Jerusalem

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Freitag, 25. Januar 2013

„Aus der Zeit fallen“ von David Grossman


In seinem traurig-optimistischen „Lied vom Choqui“, einer Adaption und Nachdichtung indigener südamerikanischer Folklore, erzählt der Kinder-Liedermacher Fredrik Vahle (geboren 1942) von einem kleinen Indianerjungen, dessen liebster Zeitvertreib es ist, auf hohe Bäume und selbst noch in schwindelerregendste, lebensgefährliche Höhen zu klettern. Eines Tages, als er von seinem verborgenen Aussichtpunkt allmählich anschwellenden Kriegslärm hört und bald darauf auch sieht, wie sich die Soldaten seinem Dorf nähern, verliert er in Panik den Halt und stürzt ungebremst in den allzu frühen sicheren Tod, der uns absolut unfassbar und sinnlos erscheinen muss.

An dieser Stelle jedoch vollzieht sich eine fundamentale Wandlung im Charakter des Liedes: in dem Moment, als jede Hoffnung zu Ende sein müsste, passiert das gänzlich Unerwartete – anstatt auf dem kalten Erdboden zerschmettert zu werden, verwandelt sich der Junge in einen fröhlich zwitschernden Vogel und erhebt sich mit leichtem Flügelschlag erneut in allerhöchste Höhen, um seinem Schicksal die Stirn zu bieten und die Dorfbewohner in ihrem andauernden Kampf mit ungebrochenem Optimismus zu stärken.

Ohnmächtig den Tod des eigenen Kindes miterleben zu müssen, ist ohne Zweifel das schlimmste Trauma und bitterste Schicksal, das liebende Eltern sich vorstellen können. Die märchenhaft-unerwartete Wendung im „Lied vom Choqui“, in der deutlich erkennbar auch der christliche Erlösungsgedanke mittels Auferstehung der menschlichen Seele durchscheint, zeigt auf anschaulichste poetische Art und Weise, wie der vermutlich einzige Weg der Bewältigung eines solchen Verlustes gelingen kann, nämlich durch spirituelle Vergegenwärtigung und eigene innere Wandlung und Neupositionierung.

Der bekannte israelische Schriftsteller und Träger des renommierten Friedenspreises des deutschen Buchhandels David Grossman (geboren 1954) musste im Jahr 2006 den Tod eines seiner Söhne hinnehmen, welcher am letzten Tag des einmonatigen Libanonkriegs als Mitglied einer israelischen Panzerbesatzung von einem Abwehrgeschoss der Hisbollah getroffen wurde. Grossman hatte zuvor gemeinsam mit seinen pominenten Kollegen Abraham B. Jehoschua und Amos Oz eindringlich ein sofortiges Ende der Kämpfe gefordert.

Schon in seinem letzten großen Roman, dem von der Kritik gefeierten „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ (2008), den er zu diesem Zeitpunkt bereits begonnen hatte, nähert sich Grossman literarisch diesem eigenen bitteren Lebensthema an: seine Protagonistin entzieht sich darin durch eine mehrtägige Wanderung durch das wilde von Kriegswunden gezeichnete Israel der von ihr befürchteten Überbringung der Nachricht vom Tod ihres Sohnes, der sich kurz zuvor freiwillig zu einem umstrittenen Militäreinsatz gemeldet hatte.



Grossmans neues ambitioniertes Buch „Aus der Zeit fallen“ nähert sich nun aus gänzlich unerwarteter und für sein Werk völlig untypischer Perspektive dem persönlichen Schicksal eines vom Tod des eigenen Sohnes gleichermaßen „tödlich Getroffenen“: in einem vielstimmigen poetisch-erhöhten Text nach dem Vorbild eines antiken Dramas als Wechselgesang vergegenwärtigt er uns unter Zuhilfenahme zahlreicher sprachlicher Archaismen und mit ständigen Perspektivwechseln das gemeinsame Schicksal verschiedener Büger einer archetypischen mittelalterlichen Siedlung, die allesamt den Verlust ihrer Kinder zu beklagen haben und dennoch allein bleiben müssen in ihrer erstarrten Trauer.

