Gegen Ende des Jahres, wenn die Nächte immer länger
werden und das allgegenwärtige Dunkel uns zu bedrücken beginnt, feiern mit
Judentum, Christentum und Hinduismus drei große Weltreligionen ihre
traditionellen Lichterfeste. Chanukka, Weihnachten und Diwali versetzen uns
nicht nur als Mitglieder unserer sozialer Gemeinschaften in erwartungsvolle
Geschäftigkeit, sondern auch als Konsumenten. Manch einer mag insgeheim sogar
auf die verheißene spirituelle Erleuchtung hoffen. Das antike Chanukka-Wunder
im Jerusalemer Tempel ließ das ewige Licht sieben Tage länger brennen als die
übrig gebliebene kümmerliche Ration geweihten Öls erhoffen ließ. Aus der
Vielzahl an Buch-Neuerscherscheinungen des zurückliegenden Jahres, habe ich
analog zu diesem Wunder sieben Bücher des Jahres ausgewählt, deren inneres
Licht im Geiste des Lesers gleichermaßen lang zu leuchten vermag. Bücher sind
immer ein Geschenk – und ein Lichtwunder, das man sich mühelos selbst zünden
kann.
„Wovon wir träumten“ von Julie Otsuka
„Das ist Amerika, sagten wir uns, wir müssen uns
keine Sorgen machen. Und wir irrten uns.“ So lakonisch beginnt in Julie
Otsakas großartigem kleinen, poetischen Roman „Wovon wir träumten“ über japanische
Immigrantinnen in den USA, der Anfang des Jahres zu Recht mit dem renommierten
PEN/Faulkner Award ausgezeichnet wurde, für zahlreiche japanische Frauen zu
Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts der Eintritt in ein neues, vermeintlich
besseres Leben.
„Wenn du hier im Dorf bleibst, hatten sie uns
gewarnt, wirst du niemals heiraten.“ Denn während es seit dem im Jahr
1882 in Kraft getretenen sogenannten „Chinese Exclusion Act“ zunächst
bedeutende, von der amerikanischen Industrie geförderte japanische Einwanderungswellen
in die USA gab, um den vom Staat verordneten Ausfall chinesischer Arbeiter zu
kompensieren, durften ab 1907 lediglich noch die Ehefrauen von zu diesem
Zeitpunkt bereits in den USA ansässigen japanischen Einwanderern einreisen,
worin clevere Heiratsvermittler beiderseits des Pazifiks ein einträgliches
Geschäft witterten, während viele junge unverheiratete Frauen gerne die Chance
ergriffen, den bitteren Lebensbedingungen in ihrer Heimat zu entkommen.
Julie Otsuka, 1962 geboren, in Kalifornien aufgewachsen
und selbst Kind japanischer Einwanderer, bedient sich in ihrem Roman eines sehr
einfachen, aber höchst wirkungsvollen, den Leser nachhaltig beeindruckenden
Stilmittels, um die kollektive Erfahrung einer ganzen Generation von
Einwanderinnen zu beschreiben, indem sie von der ersten Seite an mit
unfehlbarer Konsequenz in der ersten Person Plural erzählt. Dabei schafft sie
es scheinbar mühelos, dieses große „Wir“ trotz aller von ihr beschriebenen
individuellen Unterschiede bis in die Gegenwart reichen zu lassen und uns als
scheinbar Unbeteiligten die alles andere als selbstverständliche Erkenntnis
heischende Geste abzuringen, dass wir uns nur allzu gerne und ohne jeden
Vorbehalt ganz mit ihren Protagonistinnen und ihren universellen Erfahrungen
identifizieren, die auch wir aus unserem Leben wiederzuerkennen meinen.
Denn die unschuldig-aufregenden Träume, Ängste und
Hoffnungen, die die jungen Mädchen noch auf der Überfahrt wägen, während sich
für manche von ihnen bereits abzeichnet, dass sich das Leben als viel reicher,
aber auch viel bitterer erweisen könnte als man es ihnen beigebracht hat,
werden sich nahezu ohne Ausnahme nicht erfüllen. Die Männer, die sie in
Kalifornien erwarten, sind keine Fabrikbesitzer, Rechtsanwälte und Ärzte,
sondern Feldarbeiter, Tellerwäscher und Hilfskräfte jeder Art, die sie gleich
in der ersten verspäteten „Hochzeitsnacht“ auf so vielerlei verschiedene Art
„nehmen“, dass Julie Otsuka für die Beschreibung dessen ein ganzes kunstvolles
Kapitel von nicht weniger als vier Seiten einfügt.
Ihr Leben wird sich als hart und desillusionierend
erweisen, aber gerade als sich manche von ihnen dennoch nach Jahrzehnten
endlich einen bescheidenen Wohlstand erarbeitet haben, schlägt die
Weltgeschichte zu und Nazi-Deutschlands Verbündeter Japan bombardiert Pearl
Harbor, was die USA zur Deportation von geschätzten 120.000 japanischen
Immigranten führt. Gerade auch diese Ereignisse beschreibt die Autorin auf
überaus eindringliche, noch lange im Gedächtnis des Lesers nachwirkende Art und
Weise, wodurch unwillkürlich Parallelen zur Judendeportation in Mitteleuropa
durchscheinen, was sich im letzten Kapitel noch verstärkt, denn hier verlässt
Julie Otsuka schließlich die Sicht ihrer Protagonistinnen, nicht aber das
kollektive „Wir“ – denn hier erzählen nun die zurückgebliebenen weißen
Amerikaner von jenem schrecklichen unleugbaren Loch, das die Deportierten in
ihrem Bewusstsein und in ihrem Leben zurückgelassen haben. „Wovon wir träumten“
ist ein großartiger inspirierender Roman, der Geschichte als Vorbedingung und
universellen Teil der Gegenwart auf geradezu vorbildliche Art und Weise
erfahrbar macht.
„Wovon wir träumten“, aus dem
Amerikanischen von Katja Scholtz, erschienen bei mare, 159 Seiten, € 18,-
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