Skowronnek oder Fedor von Zobeltitz wiederhören, die im
deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik zu den unangefochtenen
Bestsellerautoren ihrer Generation gehörten und deren zweifelhafter Verdienst
es ist, in ihren Abenteuerromanen und Liebesschmonzetten ihre Leser bereits
frühzeitig auf die Machtübernahme Hitlers und dessen
lebensfeindlich-menschenverachtende Ideologie eingeschworen zu haben:
Dieses skrupellose Vorbeisehen an jeder menschlichen und
politischen Realität aber entfaltet in „Wieland, der Schmied“ eine quallige
Gesinnungspampe aus Blut, Eisen, Brutalität und Familiensinn, deren
literarischer Niederschlag einen fleißigen Besuch gewisser germanistischer Proseminare
unschwer erkennen lässt.
Als dankbare Parallellektüre hierzu empfiehlt sich
übrigens die soeben als griffige Taschenbuchausgabe erschienene
wissenschaftliche Untersuchung „Lesen unter Hitler“ des Germanisten Christian
Adam.
Als
US-Kulturkorrespondent für renommierte Zeitungen wie die Süddeutsche, NZZ
oder Die Zeit veröffentlichte Hans Sahl auch zahlreiche absolut
lesenswerte Glossen über speziell-amerikanische Kunstformen, insbesondere den
Film oder bekannte Schauspieler, schrieb aber auch immer wieder besonders
plastisch über das Generationenschicksal des persönlichen und künstlerischen
Exils sowie dessen prominente Protagonisten.
Laß mich noch leben, mein Ich,
warte, bis ich mich vollende.
Nimm nicht in deine Hände,
was noch mein ist: mein Ende.
Auch wenn der
Schriftsteller und Dichter Hans Sahl nach Abschluss der nun kompletten
Werkausgabe auf absehbare Zeit wieder aus dem Bewusstsein des deutschen
Lesepublikums schwinden sollte, ist seine Bedeutung für die deutsche Literatur
und das Geistesleben im Deutschland des Zwanzigsten Jahrhunderts so
unbestreitbar groß, dass eine erneute „Wiederentdeckung“ zu einem späteren
Zeitpunkt glücklicherweise unvermeidlich erscheinen muss.
„Der Mann, der sich selbst besuchte“, erschienen bei Luchterhand, 416 Seiten, €
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