In
seinem traurig-optimistischen „Lied vom Choqui“, einer Adaption
und Nachdichtung indigener südamerikanischer Folklore, erzählt der
Kinder-Liedermacher Fredrik Vahle (geboren 1942) von einem kleinen
Indianerjungen, dessen liebster Zeitvertreib es ist, auf hohe Bäume
und selbst noch in schwindelerregendste, lebensgefährliche Höhen zu
klettern. Eines Tages, als er von seinem verborgenen Aussichtpunkt
allmählich anschwellenden Kriegslärm hört und bald darauf auch
sieht, wie sich die Soldaten seinem Dorf nähern, verliert er in
Panik den Halt und stürzt ungebremst in den allzu frühen sicheren
Tod, der uns absolut unfassbar und sinnlos erscheinen muss.
An
dieser Stelle jedoch vollzieht sich eine fundamentale Wandlung im
Charakter des Liedes: in dem Moment, als jede Hoffnung zu Ende sein
müsste, passiert das gänzlich Unerwartete – anstatt auf dem
kalten Erdboden zerschmettert zu werden, verwandelt sich der Junge in
einen fröhlich zwitschernden Vogel und erhebt sich mit leichtem
Flügelschlag erneut in allerhöchste Höhen, um seinem Schicksal die
Stirn zu bieten und die Dorfbewohner in ihrem andauernden Kampf mit
ungebrochenem Optimismus zu stärken.
Ohnmächtig
den Tod des eigenen Kindes miterleben zu müssen, ist ohne Zweifel
das schlimmste Trauma und bitterste Schicksal, das liebende Eltern
sich vorstellen können. Die märchenhaft-unerwartete Wendung im
„Lied vom Choqui“, in der deutlich erkennbar auch der christliche
Erlösungsgedanke mittels Auferstehung der menschlichen Seele
durchscheint, zeigt auf anschaulichste poetische Art und Weise, wie
der vermutlich einzige Weg der Bewältigung eines solchen Verlustes
gelingen kann, nämlich durch spirituelle Vergegenwärtigung und
eigene innere Wandlung und Neupositionierung.
Der
bekannte israelische Schriftsteller und Träger des renommierten
Friedenspreises des deutschen Buchhandels David Grossman (geboren
1954) musste im Jahr 2006 den Tod eines seiner Söhne hinnehmen,
welcher am letzten Tag des einmonatigen Libanonkriegs als Mitglied
einer israelischen Panzerbesatzung von einem Abwehrgeschoss der
Hisbollah getroffen wurde. Grossman hatte zuvor gemeinsam mit seinen
pominenten Kollegen Abraham B. Jehoschua und Amos Oz eindringlich ein
sofortiges Ende der Kämpfe gefordert.
Schon
in seinem letzten großen Roman, dem von der Kritik gefeierten „Eine
Frau flieht vor einer Nachricht“ (2008), den er zu diesem Zeitpunkt
bereits begonnen hatte, nähert sich Grossman literarisch diesem
eigenen bitteren Lebensthema an: seine Protagonistin entzieht sich
darin durch eine mehrtägige Wanderung durch das wilde von
Kriegswunden gezeichnete Israel der von ihr befürchteten
Überbringung der Nachricht vom Tod ihres Sohnes, der sich kurz zuvor
freiwillig zu einem umstrittenen Militäreinsatz gemeldet hatte.
Grossmans
neues ambitioniertes Buch „Aus der Zeit fallen“ nähert sich nun
aus gänzlich unerwarteter und für sein Werk völlig untypischer
Perspektive dem persönlichen Schicksal eines vom Tod des eigenen
Sohnes gleichermaßen „tödlich Getroffenen“: in einem
vielstimmigen poetisch-erhöhten Text nach dem Vorbild eines antiken
Dramas als Wechselgesang vergegenwärtigt er uns unter Zuhilfenahme
zahlreicher sprachlicher Archaismen und mit ständigen
Perspektivwechseln das gemeinsame Schicksal verschiedener Büger
einer archetypischen mittelalterlichen Siedlung, die allesamt den
Verlust ihrer Kinder zu beklagen haben und dennoch allein bleiben
müssen in ihrer erstarrten Trauer.
Ein transparentes Körperchen,
ein strahlend goldnes Spänchen hat in mir gelebt;
ich wusste: Das bin ich, das ist mein Innerstes,
mein Wesen und der Sinn meines Seins.
