Jerusalem

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Mittwoch, 12. Dezember 2012

Chanukka-Geld, Teil 6 – Lisa-Maria Seydlitz


Gegen Ende des Jahres, wenn die Nächte immer länger werden und das allgegenwärtige Dunkel uns zu bedrücken beginnt, feiern mit Judentum, Christentum und Hinduismus drei große Weltreligionen ihre traditionellen Lichterfeste. Chanukka, Weihnachten und Diwali versetzen uns nicht nur als Mitglieder unserer sozialer Gemeinschaften in erwartungsvolle Geschäftigkeit, sondern auch als Konsumenten. Manch einer mag insgeheim sogar auf die verheißene spirituelle Erleuchtung hoffen. Das antike Chanukka-Wunder im Jerusalemer Tempel ließ das ewige Licht sieben Tage länger brennen als die übrig gebliebene kümmerliche Ration geweihten Öls erhoffen ließ. Aus der Vielzahl an Buch-Neuerscherscheinungen des zurückliegenden Jahres, habe ich analog zu diesem Wunder sieben Bücher des Jahres ausgewählt, deren inneres Licht im Geiste des Lesers gleichermaßen lang zu leuchten vermag. Bücher sind immer ein Geschenk – und ein Lichtwunder, das man sich mühelos selbst zünden kann.


„Sommertöchter“ von Lisa-Maria Seydlitz

Unter den wenigen Büchern des Jahres 2012, die mit Sicherheit in Erinnerung bleiben werden, darf eines zweifellos als das schönste gelten: Das bezauberndste literarische Debüt einer jungen deutschen Autorin seit langem stammt aus der Feder der erst sechsundzwanzigjährigen Absolventin des Hildesheimer Studiengangs Kreatives Schreiben, Lisa-Maria Seydlitz, geboren und aufgewachsen in Mannheim.

Als die langjährige Mitherausgeberin der ambitionierten jungen Literaturzeitschrift BELLA triste im Jahr 2008 als Stipendiatin am renommierten, jedoch vom Fachpublikum auch gerne als „Häschenkurs“ belächelten Klagenfurter Literaturkurs teilnehmen durfte, lernte sie dort den Lektor des Kölner DuMont-Verlages kennen, der sie schließlich zur drei Jahre währenden intensiven Arbeit an ihrem großartigen, im Februar erschienenen ersten Roman „Sommertöchter“ motivieren konnte. Zwar bekannte die begabte Autorin anlässlich der Veröffentlichung in einem Interview augenzwinkernd, sie fühle sich nunmehr „leergeschrieben“, dennoch hat sich ihre kreative Anstrengung vor allem aus Sicht des Lesers sehr ausgezahlt.

„Sommertöchter“ ist ein wunderbares, absolut berührendes, ebenso tieftrauriges wie herzensfröhliches, unbekümmertes und sommerlich leichtes Buch über die Suche einer jungen Frau nach dem verlorenen Glück ihrer unbeschwerten Kindheit und die Reise zu sich selbst. „Man erinnert sich nicht über Fotos oder Filmaufnahmen“, sagt eine Nebenfigur des Buches zu Juno, der zwanzigjährigen innerlich vereinsamten Protagonistin, die seit dem plötzlichen Tod ihres geliebten Vaters vor acht Jahren, der eigentlich ein sich seit langem andeutendes, langsames Verschwinden war, von einer tiefen Traurigkeit erfüllt ist und die nicht begreifen kann, warum die scheinbar unbeschwerte Idylle ihrer Kindheit im Grünen so plötzlich enden musste. 



Auch ihre Mutter erinnert sich nicht über Fotos – alle Aufnahmen, auf denen Junos Vater zu sehen war, hat sie ohne Ausnahme entsorgt, das gemeinsame Haus vor den Toren der Stadt noch am Todestag ihres Mannes zugunsten einer funktionalen Stadtwohnung aufgegeben. Aus der neuen Liebesbeziehung ihrer Mutter fühlt Juno sich ausgeschlossen, besonders nach der Geburt ihrer Halbschwester. Eines Tages jedoch erhält sie einen anonymen Brief aus Frankreich mit einem Foto von einem Fischerhaus in der Bretagne und den Worten:

„Liebe Juno, das Haus steht schon so lange leer. [...] Ob ich das Haus verkaufen wolle oder renovieren und an Touristen vermieten, lese ich, die Schrift sieht unsicher aus, als wüssten die Buchstaben und Wörter nicht, ob sie wirklich zusammengehören.“

Da ihre Mutter nicht bereit ist, mit ihr über den Inhalt des Briefes zu reden, obwohl sie offensichtlich maßgeblich zur Aufklärung beitragen könnte und sogar den Schlüssel des Hauses besitzt, macht sich Juno kurz entschlossen auf in die Bretagne, wo sie allerdings feststellen muss, dass bereits eine andere, etwa gleichaltrige junge Frau, die französische Kellnerin Julie, in dem Haus wohnt. Während sie mit Julie, dem gemeinsamen Nachbarn auf Zeit, einem deutschen Architekten, sowie der Restaurantbesitzerin Camille einen unbeschwerten Sommer verlebt, erinnert sie sich immer wieder auch an intensive Episoden aus ihrer Kindheit, an Tage im Freibad oder im Wildgehege mit ihrem Vater, seine für sie und ihre Mutter zunehmend angstbesetzte Abwesenheit während der langen Klinikaufenthalte und schließlich die Leere nach seinem Tod, der durch den radikalen Bruch der Mutter mit ihrem bisherigen Leben für die Zwölfjährige noch unverständlicher bleibt.

In der Konfrontation mit der Vergangenheit und den Erlebnissen mit Julie findet Juno schließlich einen hoffnungsvollen Ansatz, sich von der Last der Vergangenheit zu befreien, ohne sie loslassen zu müssen. „Sommertöchter“ ist ein ganz großes, innerlich erfrischendes Stück Literatur, das zuweilen an die traurig-schönen Romane von Olivier Adam erinnert – man kann nur hoffen, dass die Autorin – entgegen ihrer Äußerung im Interview – noch lange nicht leergeschrieben ist.

„Sommertöchter“, erschienen bei DuMont, 208 Seiten, € 18,99

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