Gegen Ende des Jahres, wenn die Nächte immer länger
werden und das allgegenwärtige Dunkel uns zu bedrücken beginnt, feiern mit
Judentum, Christentum und Hinduismus drei große Weltreligionen ihre
traditionellen Lichterfeste. Chanukka, Weihnachten und Diwali versetzen uns
nicht nur als Mitglieder unserer sozialer Gemeinschaften in erwartungsvolle
Geschäftigkeit, sondern auch als Konsumenten. Manch einer mag insgeheim sogar
auf die verheißene spirituelle Erleuchtung hoffen. Das antike Chanukka-Wunder
im Jerusalemer Tempel ließ das ewige Licht sieben Tage länger brennen als die
übrig gebliebene kümmerliche Ration geweihten Öls erhoffen ließ. Aus der
Vielzahl an Buch-Neuerscherscheinungen des zurückliegenden Jahres, habe ich analog
zu diesem Wunder sieben Bücher des Jahres ausgewählt, deren inneres Licht im
Geiste des Lesers gleichermaßen lang zu leuchten vermag. Bücher sind immer ein
Geschenk – und ein Lichtwunder, das man sich mühelos selbst zünden kann.
„In hellen Sommernächten“ von John Burnside
Die seit einigen
Jahren mit vorbildlicher verlegerischer Leidenschaft betriebene Erschließung
des für sein virtuoses Werk in seiner sprachlichen Heimat vielfach
ausgezeichneten schottischen Dichters John Burnside (geboren 1955) für den
deutschsprachigen Leser ist nur ein eher prosaisches Anzeichen für die
herausragende literarische Bedeutung dieses in Ton, Thematik sowie
philosophischer Weltdurchdringung gleichermaßen unverwechselbaren urtümlichen
Poeten, dessen Bücher sich durch eine selten gewordene direkte und intuitive
Zugänglichkeit auszeichnen, welche sich auch bei oberflächlichster Lektüre
jedem Leser sofort und unmittelbar erschließen dürfte:
früh im Dunkeln auf
und glaubst du bist durch eine innere Landschaft
meilenweit gefahren...
Dabei ist es
keineswegs selbstverständlich, dass es einem Lyriker von so hohem
internationalen Rang wie Burnside auch in seinen Romanen scheinbar mühelos
gelingt, seine poetische Weltsicht, seine vielschichtige, wandlungsfähige
Sprache und seine typische Metaphorik auf die Bedingungen dieses anderen Genres
zu übertragen. Erstaunlich nur, dass erst 2011 ein erster Auswahlband seiner
Lyrik unter dem Titel „Versuch über das Licht“ in deutscher Übersetzung
erscheinen konnte, nachdem zuvor bereits unter großem öffentlichen Interesse
zwei seiner Romane sowie seine erschütternden, von der Literaturkritik
gefeierten Erinnerungen „Lügen über meinen Vater“ ins Deutsche übertragen
worden waren.
John Burnsides
schwebend leichter, die dunklen Grenzbereiche zwischen Realität, Traum und
Wahnsinn auslotender neuer Roman „In hellen Sommernächten“ führt uns in den
nächtelosen arktischen Sommer einer kleinen abgeschiedenen Insel im äußersten
Norden Norwegens und variiert in der darin zeitgemäß ausgestalteten Legende von
der überirdisch schönen, Verderben bringenden Waldfee Huldra gekonnt ein
Loreley-Thema aus dem norwegischen Sagenkreis. Die Abiturientin Liv lebt
zusammen mit ihrer Mutter, einer international anerkannten bildenden Künstlerin,
in der Abgeschiedenheit der nordnorwegischen Wildnis; als selbst gewählter,
unwahrscheinlicher Vaterersatz fungiert der kauzige Nachbar Kyrre, ein
unermüdlicher Bastler und Sammler von Elektroschrott, der das verträumte
Mädchen oft stundenlang mit sagenhaften Geschichten aus der Gegend unterhält.
Als zu Beginn
des arktischen Sommers innerhalb nur weniger Tage zwei ihrer Klassenkameraden
auf mysteriöse Art und Weise ohne Anzeichen von Gewalteinwirkung ertrunken
aufgefunden werden, stellt Kyrre die wirre Theorie auf, die Huldra habe die
beiden jungen Männer in den Tod gelockt – ein abwegig irrationaler Gedanke,
gegen den sich Liv intuitiv mit aller Kraft wehrt, obwohl auch sie insgeheim
argwöhnt, die gleichaltrige, sexuell freizügige Maia könne etwas mit den
unerklärlichen Todesfällen zu tun haben, da sie diese nur wenige Stunden zuvor
noch gemeinsam mit den beiden Brüdern gesehen hatte.
Weitere
unvorhergesehene Ereignisse bringen die Seele des sensiblen Mädchens in
Aufruhr: in einem dringlichen Schreiben wird sie von der Lebensgefährtin ihres
von der Mutter verschwiegenen Vaters, nach England zu kommen, da jener im
Sterben liege. Und ein undurchschaubarer, schwermütiger Langzeit-Tourist nistet
sich in Kyrres Ferienhaus ein, der sich zwar zunächst mit ihr selbst
anfreundet, den sie aber schon bald darauf in allzu vertrauter Art und Weise
immer wieder mit Maia am Strand beobachtet. Während sich in Livs von der
„weißen“ Schlaflosigkeit ewig heller Sommernächte beflügelten Fantasie dunkle
Ahnungen unvermeidlich scheinender herandrohender Tragödien zusammenbrauen und
sie sich zunehmend verfolgt und beobachtet fühlt, weiß der Leser immer weniger,
ob er den Sinneseindrücken der mit der urwüchsigen Kraft einer vollendeten
Poetin ausgestatteten Erzählerin noch trauen kann. Wenn der Regisseur und
profilierte Spezialist für „Risse im Gewebe der Welt“ David Lynch Romane
schreiben würde, müssten diese in etwa so ausfallen wie John Burnsides
grandioser Roman „In hellen Sommernächten“.
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