Gegen Ende des Jahres, wenn die Nächte immer länger
werden und das allgegenwärtige Dunkel uns zu bedrücken beginnt, feiern mit
Judentum, Christentum und Hinduismus drei große Weltreligionen ihre
traditionellen Lichterfeste. Chanukka, Weihnachten und Diwali versetzen uns
nicht nur als Mitglieder unserer sozialer Gemeinschaften in erwartungsvolle
Geschäftigkeit, sondern auch als Konsumenten. Manch einer mag insgeheim sogar
auf die verheißene spirituelle Erleuchtung hoffen. Das antike Chanukka-Wunder
im Jerusalemer Tempel ließ das ewige Licht sieben Tage länger brennen als die
übrig gebliebene kümmerliche Ration geweihten Öls erhoffen ließ. Aus der
Vielzahl an Buch-Neuerscherscheinungen des zurückliegenden Jahres, habe ich
analog zu diesem Wunder sieben Bücher des Jahres ausgewählt, deren inneres
Licht im Geiste des Lesers gleichermaßen lang zu leuchten vermag. Bücher sind
immer ein Geschenk – und ein Lichtwunder, das man sich mühelos selbst zünden
kann.
„Sommertöchter“ von Lisa-Maria Seydlitz
Unter den wenigen Büchern des Jahres 2012, die mit
Sicherheit in Erinnerung bleiben werden, darf eines zweifellos als das schönste
gelten: Das bezauberndste literarische Debüt einer jungen deutschen Autorin
seit langem stammt aus der Feder der erst sechsundzwanzigjährigen Absolventin
des Hildesheimer Studiengangs Kreatives Schreiben, Lisa-Maria Seydlitz, geboren
und aufgewachsen in Mannheim.
Als die langjährige Mitherausgeberin der ambitionierten
jungen Literaturzeitschrift BELLA triste im Jahr 2008 als Stipendiatin
am renommierten, jedoch vom Fachpublikum auch gerne als „Häschenkurs“
belächelten Klagenfurter Literaturkurs teilnehmen durfte, lernte sie dort den
Lektor des Kölner DuMont-Verlages kennen, der sie schließlich zur drei Jahre
währenden intensiven Arbeit an ihrem großartigen, im Februar erschienenen
ersten Roman „Sommertöchter“ motivieren konnte. Zwar bekannte die begabte
Autorin anlässlich der Veröffentlichung in einem Interview augenzwinkernd, sie
fühle sich nunmehr „leergeschrieben“, dennoch hat sich ihre kreative
Anstrengung vor allem aus Sicht des Lesers sehr ausgezahlt.
„Sommertöchter“ ist ein wunderbares, absolut berührendes,
ebenso tieftrauriges wie herzensfröhliches, unbekümmertes und sommerlich
leichtes Buch über die Suche einer jungen Frau nach dem verlorenen Glück ihrer
unbeschwerten Kindheit und die Reise zu sich selbst. „Man erinnert sich nicht
über Fotos oder Filmaufnahmen“, sagt eine Nebenfigur des Buches zu Juno, der
zwanzigjährigen innerlich vereinsamten Protagonistin, die seit dem plötzlichen
Tod ihres geliebten Vaters vor acht Jahren, der eigentlich ein sich seit langem
andeutendes, langsames Verschwinden war, von einer tiefen Traurigkeit erfüllt
ist und die nicht begreifen kann, warum die scheinbar unbeschwerte Idylle ihrer
Kindheit im Grünen so plötzlich enden musste.
Auch ihre Mutter erinnert sich nicht über Fotos – alle
Aufnahmen, auf denen Junos Vater zu sehen war, hat sie ohne Ausnahme entsorgt,
das gemeinsame Haus vor den Toren der Stadt noch am Todestag ihres Mannes
zugunsten einer funktionalen Stadtwohnung aufgegeben. Aus der neuen
Liebesbeziehung ihrer Mutter fühlt Juno sich ausgeschlossen, besonders nach der
Geburt ihrer Halbschwester. Eines Tages jedoch erhält sie einen anonymen Brief
aus Frankreich mit einem Foto von einem Fischerhaus in der Bretagne und den
Worten:
„Liebe Juno, das Haus steht schon so lange leer. [...]
Ob ich das Haus verkaufen wolle oder renovieren und an Touristen vermieten,
lese ich, die Schrift sieht unsicher aus, als wüssten die Buchstaben und Wörter
nicht, ob sie wirklich zusammengehören.“
Da ihre Mutter nicht bereit ist, mit ihr über den Inhalt
des Briefes zu reden, obwohl sie offensichtlich maßgeblich zur Aufklärung
beitragen könnte und sogar den Schlüssel des Hauses besitzt, macht sich Juno
kurz entschlossen auf in die Bretagne, wo sie allerdings feststellen muss, dass
bereits eine andere, etwa gleichaltrige junge Frau, die französische Kellnerin
Julie, in dem Haus wohnt. Während sie mit Julie, dem gemeinsamen Nachbarn auf
Zeit, einem deutschen Architekten, sowie der Restaurantbesitzerin Camille einen
unbeschwerten Sommer verlebt, erinnert sie sich immer wieder auch an intensive
Episoden aus ihrer Kindheit, an Tage im Freibad oder im Wildgehege mit ihrem
Vater, seine für sie und ihre Mutter zunehmend angstbesetzte Abwesenheit
während der langen Klinikaufenthalte und schließlich die Leere nach seinem Tod,
der durch den radikalen Bruch der Mutter mit ihrem bisherigen Leben für die
Zwölfjährige noch unverständlicher bleibt.
In der Konfrontation mit der Vergangenheit und den
Erlebnissen mit Julie findet Juno schließlich einen hoffnungsvollen Ansatz,
sich von der Last der Vergangenheit zu befreien, ohne sie loslassen zu müssen.
„Sommertöchter“ ist ein ganz großes, innerlich erfrischendes Stück Literatur,
das zuweilen an die traurig-schönen Romane von Olivier Adam erinnert – man kann
nur hoffen, dass die Autorin – entgegen ihrer Äußerung im Interview – noch
lange nicht leergeschrieben ist.
„Sommertöchter“, erschienen bei DuMont, 208 Seiten, € 18,99
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