Jerusalem

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Mittwoch, 5. Dezember 2012

Chanukka-Geld, Teil 4 – Julie Otsuka


Gegen Ende des Jahres, wenn die Nächte immer länger werden und das allgegenwärtige Dunkel uns zu bedrücken beginnt, feiern mit Judentum, Christentum und Hinduismus drei große Weltreligionen ihre traditionellen Lichterfeste. Chanukka, Weihnachten und Diwali versetzen uns nicht nur als Mitglieder unserer sozialer Gemeinschaften in erwartungsvolle Geschäftigkeit, sondern auch als Konsumenten. Manch einer mag insgeheim sogar auf die verheißene spirituelle Erleuchtung hoffen. Das antike Chanukka-Wunder im Jerusalemer Tempel ließ das ewige Licht sieben Tage länger brennen als die übrig gebliebene kümmerliche Ration geweihten Öls erhoffen ließ. Aus der Vielzahl an Buch-Neuerscherscheinungen des zurückliegenden Jahres, habe ich analog zu diesem Wunder sieben Bücher des Jahres ausgewählt, deren inneres Licht im Geiste des Lesers gleichermaßen lang zu leuchten vermag. Bücher sind immer ein Geschenk – und ein Lichtwunder, das man sich mühelos selbst zünden kann.


„Wovon wir träumten“ von Julie Otsuka

Das ist Amerika, sagten wir uns, wir müssen uns keine Sorgen machen. Und wir irrten uns.“ So lakonisch beginnt in Julie Otsakas großartigem kleinen, poetischen Roman „Wovon wir träumten“ über japanische Immigrantinnen in den USA, der Anfang des Jahres zu Recht mit dem renommierten PEN/Faulkner Award ausgezeichnet wurde, für zahlreiche japanische Frauen zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts der Eintritt in ein neues, vermeintlich besseres Leben.

Wenn du hier im Dorf bleibst, hatten sie uns gewarnt, wirst du niemals heiraten.“ Denn während es seit dem im Jahr 1882 in Kraft getretenen sogenannten „Chinese Exclusion Act“ zunächst bedeutende, von der amerikanischen Industrie geförderte japanische Einwanderungswellen in die USA gab, um den vom Staat verordneten Ausfall chinesischer Arbeiter zu kompensieren, durften ab 1907 lediglich noch die Ehefrauen von zu diesem Zeitpunkt bereits in den USA ansässigen japanischen Einwanderern einreisen, worin clevere Heiratsvermittler beiderseits des Pazifiks ein einträgliches Geschäft witterten, während viele junge unverheiratete Frauen gerne die Chance ergriffen, den bitteren Lebensbedingungen in ihrer Heimat zu entkommen.



Julie Otsuka, 1962 geboren, in Kalifornien aufgewachsen und selbst Kind japanischer Einwanderer, bedient sich in ihrem Roman eines sehr einfachen, aber höchst wirkungsvollen, den Leser nachhaltig beeindruckenden Stilmittels, um die kollektive Erfahrung einer ganzen Generation von Einwanderinnen zu beschreiben, indem sie von der ersten Seite an mit unfehlbarer Konsequenz in der ersten Person Plural erzählt. Dabei schafft sie es scheinbar mühelos, dieses große „Wir“ trotz aller von ihr beschriebenen individuellen Unterschiede bis in die Gegenwart reichen zu lassen und uns als scheinbar Unbeteiligten die alles andere als selbstverständliche Erkenntnis heischende Geste abzuringen, dass wir uns nur allzu gerne und ohne jeden Vorbehalt ganz mit ihren Protagonistinnen und ihren universellen Erfahrungen identifizieren, die auch wir aus unserem Leben wiederzuerkennen meinen.

Denn die unschuldig-aufregenden Träume, Ängste und Hoffnungen, die die jungen Mädchen noch auf der Überfahrt wägen, während sich für manche von ihnen bereits abzeichnet, dass sich das Leben als viel reicher, aber auch viel bitterer erweisen könnte als man es ihnen beigebracht hat, werden sich nahezu ohne Ausnahme nicht erfüllen. Die Männer, die sie in Kalifornien erwarten, sind keine Fabrikbesitzer, Rechtsanwälte und Ärzte, sondern Feldarbeiter, Tellerwäscher und Hilfskräfte jeder Art, die sie gleich in der ersten verspäteten „Hochzeitsnacht“ auf so vielerlei verschiedene Art „nehmen“, dass Julie Otsuka für die Beschreibung dessen ein ganzes kunstvolles Kapitel von nicht weniger als vier Seiten einfügt.

Ihr Leben wird sich als hart und desillusionierend erweisen, aber gerade als sich manche von ihnen dennoch nach Jahrzehnten endlich einen bescheidenen Wohlstand erarbeitet haben, schlägt die Weltgeschichte zu und Nazi-Deutschlands Verbündeter Japan bombardiert Pearl Harbor, was die USA zur Deportation von geschätzten 120.000 japanischen Immigranten führt. Gerade auch diese Ereignisse beschreibt die Autorin auf überaus eindringliche, noch lange im Gedächtnis des Lesers nachwirkende Art und Weise, wodurch unwillkürlich Parallelen zur Judendeportation in Mitteleuropa durchscheinen, was sich im letzten Kapitel noch verstärkt, denn hier verlässt Julie Otsuka schließlich die Sicht ihrer Protagonistinnen, nicht aber das kollektive „Wir“ – denn hier erzählen nun die zurückgebliebenen weißen Amerikaner von jenem schrecklichen unleugbaren Loch, das die Deportierten in ihrem Bewusstsein und in ihrem Leben zurückgelassen haben. „Wovon wir träumten“ ist ein großartiger inspirierender Roman, der Geschichte als Vorbedingung und universellen Teil der Gegenwart auf geradezu vorbildliche Art und Weise erfahrbar macht.

„Wovon wir träumten“, aus dem Amerikanischen von Katja Scholtz, erschienen bei mare, 159 Seiten, € 18,-

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