Es ward mit mir geboren
und wird auch mit mir sterben, dachte ich –
ahnte ja nicht,
dass ich nach ihm noch weiterleben würde,
als entlebter Mensch,
entseelt, selbst zur Verbannung geworden,
und dass ich lügen würde und es wagen,
ohne mit der Wimper zu zucken „Ich“ zu sagen.
Dabei
gelingen Grossman zahlreiche ausdrucksstark-überzeugende Bilder für die Ohnmacht des
Trauernden, das Unwiderbringliche des Verlusts, das Ringen um eigenen
neuen Lebensmut: buchstäblich „aus der Zeit gefallen“, ja aus
jeglichem verstandesmäßig zu bewältigenden Gesamtzusammenhang
gerissen, sind alle seine Protagonisten, unfähig sich auf den
grausam scheinenden Kreislauf des Lebens einzulassen und sich teils
hinter Zynismus, herausforderndem Spott oder der Maske der
Hoffnungslosigkeit verstecken. Man spürt Grossmans vergebliches
Ringen um persönlichen Trost in nahezu jeder Zeile.
Wie wirst du in meine Augen schauen und ihn dort sehn
wie ein Ungeborenes,
angelegt im Schwarz meiner Pupille.
Jeder Blick, jede Berührung – ein Stich.
Wie werden wir noch einmal lieben, dachte ich
in jener Nacht, wie werden wir lieben,
wo er in solcher Liebe empfangen wurde.
Im
Unterschied zum „Lied vom Choqui“ findet jedoch keinerlei
spirituelle Verarbeitung des Durchlittenen statt, was vor allem an
der überraschend streng scheinenden materialistischen Weltsicht des
Autors liegt, der ganz am Ende lediglich zum Anerkennen der bitteren
Wahrheit bereit ist:
Und er, er ist tot,
beinah versteh ich die Bedeutung
dieser Klänge: das Kind
ist tot,
ich erkenne an,
dass in den Worten Wahrheit steckt.
Er ist tot.
Er ist tot, doch sein Tod,
sein Tod
ist nicht tot.
Möglicherweise
wird Grossmans Buch ohne Kenntnis seiner persönlichen Lebensumstände
sowie seiner politischen und philosophischen Positionen in Zukunft
milder beurteilt werden können. Da er sich jedoch selbst immer
wieder zur Tagespolitik, insbesondere zum Nahostkonflikt zu Wort
meldet, fällt es schwer, seinen Text nur als autarkes Werk der
Literatur zu sehen und nicht in einen größeren politischen und
philosophischen Zusammenhang zu stellen.
Zwischen
den Zeilen spüren wir überdeutlich den Wunsch des Autors, in der
Trauer über den bitteren Verlust solidarisch zu sein mit all den
anderen Trauernden, die ihre Kinder ebenfalls verloren haben. Diese
Sehnsucht ist freilich nur allzu verständlich, dennoch scheint es
unzulässig, den Tod eines Soldaten, der im Rahmen einer
militärischen Aggression gefallen ist, mit dem eines durch Unfall
oder tödliche Krankheit gestorbenen Menschen gemein zu machen. Der
Tod eines Soldaten auf fremdem Territorium, so beklagenswert er aus
humanistischer Sicht bleiben muss, ist kein Unglücksfall, keine
Naturkatastrophe, sondern angesichts der genannten Bedingungen ein
sogar mit ziemlicher Sicherheit zu erwartendes Ereignis.
Hier
gilt es, als engagierter Autor eine eindeutige Position einzunehmen
und einen Staat anzuklagen, der es seinen Bürgern im Rahmen ihres
obligatorischen Militärdienstes abverlangt, für ihn in den Krieg zu
ziehen. Dass Grossman dies in dieser Form weder in seinem großen
Roman „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ wagt, noch in seinem
neuen Buch „Aus der Zeit fallen“, hinterlässt im Leser das nicht
zu leugnende nachhaltige Gefühl eines deutlichen Makels. Hierin
liegt die eigentliche Tragödie: in dem, was Grossman in zwei Büchern
so wortreich verschweigt.
„Aus der Zeit fallen“, aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer,
erschienen bei Hanser, 128 Seiten, € 16,90
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