Jerusalem

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Dienstag, 18. Dezember 2012

Chanukka-Geld, Teil 7 – John Burnside


Gegen Ende des Jahres, wenn die Nächte immer länger werden und das allgegenwärtige Dunkel uns zu bedrücken beginnt, feiern mit Judentum, Christentum und Hinduismus drei große Weltreligionen ihre traditionellen Lichterfeste. Chanukka, Weihnachten und Diwali versetzen uns nicht nur als Mitglieder unserer sozialer Gemeinschaften in erwartungsvolle Geschäftigkeit, sondern auch als Konsumenten. Manch einer mag insgeheim sogar auf die verheißene spirituelle Erleuchtung hoffen. Das antike Chanukka-Wunder im Jerusalemer Tempel ließ das ewige Licht sieben Tage länger brennen als die übrig gebliebene kümmerliche Ration geweihten Öls erhoffen ließ. Aus der Vielzahl an Buch-Neuerscherscheinungen des zurückliegenden Jahres, habe ich analog zu diesem Wunder sieben Bücher des Jahres ausgewählt, deren inneres Licht im Geiste des Lesers gleichermaßen lang zu leuchten vermag. Bücher sind immer ein Geschenk – und ein Lichtwunder, das man sich mühelos selbst zünden kann.


„In hellen Sommernächten“ von John Burnside

Die seit einigen Jahren mit vorbildlicher verlegerischer Leidenschaft betriebene Erschließung des für sein virtuoses Werk in seiner sprachlichen Heimat vielfach ausgezeichneten schottischen Dichters John Burnside (geboren 1955) für den deutschsprachigen Leser ist nur ein eher prosaisches Anzeichen für die herausragende literarische Bedeutung dieses in Ton, Thematik sowie philosophischer Weltdurchdringung gleichermaßen unverwechselbaren urtümlichen Poeten, dessen Bücher sich durch eine selten gewordene direkte und intuitive Zugänglichkeit auszeichnen, welche sich auch bei oberflächlichster Lektüre jedem Leser sofort und unmittelbar erschließen dürfte:

                                   Wie ich wachst du manchmal
früh im Dunkeln auf
und glaubst du bist durch eine innere Landschaft
meilenweit gefahren...

Dabei ist es keineswegs selbstverständlich, dass es einem Lyriker von so hohem internationalen Rang wie Burnside auch in seinen Romanen scheinbar mühelos gelingt, seine poetische Weltsicht, seine vielschichtige, wandlungsfähige Sprache und seine typische Metaphorik auf die Bedingungen dieses anderen Genres zu übertragen. Erstaunlich nur, dass erst 2011 ein erster Auswahlband seiner Lyrik unter dem Titel „Versuch über das Licht“ in deutscher Übersetzung erscheinen konnte, nachdem zuvor bereits unter großem öffentlichen Interesse zwei seiner Romane sowie seine erschütternden, von der Literaturkritik gefeierten Erinnerungen „Lügen über meinen Vater“ ins Deutsche übertragen worden waren.

John Burnsides schwebend leichter, die dunklen Grenzbereiche zwischen Realität, Traum und Wahnsinn auslotender neuer Roman „In hellen Sommernächten“ führt uns in den nächtelosen arktischen Sommer einer kleinen abgeschiedenen Insel im äußersten Norden Norwegens und variiert in der darin zeitgemäß ausgestalteten Legende von der überirdisch schönen, Verderben bringenden Waldfee Huldra gekonnt ein Loreley-Thema aus dem norwegischen Sagenkreis. Die Abiturientin Liv lebt zusammen mit ihrer Mutter, einer international anerkannten bildenden Künstlerin, in der Abgeschiedenheit der nordnorwegischen Wildnis; als selbst gewählter, unwahrscheinlicher Vaterersatz fungiert der kauzige Nachbar Kyrre, ein unermüdlicher Bastler und Sammler von Elektroschrott, der das verträumte Mädchen oft stundenlang mit sagenhaften Geschichten aus der Gegend unterhält.



Als zu Beginn des arktischen Sommers innerhalb nur weniger Tage zwei ihrer Klassenkameraden auf mysteriöse Art und Weise ohne Anzeichen von Gewalteinwirkung ertrunken aufgefunden werden, stellt Kyrre die wirre Theorie auf, die Huldra habe die beiden jungen Männer in den Tod gelockt – ein abwegig irrationaler Gedanke, gegen den sich Liv intuitiv mit aller Kraft wehrt, obwohl auch sie insgeheim argwöhnt, die gleichaltrige, sexuell freizügige Maia könne etwas mit den unerklärlichen Todesfällen zu tun haben, da sie diese nur wenige Stunden zuvor noch gemeinsam mit den beiden Brüdern gesehen hatte.

Weitere unvorhergesehene Ereignisse bringen die Seele des sensiblen Mädchens in Aufruhr: in einem dringlichen Schreiben wird sie von der Lebensgefährtin ihres von der Mutter verschwiegenen Vaters, nach England zu kommen, da jener im Sterben liege. Und ein undurchschaubarer, schwermütiger Langzeit-Tourist nistet sich in Kyrres Ferienhaus ein, der sich zwar zunächst mit ihr selbst anfreundet, den sie aber schon bald darauf in allzu vertrauter Art und Weise immer wieder mit Maia am Strand beobachtet. Während sich in Livs von der „weißen“ Schlaflosigkeit ewig heller Sommernächte beflügelten Fantasie dunkle Ahnungen unvermeidlich scheinender herandrohender Tragödien zusammenbrauen und sie sich zunehmend verfolgt und beobachtet fühlt, weiß der Leser immer weniger, ob er den Sinneseindrücken der mit der urwüchsigen Kraft einer vollendeten Poetin ausgestatteten Erzählerin noch trauen kann. Wenn der Regisseur und profilierte Spezialist für „Risse im Gewebe der Welt“ David Lynch Romane schreiben würde, müssten diese in etwa so ausfallen wie John Burnsides grandioser Roman „In hellen Sommernächten“.

„In hellen Sommernächten“, aus dem Englischen von Bernhard Robben, erschienen bei Knaus, 381 Seiten, € 19,99

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