Ein transparentes Körperchen,
ein strahlend goldnes Spänchen hat in mir gelebt;
ich wusste: Das bin ich, das ist mein Innerstes,
mein Wesen und der Sinn meines Seins.
Es ward mit mir geboren
und wird auch mit mir sterben, dachte ich –
ahnte ja nicht,
dass ich nach ihm noch weiterleben würde,
als entlebter Mensch,
entseelt, selbst zur Verbannung geworden,
und dass ich lügen würde und es wagen,
ohne mit der Wimper zu zucken „Ich“ zu sagen.

Dabei gelingen Grossman zahlreiche ausdrucksstark-überzeugende Bilder für die Ohnmacht des Trauernden, das Unwiderbringliche des Verlusts, das Ringen um eigenen neuen Lebensmut: buchstäblich „aus der Zeit gefallen“, ja aus jeglichem verstandesmäßig zu bewältigenden Gesamtzusammenhang gerissen, sind alle seine Protagonisten, unfähig sich auf den grausam scheinenden Kreislauf des Lebens einzulassen und sich teils hinter Zynismus, herausforderndem Spott oder der Maske der Hoffnungslosigkeit verstecken. Man spürt Grossmans vergebliches Ringen um persönlichen Trost in nahezu jeder Zeile.

Wie wirst du in meine Augen schauen und ihn dort sehn
wie ein Ungeborenes,
angelegt im Schwarz meiner Pupille.
Jeder Blick, jede Berührung – ein Stich.
Wie werden wir noch einmal lieben, dachte ich
in jener Nacht, wie werden wir lieben,
wo er in solcher Liebe empfangen wurde.

Im Unterschied zum „Lied vom Choqui“ findet jedoch keinerlei spirituelle Verarbeitung des Durchlittenen statt, was vor allem an der überraschend streng scheinenden materialistischen Weltsicht des Autors liegt, der ganz am Ende lediglich zum Anerkennen der bitteren Wahrheit bereit ist:

Und er, er ist tot,
beinah versteh ich die Bedeutung
dieser Klänge: das Kind
ist tot,
ich erkenne an,
dass in den Worten Wahrheit steckt.
Er ist tot.
Er ist tot, doch sein Tod,
sein Tod
ist nicht tot.

Möglicherweise wird Grossmans Buch ohne Kenntnis seiner persönlichen Lebensumstände sowie seiner politischen und philosophischen Positionen in Zukunft milder beurteilt werden können. Da er sich jedoch selbst immer wieder zur Tagespolitik, insbesondere zum Nahostkonflikt zu Wort meldet, fällt es schwer, seinen Text nur als autarkes Werk der Literatur zu sehen und nicht in einen größeren politischen und philosophischen Zusammenhang zu stellen.

Zwischen den Zeilen spüren wir überdeutlich den Wunsch des Autors, in der Trauer über den bitteren Verlust solidarisch zu sein mit all den anderen Trauernden, die ihre Kinder ebenfalls verloren haben. Diese Sehnsucht ist freilich nur allzu verständlich, dennoch scheint es unzulässig, den Tod eines Soldaten, der im Rahmen einer militärischen Aggression gefallen ist, mit dem eines durch Unfall oder tödliche Krankheit gestorbenen Menschen gemein zu machen. Der Tod eines Soldaten auf fremdem Territorium, so beklagenswert er aus humanistischer Sicht bleiben muss, ist kein Unglücksfall, keine Naturkatastrophe, sondern angesichts der genannten Bedingungen ein sogar mit ziemlicher Sicherheit zu erwartendes Ereignis.

Hier gilt es, als engagierter Autor eine eindeutige Position einzunehmen und einen Staat anzuklagen, der es seinen Bürgern im Rahmen ihres obligatorischen Militärdienstes abverlangt, für ihn in den Krieg zu ziehen. Dass Grossman dies in dieser Form weder in seinem großen Roman „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ wagt, noch in seinem neuen Buch „Aus der Zeit fallen“, hinterlässt im Leser das nicht zu leugnende nachhaltige Gefühl eines deutlichen Makels. Hierin liegt die eigentliche Tragödie: in dem, was Grossman in zwei Büchern so wortreich verschweigt.

„Aus der Zeit fallen“, aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer, erschienen bei Hanser, 128 Seiten, € 16,90

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